„Transformation of our food systems – the making of a paradigm shift”

Wo stehen wir 10 Jahre nach dem Weltagrarbericht? - Ein neues Buch zieht Bilanz

Mehr als ein Jahrzehnt ist seit dem Weckruf des International Assessment of Agricultural Knowledge, Science and Technology for Development (IAASTD) vergangen. Nun zieht ein neues Buch Bilanz, was seit der Veröffentlichung dieses wegweisenden Weltagrarberichts erreicht worden ist. Die Herausgeber kritisieren die aktuell vorherrschenden Ernährungssysteme scharf und zeigen auf, dass ein Paradigmenwechsel im Gange ist und der Wandel rund um den Globus eingesetzt hat.

„Weiter wie bisher ist keine Option“ – so lautet das klare Fazit des 2009 veröffentlichten International Assessment of Agricultural Knowledge, Science and Technology for Development - kurz Weltagrarbericht. Ein Jahrzehnt später initiierten Hans R. Herren, Träger des Welternährungspreises und Co-Präsident des IAASTD, sowie der Ernährungs- und Landwirtschaftsaktivist Benny Haerlin, der NGO-Vertreter im IAASTD-Büro war, zunächst die Beratungsgruppe IAASTD+10.

Gemeinsam geben sie nun „Transformation of our food systems – the making of a paradigm shift” heraus. Das Buch vereint die Beiträge von 40 Autorinnen und Autoren. Viele von ihnen waren bereits am Weltagrarbericht beteiligt, andere haben an Nachfolgestudien und UN-Vereinbarungen mitgewirkt. Sie ziehen Bilanz darüber, was seit der Veröffentlichung des Weltagrarberichts erreicht worden ist. Marcia Ishii-Eiteman, Lim Li Ching und Ivette Perfecto fassten im Namen der Beratungsgruppe Kernbotschaften des Buches zusammen.

Tausende Tassen Kaffee im „Vienna Café“

Das Buch erscheint im Vorfeld der dieses Jahr nur virtuell stattfindenden Jahreskonferenz des Welternährungsausschusses (CFS) der UN-Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation FAO. Dort wird das Konzept der Agrarökologie zum ersten Mal im Zentrum der Gespräche stehen. Alexander Wezel, Co-Autor der CFS-Studie über „Agrarökologische Ansätze und andere Innovationen“, erklärt in seinem Beitrag zum Buch, wie der IAASTD als übergreifender politischer Rahmen für zahlreiche soziale Bewegungen und Bauernorganisationen auf der ganzen Welt Eingang in die Arbeit der FAO gefunden hat.
Wezels Artikel ist einer von 13 Essays, die sich mit richtungsweisenden Studien im Bereich Landwirtschaft und Ernährung befassen, die auf den Weltagrarbericht folgten.
Mayumi Ridenhour und Michael Bergöö beschreiben, wie Erkenntnisse des IAASTD Eingang in die 2015 definierten UN-Ziele für nachhaltige Entwicklung (SDGs) gefunden und diese substanziell verbessert haben – nach „tausenden Tassen Kaffee im Vienna Café der UN“, die den Autoren zufolge notwendig waren, um das zu erreichen.

COVID-19 und unsere Ernährungssysteme

Der Weltagrarbericht prognostizierte einen Anstieg von Zoonosen – die aktuelle Pandemie jedoch konnte er natürlich nicht vorhersehen. Der Evolutionsepidemiologe Robert G. Wallace analysiert in seinem Artikel den Ausbruch von COVID-19 vor dem Hintergrund der vergangenen Ausbrüche des Zika-Virus, von Ebola, Schweinegrippe und anderen Pandemien. Weiter erklärt er, dass „diese Ausbrüche (...) mehr waren als einfach nur Pech“: Fast alle hingen mit einer veränderten Produktion und Landnutzung in Verbindung mit der Intensivierung der Landwirtschaft zusammen.
Philip H. Howard und Mary K. Hendrickson präsentieren in ihrem Beitrag ein beunruhigendes Update zur dramatischen Beschleunigung der Unternehmenskonzentration in der globalen Ernährungs- und Agrarwirtschaft sowie die Auswirkungen dieses Prozesses auf Bäuerinnen und Bauern.
2019 veröffentlichte der Weltklimarat IPCC den Sonderbericht „Klimawandel und Landsysteme“, der auch zu einem eher düsteren Schluss kam, was die Umweltauswirkungen der aktuellen Landnutzung betrifft. Der Bericht leistete einen wichtigen Beitrag zum Paradigmenwechsel, wie Marta G. Rivera-Ferre, Direktorin des Lehrstuhls „Agroecology and Food Systems“ an der Zentral-Universität von Katalonien (UVic) in ihrem Beitrag feststellt.

Von der Uniformität zur Diversität

In ihrem Update analysieren Angelika Hilbeck und Eugenio Tisselli, was der Prozess der Digitalisierung für die Entwicklung der Agrarökologie bedeutet – ein Thema, das noch nicht auf der Agenda stand, als der Weltagrarbericht verfasst wurde.
2016 veröffentlichte IPES-Food den Bericht „Von der Uniformität zur Diversität“. In seinem Beitrag zum Buch stellt Emile A. Frison die Schlüsselmechanismen vor, die das heutige industrielle Ernährungssystem aufrechterhalten sowie sieben Pfade, die einen Übergang zu diversifizierten agrarökologischen Systemen ermöglichen würden.
Alexander Müller und Nadine Azzu besprechen die TEEBAgriFood-Studie von 2018, die einen neuen Bezugsrahmen liefert, um Erfolg und Misserfolg von Ernährungssystemen ökonomisch zu messen und zu bewerten. Kate Brauman und Bob Watson präsentieren den 2019 erschienenen Bericht des Weltbiodiversitätsrates IPBES – das erste weltweite Assessment zu Biodiversität und Ökosystemleistungen seit 15 Jahren und das erste überhaupt, das von einem zwischenstaatlichen Gremium erstellt wurde.

„Eine erhellende Erfahrung”

Eine Schlussfolgerung des Buches lautet, dass sich die Probleme seit 2009 verschärft haben: Die globale Erwärmung hat sich beschleunigt, die Biodiversität nimmt in atemberaubendem Tempo ab und wir stehen vor einer ernsthaften Ernährungskrise, denn seit mehreren Jahren nehmen Hunger und Mangelernährung wieder zu, während immer mehr Menschen weltweit an Fettleibigkeit leiden.

Boyd Swinburn, Professor an der Universität Auckland, Neuseeland, und Co-Vorsitzender der Lancet-Kommission für Fettleibigkeit, nennt es „eine erhellende Erfahrung“, über die Entwicklung dieses „enorm gewichtigen Themas“ zu reflektieren. In seinem Artikel stellt er die Studie der Lancet-Kommission aus dem Jahr 2019 vor, welche die Phänomene Fettleibigkeit, Unterernährung und Klimawandel miteinander verknüpft. Seine Schlussfolgerung: „Wir haben bedeutende Fortschritte gemacht auf den Ebenen von Paradigmen, Konzepten, Diskursen und globalen Abkommen“ – politisches Handeln in der Praxis sei jedoch nur schleppend vorangekommen und Flickwerk geblieben.

Wenn das Fazit lauten mag, dass große Fortschritte vor allem in der Theorie stattgefunden haben, dann bietet die Studie der “Global Alliance for the Future of Food” und von Biovision Anlass zur Hoffnung: Eine Expertengruppe machte verschiedene Initiativen rund um den Globus als „Leuchttürme der Hoffnung“ aus. Diese dienen nicht nur als Inspirationsquelle für die Transformation unserer Ernährungssysteme, sondern bieten auch konkret Hilfeleistung, um den Prozess des Wandels wirkungsvoll zu unterstützen.

Einigkeit zumindest über die Fragen

Die Antworten gehen immer noch auseinander, aber anders als noch vor zehn Jahren besteht nun Einigkeit über die Fragen, auf die dringend eine Antwort gefunden werden muss: Wie können der Klimawandel und das Schwinden der Artenvielfalt gestoppt und unsere Ressourcennutzung an die Grenzen des Planeten angepasst werden? Wie können wir unsere Ernährungssysteme umgestalten, sodass sie fair und nachhaltig werden?
Transformation of our food systems“ stellt einen unverzichtbaren Werkzeugkasten für Entscheidungsträger*innen und Aktivist*innen dar. Möge er aktiv genutzt werden, um am Wandel zu arbeiten. Denn „Weiter wie bisher“ ist heute erst recht keine Option und die Notwendigkeit, neue Wege zu beschreiten, um entlang der gesamten Lebensmittelkette fair und nachhaltig zu wirtschaften, ist größer denn je.

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