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30.10.2023 |

Weg ist weg: Studie zum Artensterben lässt Alarmsignal erschallen

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Stark gefährdet: das Rebhuhn (Foto: CC0)

Bei der Klima- und Biodiversitätskrise handelt es sich um eine Zwillingskrise, die nur gemeinsam gelöst werden kann. Während der Klimawandel es „über eine lange Themenkarriere mit einer geradezu absurd flachen „Lernkurve“ und zu spätem Handeln“ mittlerweile „in die hohe Politik geschafft hat“, wird dem Schwund der Artenvielfalt noch nicht die notwendige Aufmerksamkeit zuteil. Obwohl Wissenschaft, Medien und Zivilgesellschaft mit Vehemenz an die Weltgemeinschaft und Politik appellieren und zum Handeln mahnen, und trotz ehrgeiziger globaler Biodiversitäts- und Nachhaltigkeitsziele, besteht ein enormes Umsetzungsdefizit. Das ist das Fazit einer neuen Studie, die am 27. Oktober in der Heinrich-Böll-Stiftung in Berlin und im Livestream vorgestellt wurde. In Auftrag gegeben hat sie der Agrarpolitische Sprecher der Grünen im EU-Parlament und Mitglied im Umweltausschuss, Martin Häusling. Verfasst wurde sie von Klaus-Henning Groth, der nationale und internationale NGOs und die Politik berät, und dem Diplom-Geograph Carsten Rocholl. „Die Biodiversitätskrise bedeutet nicht nur, dass zwei oder drei Schmetterlingsarten verschwinden, sondern es handelt sich um DIE zweite Krise neben der Klimakrise – eigentlich Klimakatastrophe – und wir müssen diese gleichwertig behandeln“, betonte Häusling bei der Vorstellung. Der Studie. Oder wie es Rocholl formulierte: „Wenn jede bedrohte Art den Sound eines Rauchmelders auslösen würde, dann wäre es sehr laut auf diesem Planeten.“

Die Studie „Weg ist weg! Warum es keine Alternative zum Erhalt der Artenvielfalt gibt“ behandelt das Auslöschen von Arten samt ihres genetischen Potentials und ihrer Lebensräume, die Ursachen dafür und Instrumente und Maßnahmen zum Aufhalten des Artensterben. Es handelt sich, wie es auch Groth und Häusling bei der Veranstaltung in Berlin bemerkten, um keine erschöpfende Darstellung der Problemlage, sondern die Publikation reißt lediglich die wesentlichen Aspekte an, dient als Faktensammlung und beleuchtet, wo wir stehen, was kann getan werden und was bereits geschieht. Die Autoren liefern zunächst einen Überblick, worum es beim Thema Biodiversität geht und stellen bei einem kurzen Blick auf internationale Ansätze fest, dass das UN-Nachhaltigkeitsziel SDG 15, das unter anderem Landökosysteme schützen, wiederherstellen und ihre nachhaltige Nutzung fördern, und den Verlust der biologischen Vielfalt stoppen will, bislang nicht erreicht wurde.

In Kapitel 3 kommt Dr. Josef Tumbrinck, Sonderbeauftragter für das Nationale Artenhilfsprogramm im Bundesumweltministerium zu Wort, der konstatiert, dass trotz positiver Entwicklungen die Gefährdung der Artenvielfalt weiterhin zweifellos dramatisch ist. Deutschland befinde sich leider in einer „großen Gemeinschaft von Staaten, welche die gesteckten Schutzziele bisher nicht erreicht haben“. Handlungsdefizite seien deshalb vorhanden, weil sich andere, zumeist wirtschaftliche, Interessen durchsetzen. Als Beispiel nennt er die Landwirtschaft, bei der sich auch in der aktuellen Förderperiode der Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP) gezeigt habe, wer am Ende einen größeren Einfluss in der EU hatte. „Da war es die Agrarlobby, die sehr viel von dem durchgesetzt hat, was sie wollte. Jetzt liegt es in der Hand der einzelnen Mitgliedstaaten, die dennoch vorhandenen großen Spielräume auch für die möglichen Artenschutzprojekte zu nutzen“, so Tumbrinck. „Wir haben kein Erkenntnisdefizit, sondern wir haben ein Handlungsdefizit“, betonte er auf dem Podium in der Heinrich-Böll-Stiftung. Maßnahmen zum Schutz der Biodiversität seine immer eine Frage der Priorisierung in der Politik. Die Instrumente, das Ordnungsrecht könne verändert werden, wenn man will, aber die Politik müsse Mittel bereitstellen und Entscheidungen treffen. Tumbrinck verweist darauf, dass das mit 4 Milliarden ausgestattete Aktionsprogramm Natürlicher Klimaschutz (ANK), bei dem es darum geht, durch den Schutz oder die Wiederherstellung der Biodiversität die Klimaschutzziele zu erreichen, den willkommenen Nebeneffekt habe, dass man mit jedem Euro auch den Artenschutz fördert. „Das ist schon einmal eine ordentliche Summe, das muss man auch erst einmal in Projekten umsetzen“, sagte er und unterstrich dabei aber, dass das Programm in den Folgejahren ab 2027 mit weiteren Mitteln hinterlegt werden müsse. Im Artenschutzprogramm werde Deutschland jedes Jahr mit 14 Millionen eine „homöopathische“ Summe zur Verfügung haben. Es werden gute Projekte kommen und existierten auch schon viele, die zeigen werden, dass Artenschutz funktioniert. „Es reicht, um Dinge anzuschieben, aber es reicht nicht, um Deutschland in eine Artenschutzwende zu bekommen“, so Tumbrinck.

Das Dossier befasst sich auch mit den Ursachen des Artenschwunds: Es ist vor allem die Art, wie wir unser Land bewirtschaften, die maßgeblich zu diesen drastischen Folgen führt. Damit kommt die Landwirtschaft ins Spiel, denn sie ist einer der Haupttreiber für diese Entwicklung. „Das Übermaß von Stickstoff und Pestiziden als enorme Belastung der Ökosysteme, ein Kahlschlag der Landschaft auch an Strukturen, der Umgang mit unseren Böden und eine weitere Intensivierung fordern ihren tödlichen Tribut“, schreiben die Autoren. Die Intensivierung der Landwirtschaft und Landnutzung gefährde die Artenvielfalt durch die großflächige Umwandlung von artenreichen und kohlenstoffreichen Wäldern, Feuchtgebieten, Mooren und Grasländern in zumeist artenarme Agrarlandschaften mit großen Verlusten von Biodiversität und einem Anteil von etwa einem Drittel der bisher von der Menschheit freigesetzten Treibhausgase. Die Eutrophierung von Land- und Süßwassersystemen und Meeren mit Sauerstoffverarmung infolge von Stickstoff- und Phosphateinträgen aus überdüngten Agrarflächen ist ein weiterer Faktor. Darüber hinaus flächendeckenden Einsatz von Chemikalien und Pflanzenschutzmitteln; vielfach nicht nachhaltige Bewässerungstechniken mit Schädigung der Süßwassersysteme und Versalzung und Versteppung von Böden ist ein weiterer Faktor ebenso wie der menschgemachte Klimawandel. Der Raubbau an den natürlichen Ressourcen trägt zum Artensterben bei. Der Earth Overshoot Day führt uns vor Augen, dass die Natur gar nicht so schnell nachliefern kann, wie wir Ressourcen nutzen“, erklärt Rocholl.

Die Autoren befassen sich auch mit mehreren Instrumenten des Artenschutzes und politischen Rahmenwerken und Richtlinien, die zum Artenschutz beitragen, von Schutzgebieten, Pestizidreduktionsstrategie, Nitratrichtlinie, EU-Wasserrahmenrichtlinie über konkrete Projekte zum Schutz des Rebhuhns bis hin zur Wiedervernässung von Mooren. Sie blicken auf die internationale Ebene mit einer Bewertung der Ergebnisse der Weltnaturkonferenz (COP15) im Dezember 2022 und stellen die wichtigsten Studien vor, die sich mit dem Thema Biodiversität befassen. Ihr Fazit lautet: „Die bisherigen Absichten, Strategien und Maßnahmen haben den weiteren Verlust von Arten und Lebensräumen weder in Deutschland noch in der EU spürbar aufhalten können. Je genauer Wissenschaft und ehrenamtliche Artenkenner hinschauen, umso erschreckender werden manche Populationsprognosen.“ Die dürftige Bilanz der staatlichen Bemühungen komme in weiten Teilen einem Scheitern mit Ansage gleich, resümieren sie. Es drohten Folgen katastrophalen Ausmaßes für die Ökosysteme weltweit. Und damit selbstredend für uns Menschen als Teil der Systeme.

Nach der Vorstellung der Studie stellten sich die Autoren, Häusling, Tumbrinck sowie Dr. Kirsten Thonicke, stellvertretende Abteilungsleiterin & Leiterin der Arbeitsgruppe Ökosystem im Wandel am Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK) und Florian Titze, Senior Policy Advisor Internationale Biodiversitätspolitik bei WWF Deutschland, den Fragen der Moderatorin Lena Luig von der Heinrich-Böll-Stiftung und des Publikums. Der rote Faden, der sich durch sämtliche Redebeiträge zog, war die Diskrepanz zwischen Wissen und Handeln. „Alle 10 Jahre eine neue Strategie zu entwickeln und dann wieder ins Schaufenster zu stellen, wird nicht reichen“, betonte Rocholl. „Wir müssen in die Umsetzung kommen, wir müssen die Forschung ernst nehmen, die Wissenschaft nicht nur auf großen Konferenzen ins Rampenlicht rücken, sondern wir müssen tagtäglich handeln.“ Häusling betonte, dass der Agrarpolitik ein Bereich, der schon seit Jahren auf echte Reformen wartet, aber es wird nicht hart eingegriffen in die GAP, denn das erste Ziel sei es, erst einmal billige Ware zu produzieren – und das seit dem Ukrainekrieg noch mehr. „Im Agrarbereich existieren in Europa die größten Verharrungskräfte – bloß nicht die Bauern belasten, bloß keine Auflagen“, laute die Devise. Ob GAP, Farm to Fork oder Pestizidreduktionsziele: „Ziele haben wir genug, aber es mangelt an der Umsetzung“, so auch Häusling. Im letzten Kapitel betonen die Autoren erneut: „Das Wissen ist da, jetzt gilt es, Verantwortung zu übernehmen.“ Sie stellen 10 konkrete Forderungen an die Politik auf, für deren Lektüre sie auf die Publikation verweisen, die online zum Download bereit steht. (ab)

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