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16.10.2024 |

Eindringliche Appelle und Forderungen zum Welternährungstag

REis
Genügend Nahrung - für 733 Millionen Menschen ein Traum (Foto: PublicDomainPictures)

Am 16. Oktober ist Welternährungstag – und Hunger und Mangelernährung rücken zumindest für diesen Tag ins Rampenlicht der Medienberichterstattung. Die Politik und internationale und zivilgesellschaftliche Organisationen warten mit Statements und Pressemitteilungen auf, um darauf aufmerksam zu machen, dass weltweit immer noch eine Dreiviertelmilliarde Menschen an chronischer Unterernährung leiden und dauerhaft zu wenige Kalorien zu sich nehmen. Und auf die traurige Tatsache, dass es bei der Hungerbekämpfung einfach nicht voran geht. Die Welternährungsorganisation FAO läutete den diesjährigen Welternährungstag in Rom mit einer Veranstaltung ein, auf der mahnende Reden geschwungen und Grußworte ausgestrahlt wurden. UN-Generalsekretär António Guterres sagte, dass etwas entschieden nicht stimme mit einer Welt, in der Hunger und Fehlernährung das tägliche Leben von Milliarden von Kindern, Frauen und Männern bestimmten. „Am Welternährungstag denken wir an jene 733 Millionen Menschen, die aufgrund von Konflikten, Marginalisierung, Klimawandel und Wirtschaftsabschwüngen unter einem Mangel an Nahrungsmitteln leiden – darunter auch diejenigen, die in Gaza und Sudan von menschengemachten Hungersnöten bedroht sind. Oder an die 2,8 Milliarden Menschen, die sich eine gesunde Ernährung nicht leisten können“, sagte er in einer Videobotschaft und forderte, die Ernährungssysteme unter Mitwirkung der Wirtschaft, der Wissenschaft, der Forschungsinstitutionen und der Zivilgesellschaft radikal umzugestalten und so „effizienter, inklusiver, widerstandsfähiger und nachhaltiger“ zu machen. Papst Franziskus ließ über Fernando Chica Arellano, den Ständigen Beobachter des Heiligen Stuhles bei der FAO, in Erinnerung rufen, dass Nahrung ein grundlegendes Menschenrecht ist: „Dieses Recht wird häufig unterlaufen und nicht gerecht angewandt, mit all den schädlichen Folgen, die das mit sich bringt.“ Die Prinzipien der Solidarität müssen die Grundlage der Entwicklungsprogramme bilden, um zu gewährleisten, dass die Bedürfnisse von Arbeitern, Bauern, Armen und Hungernden gehört werden, so Arellano.

Auch in Deutschland wurde der World Food Day in Erinnerung gerufen. Bundesentwicklungsministerin Svenja Schulze betonte, dass es genug Lebensmittel und Geld auf der Welt gebe, um den Hunger zu besiegen. „Das Problem ist die zutiefst ungerechte Verteilung. Rund ein Drittel der Weltbevölkerung kann sich keine gesunde Ernährung leisten. Frauen haben häufig keinen gesicherten Zugang zu Land, obwohl sie in vielen Ländern einen Großteil der Feldarbeit erledigen“, so Schulze. „Die besten Mittel gegen den Welthunger sind starke Frauen, soziale Sicherung und die Fähigkeit, selber anbauen zu können.“ Deutschland unterstütze dies gemeinsam mit vielen Partnern. Auch die Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen meldete sich zu Wort: „Die weltweite Produktion, der Handel und die Verteilung von Nahrungsmitteln befinden sich in einem Ungleichgewicht. Dieses System wird unter anderem durch Dürren, Überschwemmungen, andauernde Kriege wie im Sudan und Überschuldung mancher Länder weiter belastet“, erklärten Ottmar von Holtz, Sprecher für Entwicklungspolitik, und Renate Künast, Sprecherin für Ernährungs- und Agrarpolitik. „Wir müssen daher jetzt auf allen Ebenen handeln, um unsere Ernährungssysteme zu transformieren und somit zukunftsfähig zu machen.“ Künast und von Holtz zeigen sich zuversichtlich, dass sich der Hunger in der Welt besiegen lässt: „Wir müssen die Landwirtschaft an die Klimakrise anpassen, die Landrechte von Kleinbäuerinnen und Kleinbauern schützen und freien Zugang zu Saatgut sichern. Nahrungsmittel dürfen nicht zum Spielball für Spekulanten werden. Deshalb brauchen wir transparente Märkte und strenge Regeln für spekulative Anlagen.“ Das Ziel globaler Nahrungsmittelsouveränität könne nur erreicht werden, wenn Kleinbäuerinnen und Kleinbauern gestärkt und unfaire Handelspraktiken beseitigt würden.

Die Arbeitsgruppe Landwirtschaft und Ernährung (AG L&E) im Forum Umwelt und Entwicklung, in der sich Entwicklungs- und Menschenrechtsorganisationen seit Jahren regelmäßig mit Agrar- und Ernährungspolitik befassen, erwartet angesichts der fehlenden Fortschritte bei der Hungerbekämpfung von der Bundesregierung, dass diese sich vehementer für die weltweite Überwindung von Hunger einsetzt. Denn es leiden nicht nur 733 Millionen Menschen und damit jeder Elfte an chronischem Hunger. Auch über zwei Milliarden Menschen befinden sich in mittlerer bis schwerer Ernährungsunsicherheit – das heißt, sie haben keinen regelmäßigen Zugang zu ausreichend Nahrung oder müssen zeitweise über einen Tag oder länger gänzlich ohne Nahrungsmittel auskommen. Das sind fast 30% der Weltbevölkerung und 776 Millionen Menschen mehr als noch vor zehn Jahren. „Die Hungerproblematik ist durch bloße Willensbekundungen nicht in den Griff zu bekommen. Regierungen und Unternehmen der Agrarindustrie müssen Verantwortung übernehmen und verantwortlich gemacht werden“, fordert Jan Dreier von der Menschenrechtsorganisation FIAN Deutschland. Das Recht auf Nahrung müsse in der nationalen und internationalen Ernährungspolitik tatsächlich Anwendung finden. Hier bestehe auch in Deutschland Nachholbedarf. „Die Bundesregierung sollte ihre Ressorts, vor allem das BMZ und BMEL, stärker zusammenwirken lassen und ihre Ernährungspolitik kohärent zu den Empfehlungen des UN-Welternährungsschuss zum Recht auf Nahrung ausrichten.” Die AG L&E verweist auch darauf, dass der diesjährige Welternährungstag mit dem 20. Jubiläum der UN-Leitlinien zum Recht auf Nahrung einhergeht. Doch obwohl es seit zwei Jahrzehnten diesen Leitfaden für Staaten zur Umsetzung des Menschenrechts auf angemessene Nahrung gibt, hat die Zahl jener, denen dieses Recht verwehrt bleibt, zugenommen. Daher seien auch in der deutschen Politik Verbesserungen zur Umsetzung des Rechts auf Nahrung nötig. „Unabdingbar ist dabei, dass die Stimmen der von Hunger am stärksten betroffenen Menschen wie Kleinbäuerinnen und -bauern, Fischer*innen und Indigene im Zentrum aller Lösungsansätze stehen und sie ihre Anliegen direkt an die politischen Entscheidungsträger*innen richten können”, betont Josephine Koch vom Forum Umwelt und Entwicklung. (ab)

11.10.2024 |

Welthungerindex: Kaum Fortschritte im Kampf gegen den Hunger

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Mädchen sind besonders stark von Hunger betroffen (Foto: CC0, Pixabay, PuaBar)

Die Botschaft ist nicht neu, die Zahlen nun aber wieder auf dem neusten Stand: Das Ausmaß des Hungers auf der Welt ist schwindelerregend und Fortschritte gibt es kaum zu vermelden. Noch immer hungern rund um den Globus 733 Millionen Menschen und in einigen Ländern mehr als die Hälfte der Bevölkerung. Afrika südlich der Sahara sowie Südasien bleiben die Regionen mit den höchsten Raten. Krisen wie bewaffnete Konflikte, die Folgen des Klimawandels und die hohe Verschuldung überschneiden und verstärken sich gegenseitig. Das geht aus dem Welthunger-Index (WHI) 2024 hervor, der am 10. Oktober im Vorfeld des Welternährungstages von der Welthungerhilfe und der irischen Hilfsorganisation Concern Worldwide veröffentlicht wurde. „Es ist inakzeptabel, dass die Weltgemeinschaft ihrer Verpflichtung, den Hunger zu beenden, nicht ausreichend nachkommt. Wir wissen, dass die globalen Krisen unmittelbare Auswirkungen mit schwerwiegenden Folgen für die Ernährungslage der Familien haben und ihre Fähigkeiten erschöpfen, immer neue Schocks zu bewältigen“, betont Marlehn Thieme, Präsidentin der Welthungerhilfe. Die internationale Gemeinschaft hatte sich eigentlich dem Ziel verpflichtet, bis 2030 den Hunger auf der Welt zu beseitigen, doch seit 2016 ging es kaum mehr voran. In 22 der im WHI untersuchten Ländern hat der Hunger seither zugenommen und in 20 Ländern sind die Erfolge weitgehend zum Erliegen gekommen. Besonders betroffen sind die ärmsten Länder und Menschen. Verschärft wird die Lage aber auch durch die Folgen mangelnder Geschlechtergerechtigkeit. „Frauen und Mädchen sind am stärksten von Hunger betroffen und leiden unverhältnismäßig stark unter den Folgen des Klimawandels,“ warnt die Welthungerhilfe.

Der Welthunger-Index wird jedes Jahr von den beiden Organisationen herausgegeben. Die diesjährige Ausgabe wertete Daten zur Ernährungslage von 136 Ländern aus und fasst im Index vier Indikatoren zusammen: Den Anteil der Unterernährten an der Bevölkerung (gemessen an der Deckung des Kalorienbedarfs), den Anteil von Kindern unter fünf Jahren, deren Wachstum verzögert ist (zu geringe Körpergröße im Verhältnis zum Alter – ein Anzeichen für chronische Unterernährung), der Anteil der unter Fünfjährigen, die an Auszehrung leiden (zu niedriges Gewicht im Verhältnis zur Körpergröße – ein Beleg für akute Unterernährung) sowie die Sterblichkeitsrate von Kindern in dieser Altersgruppe. Darauf basierend wird der WHI-Wert auf einer 100-Punkte-Skala ermittelt, wobei 100 der schlechteste Wert ist. Die Lage jedes Landes wird als niedrig, mäßig, ernst, sehr ernst oder gravierend eingestuft. Für 127 Länder waren ausreichend Daten vorhanden, um WHI-Werte für 2024 zu berechnen, für die restlichen 6 bewerteten Länder konnte aufgrund unvollständiger Datenlage kein Wert ermittelt werden, aber für drei dieser Länder (Burundi, Südsudan und Lesotho) wurde aufgrund anderer Datengrundlagen eine vorläufige Einstufung in die WHI-Kategorien vorgenommen.

Demnach ist in 42 Ländern die Hungersituation nach wie vor ernst oder sehr ernst. Sehr ernst ist sie in sechs Ländern: Burundi, Jemen, Madagaskar, Somalia, Südsudan und Tschad. Dem Bericht zufolge haben sowohl Somalia als auch der Tschad mit den sich gegenseitig verstärkenden Auswirkungen von Konflikten, Klimawandel und Wirtschaftsabschwüngen zu kämpfen. Der Jemen sei besonders von Konflikten und Klimaextremen betroffen, und Madagaskar stehe vor extremen Herausforderungen durch den Klimawandel. Somalia hat mit 44,1 den höchsten berechenbaren WHI-Wert aller Länder im Ranking. Das Land ist mit einer langwierigen Hungerkrise konfrontiert, während der Staat nur begrenzt in der Lage ist, grundlegende Regierungsfunktionen auszuführen. Mehr als die Hälfte der Bevölkerung (51,3 %) war im Zeitraum 2021–2023 unterernährt und konnte also dauerhaft ihren Mindestbedarf an Kalorien nicht decken – damit verzeichnet Somalia bei diesem Teilindikator den zweithöchsten Wert nach der Demokratischen Republik Kongo (53,5%). Bei den 36 Ländern mit ernster Hungerlage führten die Demokratische Republik Kongo, Haiti und Niger das Ranking an. Der Bericht stuft für weitere 37 Länder den Schweregrad des Hungers als „mäßig“ ein. Hier haben Gambia, Laos und Namibia die höchsten Werte und liegen damit eng an der Schwelle zu einer ernsten Hungerlage. In 51 weiteren Ländern sind die Hungerwerte „niedrig“.

Besorgniserregend ist, dass sich die Situation vielerorts kaum verbessert. In 20 Ländern mit mäßigen, ernsten oder sehr ernsten WHI-Werten für 2024 stagnierten die Fortschritte weitgehend – ihre WHI-Werte für 2024 sind im Vergleich zu 2016 um weniger als 5% gesunken. Doch trotz aller Krisen gebe es auch Hoffnung, betonen die Autor*innen: Länder wie Bangladesch, Mosambik, Nepal, Somalia und Togo haben ihre Werte deutlich verbessert, auch wenn der Hunger dort weiterhin ein Problem bleibt. Der globale WHI-Wert für 2024 beträgt 18,3, was als mäßig gilt und nur leicht unter dem Wert von 2016 (18,8) liegt. Doch dieser Wert verdeckt erhebliche regionale Unterschiede: In Afrika südlich der Sahara und in Südasien, wo der Hunger nach wie vor als ernst eingestuft wird, ist die Situation am desolatesten. Der hohe regionale WHI-Wert für Afrika südlich der Sahara (41,7) ist auf die mit Abstand höchste Unterernährungs- und Kindersterblichkeitsrate aller Regionen zurückzuführen. In Südasien spiegelt die Einstufung (37,6) die zunehmende Unterernährung und den anhaltend schlechten Ernährungszustand von Kindern wider. „Das Ziel Zero Hunger bis 2030 scheint unerreichbar. Weltweit haben 733 Millionen Menschen – deutlich mehr als noch vor zehn Jahren – keinen Zugang zu ausreichend Kalorien, und 2,8 Milliarden Menschen können sich keine gesunde Ernährung leisten. Die akute Ernährungsunsicherheit und die Gefahr von Hungersnöten nehmen zu, Hunger wird zudem vermehrt als Kriegswaffe eingesetzt,“ schreiben Mathias Mogge, Vorstandsvorsitzender der Welthungerhilfe sowie David Regan, der Vorstandsvorsitzende von Concern Worldwide, im Vorwort zum Bericht. „Hinter diesen alarmierenden Statistiken verbirgt sich ein Zustand der permanenten Krise, verursacht durch weitverbreitete Konflikte, die zunehmenden Auswirkungen des Klimawandels, wirtschaftliche Herausforderungen, Schuldenkrisen und Ungleichheit. Dennoch haben einige Länder gezeigt, dass Fortschritte möglich sind.“

Der diesjährige Bericht legt den Schwerpunkt auf den Zusammenhang zwischen fehlender Geschlechtergerechtigkeit, Ernährungsunsicherheit und den Folgen des Klimawandels. In einem Gastbeitrag bemängeln Nitya Rao (University of East Anglia), Siera Vercillo (Wageningen University) und Gertrude Dzifa Torvikey (University of Ghana), dass trotz „jahrzehntelanger aufrüttelnder Rhetorik über die Notwendigkeit, gleiche Rechte und Chancen von Männern und Frauen zu gewährleisten (…) nach wie vor eine große Ungleichheit zwischen den Geschlechtern“ bestehe. Diese genderspezifischen Ungleichheiten beeinflussen nicht nur das gesamte Leben der Frauen – sie haben auch fatale Auswirkungen auf die Ernährungssicherheit, die Ernährung und die Resilienz der Welt gegenüber dem Klimawandel. Frauen sind nach wie vor am stärksten von Ernährungsunsicherheit betroffen: In einigen Ländern schlägt sich das mit bis zu 19 Prozentpunkten in der Statistik nieder. „Besonders gravierend ist die Lage in konfliktbetroffenen Gebieten. Frauen, die arm sind, auf dem Land leben, Migrantinnen, Flüchtlinge oder in informellen Beschäftigungen tätig sind, sind noch stärker gefährdet. Selbst in Friedenszeiten essen Frauen und Mädchen weltweit aufgrund der Ungleichheiten, die in Kulturen, Gemeinschaften und Haushalten herrschen, oft als Letzte und am wenigsten“, schreiben die Wissenschaftlerinnen. Auch Ernährungssysteme im weiteren Sinne diskriminieren Frauen. Ansätze in der Agrar-, Ernährung- und Finanzpolitik berücksichtigen meist nicht die zugrundeliegenden Machtverhältnisse zwischen Männern und Frauen, z. B. diskriminierende Normen, Arbeitsbelastungen und Landvererbungsregelungen. Selbst in Ländern, in denen die Landrechte von Frauen im Gesetz verankert sind, schränken soziokulturelle Normen und Praktiken ihren Zugang zu und ihren Besitz von Land ein.

Die Autorinnen verweisen darauf, dass Gendergerechtigkeit – das heißt Gleichstellung zwischen Menschen in allen Lebensbereichen – ist für eine gerechte Welt und die Verwirklichung von Klima- und Ernährungsgerechtigkeit entscheidend ist. Sie besteht aus drei miteinander verbundenen Dimensionen: Anerkennung, Umverteilung und Repräsentation. Was dies konkret bedeutet, wie der Genderaspekt sich in Politik und Programmplanung niederschlagen muss und welche Reformen nötig sind, um Gendergerechtigkeit auf allen Ebenen zu erreichen – von Einzelpersonen bis hin zu Systemen und von formellen Mechanismen bis zu informellen Normen – ist in der deutschen Fassung des Berichts nachzulesen. „Während der Zugang zu Ressourcen für Frauen unerlässlich ist, müssen strukturelle Ungleichheiten – wie Klassendynamik, zunehmende Einkommensungleichheit, Unternehmenskontrolle über Produktionssysteme und mangelnde hochwertige Basisdienstleistungen – angegangen werden, um einen echten systemischen und sozialen Wandel zu ermöglichen“, fordern Rao, Vercillo und Torvikey in ihrem Beitrag. Auch Mathias Mogge schließt sich dem Appell an: „Geschlechtergerechtigkeit ist ein wichtiger Hebel, um den Hunger nachhaltig zu beseitigen. Regierungen müssen in Gesundheit, Bildung und ländliche Entwicklung investieren, um die bestehenden Ungleichheiten zu beseitigen und Frauen besseren Zugang zu Ressourcen und Entscheidungen zu ermöglichen“, betont der Vorstandsvorsitzende der Welthungerhilfe. (ab)

26.09.2024 |

Gesundheitscheck: Patient Erde überschreitet Belastungsgrenzen

Cover
Cover des Berichts (Design: bit.ly/Globaia, bit.ly/CCBY4_0)

Unser Planet befindet sich in einem desolaten Zustand und das Risiko steigt, dass die Widerstandsfähigkeit und Stabilität des Erdsystems bald völlig ins Wanken geraten könnten. Daher unterziehen Wissenschaftler*innen den Patienten künftig einem jährlichen Gesundheitscheck, um die Lage im Auge zu behalten, Behandlungsmöglichkeiten zu entwickeln und die Ursachen der Leiden zu identifizieren. Der erste Befund der jährlichen Kontrolluntersuchung wurde nun am 24. September vorgelegt: der „Planetary Health Check 2024“ erstellt von der Initiative „Planetary Boundaries Science” (PBScience) unter der Leitung des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung (PIK). Neun biophysikalische Systeme und Prozesse, die das Funktionieren lebenserhaltender Systeme auf der Erde regulieren, wurden dafür genauer unter die Lupe genommen um zu sehen, ob wir uns noch in dem sicheren Bereich bewegen, der für das Funktionieren des jeweiligen Prozesses definiert wurde. Die neun planetaren Grenzen sind Klimawandel; Überladung mit neuartigen Stoffen; Abbau der Ozonschicht in der Stratosphäre; Aerosolbelastung der Atmosphäre; Versauerung der Ozeane; Störung der biogeochemischen Kreisläufe; Veränderung in Süßwassersystemen; Veränderung der Landnutzung und Veränderung in der Integrität der Biosphäre. Sobald eine Grenze überschritten wird, erhöht sich die Gefahr, dass kritische Funktionen der Erde dauerhaft geschädigt werden. „Die Diagnose im Gesundheitscheck lautet: Der Patient Erde befindet sich in einem kritischen Zustand. Sechs von neun planetaren Grenzen sind überschritten. Insgesamt nimmt bei sieben dieser Erdsystemprozesse der Druck so stark zu, dass ein Großteil davon bald eine Hochrisikozone erreichen wird”, warnt PIK-Direktor Johan Rockström.

Das Konzept der Planetaren Grenzen ist nicht neu: 2009 veröffentlichte eine Gruppe von 29 Wissenschaftler*innen im Fachjournal Nature mit „A safe operating space for humanity“ – der sichere Betriebsbereich der Menschheit – einen wegweisenden Artikel. 2015 wird in einem Update festgestellt, dass die Menschheit in vier von insgesamt neun Bereichen bereits deutlich jenseits des sicheren Betriebsbereiches operiert: beim Klimawandel, Biodiversitätsverlust, dem Eintragen von Stickstoff und Phosphor in die Biosphäre und Landnutzungsänderungen. 2023 erschien eine weitere Publikation, die erstmals alle neun Prozesse und Systeme vollständig überprüft, die zusammen die Stabilität und Widerstandsfähigkeit des Planeten bestimmen. Mit dem „Planetary Health Check“ wird diese Bestandsaufnahme nun verstetigt und soll jedes Jahr Erdbeobachtungsdaten mit neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen und multidisziplinären Ansätzen kombinieren. „Sechs der neun planetaren Grenzen sind überschritten, was in dem Bericht erstmals durch hochauflösende räumliche Karten lokaler und regionaler Trends für alle neun Grenzen verdeutlicht wird“, erklärt PIK-Forscherin Levke Caesar, Co-Leiterin von PBScience und eine der Hauptautorinnen des PHC. Die Botschaft sei klar: „Lokale Maßnahmen haben Auswirkungen auf die Erde, und ein Planet, der unter Druck steht, kann sich auf überall und auf jeden auswirken. Um das menschliche Wohlergehen, die wirtschaftliche Entwicklung und stabile Gesellschaften zu sichern, ist ein ganzheitlicher Ansatz erforderlich, bei dem der Schutz des Planeten im Fokus steht“, betont Caesar.

Der Bericht untersucht 13 Kontrollvariablen zu den neun planetaren Grenzen, um sich einen Gesamtüberblick über den Gesundheitszustand unserer Erde zu verschaffen. Bei den sechs bereits überschrittenen Grenzen handelt es sich um den Klimawandel, die Integrität der Biosphäre, Landnutzungsänderungen, Veränderungen in Süßwassersystemen, dem Eintrag von Stickstoff und Phosphor in die Biosphäre sowie die Überladung mit neuartigen Stoffen. In diesen sechs Bereichen verschlimmert sich die Lage zunehmend. „Unsere aktualisierte Diagnose zeigt, dass lebenswichtige Organe des Erdsystems geschwächt werden, was zu einem Verlust an Widerstandsfähigkeit führt und das Risiko, Kipppunkte zu überschreiten, steigen lässt“, warnt Levke Caesar. In puncto Klimawandel zeigt sich, dass die CO2-Konzentration in der Atmosphäre seit der Industrialisierung kontinuierlich angestiegen ist und mittlerweile einen Höchststand erreicht hat, der höher ist als zu jedem anderen Zeitpunkt in den letzten 15 Millionen Jahren. Die Erderwärmung hat sich seit Ende des 20. Jahrhunderts beschleunigt und die globalen Durchschnittstemperaturen sind jetzt höher als zu jedem anderen Zeitpunkt seit der Entstehung menschlicher Zivilisationen auf der Erde. Auch um die Biodiversität ist es schlecht bestellt: Die beiden Kontrollwerte zum weltweiten Verlust der genetischen Vielfalt und dem Verlust der funktionalen Integrität (gemessen als die den Ökosystemen zur Verfügung stehende Energie) haben den sicheren Bereich überschritten und diese Entwicklung beschleunigt sich, gerade in Regionen mit intensiver Landnutzung. Dies gibt Grund zur Sorge, dass die Biosphäre der Erde an Widerstandsfähigkeit, Anpassungsfähigkeit und ihrer Fähigkeit verliert, verschiedene Belastungen abzumildern, einschließlich derer, die durch die Überschreitung anderer planetaren Grenzen entstehen.

Als Folge von Landnutzung und zunehmend auch aufgrund des Klimawandels sind die Wälder in den letzten Jahrzehnten weltweit und auf regionaler Ebene in allen wichtigen Waldbiomen kontinuierlich geschrumpft. Die meisten Regionen befinden sich bereits in der Hochrisikozone, weit jenseits ihrer sicheren Grenzen, während einige Gebiete erst vor kurzem diese überschritten haben (z.B. im gemäßigten und tropischen Amerika). Bei den Süßwassersystemen werden zwei Indikatoren herangezogen: das „grüne Wasser“, das in Pflanzen oder im Boden gespeichert ist, und „blaues Wasser“, das in Flüssen und Seen steckt. Hier kam es seit dem späten 19. Jahrhundert zu umfassenden Veränderungen bei lokalen Wasserkreisläufen und der Feuchtigkeit von Böden, wobei die planetaren Grenzen im frühen 20. Jahrhundert überschritten wurden. Auf etwa 18% der globalen Landfläche verzeichnen Flüsse, Seen und Wasserreservoirs Abweichungen jenseits des sicheren Betriebsbereichs, bei den Bodenwasservorräten sind 16% der globalen Landfläche betroffen. „Die zunehmende Variabilität und Instabilität der globalen Süßwasser- und Landwassersysteme gibt Anlass zu wachsender Sorge um die Bewirtschaftung der Wasserressourcen und die Stabilität der Umwelt“, heißt es in der Zusammenfassung des Berichts. Bei den biogeochemischen Kreisläufen werden Phosphor und Stickstoff ins Visier genommen: Die Verwendung dieser Stoffe in der Landwirtschaft hat die sicheren Grenzwerte überschritten, wodurch es zu erheblichen ökologischen Veränderungen kam, wie Wasserverschmutzung, Eutrophierung, schädlichen Algenblüten bis hin zum Entstehen von sogenannten „Todeszonen“ in Süßwasser- und Meeresökosystemen. Dieses Problem ist in den Industrieländern seit langem bekannt und wird auch in Schwellenländern zunehmend zum Problem.

Der sechste untersuchte Bereich ist die Einführung neuartiger Stoffe (novel entities) weltweit. Dazu gehören etwa synthetische Chemikalien und Stoffe (z.B. Mikroplastik, endokrine Disruptoren und organische Schadstoffe), radioaktives Material oder genetisch veränderte Organismen. Solche Stoffe wurden in großem Umfang eingeführt, doch ein Großteil wurde noch nicht hinsichtlich ihrer Auswirkungen auf die Umwelt getestet. „Dies deutet darauf hin, dass die Grenze wahrscheinlich überschritten ist, auch wenn die genauen Zahlen ungewiss sind“, so die Forscher*innen. „Neuartige Stoffe können kritische Prozesse im Erdsystem stören (z.B. haben FCKW die Ozonschicht erheblich geschädigt), Ökosysteme schädigen (so haben Pestizide einen erheblichen Rückgang der Insekten- und Bestäuberpopulationen verursacht) und zu langfristigen, möglicherweise irreversiblen Veränderungen in der Umwelt führen, einschließlich der Verschmutzung von Böden und Gewässern und der Veränderung natürlicher Habitate.“ Neben den sechs bereits überschrittenen planetaren Grenzen steht das Überschreiten einer siebten unmittelbar bevor: die Versauerung der Ozeane. Durch die Aufnahme von CO2 an der Meeresoberfläche sinken der pH-Wert und der Aragonit-Sättigungsgrad des Wassers. Gerade in Regionen in höheren Breitengraden, wie der Arktis und dem Südlichen Ozean, hat die Aragonit-Sättigung stark abgenommen. Diese Gebiete sind von entscheidender Bedeutung für die „marine Kohlenstoffpumpe“ und die globalen Nährstoffkreisläufe, die Grundlage sind für die Produktivität der Meere, die biologische Vielfalt und die weltweite Fischerei, heißt es im PHC. Die zunehmende Versauerung stelle eine wachsende Bedrohung für die marinen Ökosysteme dar, vor allem für jene Organismen, die für die Schalenbildung auf Kalziumkarbonat angewiesen sind. „Wenn wir uns die Gesundheitsindikatoren der Erde genauer ansehen, erkennen wir, dass die meisten von ihnen bald in der Hochrisikozone liegen werden”, unterstreicht Boris Sakschewski, Co-Leiter von PBScience und Hauptautor des Berichts. „Diesen Trend müssen wir umkehren. Wir wissen, dass alle lebenswichtigen Erdsystemprozesse zusammenwirken und jeder einzelne geschützt werden muss, um das gesamte System zu schützen.“ (ab)

01.08.2024 |

Overshoot: Nachhaltig nutzbare Ressourcen für 2024 sind aufgebraucht

Tagebau
Der Ressourcenhunger der Menschheit ist zu groß (Foto: CC0/Pixabay)

Schon wieder ist Erdüberlastungstag: Nur sieben Monate hat die Menschheit benötigt, um alle für 2024 nachhaltig nutzbaren Ressourcen zu verprassen. Ab dem 1. August beuten wir die natürlichen Ressourcen des Planeten wieder über das regenerierbare Maß hinaus aus und leben über unsere Verhältnisse beziehungsweise auf Kosten künftiger Generationen. Das verkündet das „Global Footprint Network (GFN)“, eine internationale Forschungsorganisation, die den Termin jedes Jahr basierend auf Daten der National Footprint and Biocapacity Accounts neu berechnet. Diese werden von der York University, Toronto und der Footprint Data Foundation produziert und stützen sich auf UN-Zahlen, ergänzt um Datensätze aus noch aktuelleren Fachpublikationen, wobei für jedes Land pro Jahr etwa 15.000 Datensätze einbezogen werden. Zur Berechnung des Tages werden zwei Größen gegenübergestellt: die biologische Kapazität der Erde zum Aufbau von Ressourcen sowie zur Aufnahme von Müll und Treibhausgasemissionen und andererseits der ökologische Fußabdruck – der Bedarf an Acker-, Weide- und Bauflächen, die Entnahme von Holz, Fasern (Baumwolle) oder Fisch, aber auch der CO2-Ausstoß und die Müllproduktion. Unterm Strich hat die Menschheit seit über 50 Jahren ein enormes ökologisches Defizit angesammelt und lebt aktuell so, als stünden 1,75 Planeten zur Verfügung. „Diese Übernutzung ist möglich, weil die Menschen mehr entnehmen können, als sich erneuert, wodurch das natürliche Kapital erschöpft wird“, erklärt das GFN in einer Pressemitteilung. „Die Folgen der ökologischen Übernutzung zeigen sich in der Abholzung von Wäldern, Bodenerosion, dem Verlust der Artenvielfalt und der Anreicherung von Kohlendioxid in der Atmosphäre, was zu häufigeren extremen Wetterereignissen und einer Reduzierung der Nahrungsmittelproduktion führt.“

2023 fiel der Earth Overshoot Day auf den 2. August. Doch selbst wenn das Datum konstant bleibt, steigt der Druck auf den Planeten weiter an, da sich die Schäden der Überschreitung mit der Zeit akkumulieren, so das Netzwerk. Das GFN berechnet den ökologischen Fußabdruck und die Biokapazitätskennzahlen aller Länder auch rückwirkend jährlich neu, wodurch sich die Termine vergangener Erdüberlastungstage aufgrund neuer Daten ändern können. Seit 1971 rückte das Datum jedenfalls im Kalender immer weiter nach vorne, wenn auch zuletzt nicht mehr ganz so rasant. Der erste Erdüberlastungstag war am 25. Dezember 1971. In den 90er Jahren lag er im Oktober und 2005 erstmals Ende August. Seither liegt der Termin in den ersten Augusttagen mit einem Ausreißer in 2020, als der Tag erst am 16. August anstand, was einem Rückgang der Ressourcennutzung in der ersten Jahreshälfte aufgrund der pandemiebedingten Lockdowns geschuldet war. Das Netzwerk veröffentlicht auch nationale Erdüberlastungstage für einzelne Länder, die zum einen dadurch bedingt sind, wie viele natürliche Ressourcen jedes Land zur Verfügung hat als auch, wie hoch der Verbrauch ist. Die Daten hierzu beruhen noch auf der Ausgabe der National Footprint and Biocapacity Accounts von 2023. Demnach hat Spitzenreiter Katar schon am 11. Februar die nachhaltig nutzbaren Ressourcen verbraucht, gefolgt von Luxemburg am 20. Februar. Der Erdüberlastungstag der USA etwa fiel auf den 14. März, der Dänemarks auf den 16. März und in Deutschland war es am 2. Mai soweit. Einige Länder gehen sparsam mit ihren Ressourcen um, sodass sie gar keinen nationalen Erdüberlastungstag haben. Das GFN stellt auch dar, wie viele Planeten es rein rechnerisch benötigt, wenn weltweit so gewirtschaftet würde wie in einem bestimmten Land. Die USA haben dabei einen besonders verschwenderischen Umgang mit den natürlichen Ressourcen: Wäre alle so ressourcenhungrig wie die US-Bürger*innen im Schnitt, dann wären 5 Erden notwendig. Australien verbraucht 4,7 und Russland 3,3 Planeten. Deutschland kommt auf 3 Erden – Indien hingegen nur 0,7.

24.07.2024 |

Null Fortschritt: 733 Millionen Menschen weltweit chronisch unterernährt

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Die Töpfe blieben bei 733 Millionen Menschen 2023 leer (Foto: CC0/Pixabay)

Es geht einfach nicht voran mit der Hungerbekämpfung: Rund 733 Millionen Menschen auf der Welt waren 2023 chronisch unterernährt. Das sind rund 152 Millionen mehr als im Jahr 2019 vor Ausbruch der COVID-19-Pandemie. So wird es nichts mit den hehren UN-Nachhaltigkeitszielen, die sich die internationale Gemeinschaft 2015 gegeben hat und erst recht nicht mit SDG 2, das die Beseitigung von Hunger und Unterernährung anstrebt. Denn die Hungerzahlen bewegen sich aktuell auf einem Niveau, das dem der Jahre 2008-2009 vergleichbar ist. Fortschritt sieht anders aus. Das müssen auch die fünf UN-Organisationen einräumen, die am 24. Juli mit ‘The State of Food Security and Nutrition in the World 2024’ – kurz SOFI – ihren alljährlichen Bericht zur globalen Hungersituation veröffentlichten. Die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO), der Internationale Fonds für landwirtschaftliche Entwicklung (IFAD), UNICEF, das Welternährungsprogramm (WFP) und die Weltgesundheitsorganisation (WHO) berichten, dass die Zahlen im dritten Jahr infolge auf diesem „hartnäckig hohen Niveau“ stagnieren. „Wir haben zwar einige Fortschritte erzielt, aber Verbesserungen waren ungleich verteilt und unzureichend. In den bevölkerungsreicheren Ländern, in denen die Wirtschaft wächst, hat sich die Lage verbessert, aber Hunger, Ernährungsunsicherheit und Mangelernährung nehmen in vielen Ländern der Welt weiter zu“, schreiben die Leiter der fünf UN-Organisationen in ihrem gemeinsamen Vorwort zum Bericht. „Dies betrifft Millionen Menschen, vor allem in ländlichen Gebieten, wo extreme Armut und Ernährungsunsicherheit nach wie vor tief verwurzelt sind. Gefährdete Bevölkerungsgruppen, insbesondere Frauen, Jugendliche und indigene Völker, sind unverhältnismäßig stark betroffen“. Wenn sich die derzeitigen Trends fortsetzen, werden im Jahr 2030 noch etwa 582 Millionen Menschen chronisch unterernährt sein, die Hälfte von ihnen in Afrika, und damit wird das 2. Nachhaltigkeitsziel wohl krachend verfehlt werden.

In der neuen Ausgabe des SOFI-Berichts wird wie in den drei vorigen Berichten eine Spanne für die Zahl der Hungernden angegeben, um der Unsicherheit bei der Datenerhebung Rechnung zu tragen. 2023 waren schätzungsweise zwischen 713 und 757 Millionen Menschen von chronischem Hunger betroffen. Nimmt man die Mitte der Spanne (733 Millionen), so ist die Zahl der unterernährten Menschen seit 2019, als noch 581,3 Millionen hungerten, laut der aktualisierten Datenbasis des Berichts um 26% gestiegen. Der Anteil der an Unterernährung leidenden Menschen stieg von 7,5% im Jahr 2019 auf 9,1% im Jahr 2023 – damit ist jede elfte Person betroffen. Nach Angaben der UN-Organisationen sind die Ursachen für Ernährungsunsicherheit und Mangelernährung „Konflikte, Klimaveränderungen und -extreme, Wirtschaftsflauten und Konjunkturabschwung, fehlender Zugang zu und die Unerschwinglichkeit von gesunder Ernährung, eine ungesunde Ernährung sowie die starke und anhaltende Ungleichheit“.

Die Zahlen zeigen ein starkes Gefälle zwischen und innerhalb der Weltregionen. Afrika ist nach wie vor die am stärksten von Unterernährung betroffene Region: Jeder fünfte Mensch (20,4%) auf dem Kontinent leidet an Hunger – mehr als doppelt so viel wie im globalen Durchschnitt. Auf Asien entfällt hingegen die höchste absolute Zahl: Mehr als die Hälfte (52,4%) der 733 Millionen Menschen, die im Jahr 2023 unterernährt waren, leben in Asien (384,5 Millionen Menschen), gefolgt von Afrika mit 298,4 Millionen (oder 40,7%) sowie Lateinamerika und Karibik mit 41 Millionen (5,6%). In den meisten Subregionen Afrikas nahm der Hunger zwischen 2022 und 2023 zu, mit Ausnahme von Ostafrika und dem südlichen Afrika. In der Subregion Zentralafrika, zu der Länder wie der Tschad und die Demokratische Republik Kongo gehören, stieg der Anteil der unterernährten Menschen an der Bevölkerung um 3,3 Prozentpunkte auf 30,8%. In Ostafrika waren 28,6% von Hunger betroffen. In Asien betrug der Anteil insgesamt 8,1%, wobei er in den Teilregionen Südasien (13,9%) und Westasien (12,4%) deutlich höher war. In Südasien gab es im Vergleich zu den beiden Vorjahren einige Fortschritte, während sich die Lage in Westasien verschlechterte, wo der Hunger seit 2015 zunimmt. In Lateinamerika und der Karibik als Region ging es in den letzten beiden Jahren voran und der Anteil der Unterernährten sank auf 6,1%. Das ist aber vor allem Verbesserungen in Südamerika geschuldet, während der Anteil in der Karibik auf 17,2% stieg.

Der Bericht beleuchtet auch andere ernährungsbezogene Indikatoren, wie moderate und schwere Ernährungsunsicherheit. Moderate Ernährungsunsicherheit wird definiert als „ein Schweregrad der Ernährungsunsicherheit, bei dem Menschen die Ungewissheit haben, ob sie sich mit Lebensmitteln versorgen können“, was bedeutet, dass sie gezwungen sind, zu bestimmten Zeiten im Jahr aufgrund von Mangel an Geld oder anderen Ressourcen Abstriche bei der Qualität und/oder Quantität der verzehrten Lebensmittel zu machen. Insgesamt hatten 28,9% der Weltbevölkerung oder 2,33 Milliarden Menschen 2023 nicht das ganze Jahr über Zugang zu angemessener Nahrung. Das ist ein Anstieg um fast 383 Millionen im Vergleich zu 2015 oder 3,9 Prozentpunkte. Von diesen 2,33 Milliarden Menschen waren 864,1 Millionen von schwerer Ernährungsunsicherheit betroffen, was bedeutet, dass ihnen die Nahrungsmittel ausgingen, sie Hunger litten und im Extremfall einen Tag oder länger nichts zu essen hatten. Dies ist ein Anstieg um fast 310 Millionen Menschen im Vergleich zu 2015. Afrika ist nach wie vor die Region mit dem größten Anteil an Menschen, die von mäßiger oder schwerer Ernährungsunsicherheit betroffen sind – mit 58% ist der Anteil fast doppelt so hoch wie im globalen Durchschnitt. In Afrika und Asien blieb die Situation im Vergleich zu 2022 praktisch unverändert, während sie sich in Ozeanien und in geringerem Maße auch in Nordamerika und Europa verschlechterte. In Lateinamerika hingegen wurden einige Fortschritte verzeichnet.

Auch eine gesunde Ernährung ist für viele Menschen unerschwinglich geworden. Die durchschnittlichen Kosten dafür kletterten 2022 weltweit kaufkraftbereinigt auf 3,96 Internationale Dollar pro Person und Tag, gegenüber 3,56 KKP-Dollar im Jahr 2021. Die Verwerfungen durch die Pandemie und den Krieg in der Ukraine trugen zu einem erheblichen Anstieg der internationalen Lebensmittel- und Energiepreise bei und verschärften den Inflationsdruck. 2022 konnten sich mehr als 2,8 Milliarden Menschen – oder 35,5% der Weltbevölkerung – keine gesunde Ernährung leisten. Die gute Nachricht ist, dass diese Zahl gegenüber 36,5% im Jahr 2021 leicht abnahm. Der Bericht warnt jedoch, dass der Trend nicht in allen Regionen gleich verläuft: „Die Zahl der Menschen, die sich keine gesunde Ernährung leisten können, ist in Asien, Nordamerika und Europa unter das Niveau von vor der Pandemie gesunken, während sie in Afrika deutlich angestiegen ist auf 924,8 Millionen im Jahr 2022, ein Plus von 24,6 Millionen gegenüber 2021 und 73,4 Millionen gegenüber 2019.“ Vergleicht man nach Einkommenskategorien, so ist die Lage für Länder mit niedrigen Einkommen sehr schwierig: In diesen Ländern konnten sich 503,2 Millionen Menschen im Jahr 2022 keine gesunde Ernährung leisten – die höchste Zahl seit 2017. In diesen Ländern war dies für 71,5% unerschwinglich, während der Anteil in Ländern mit hohem Einkommen nur 6,3% betrug.

Der Bericht zeichnet auch ein düsteres Bild von der Ernährungssituation bei Kindern. Schätzungsweise 45 Millionen Kinder unter fünf Jahren (6,8% aller Kinder dieser Altersgruppe) litten an Auszehrung (wasting). Betroffene Kinder sind gefährlich dünn, haben ein geschwächtes Immunsystem und ein höheres Sterberisiko. Zehn Jahre zuvor lag der Anteil bei 7,5% und hat sich damit nur geringfügig verändert. Darüber hinaus waren 148,1 Millionen oder 22,3% aller Kinder unter fünf Jahren in ihrem Wachstum und ihrer Entwicklung zurückgeblieben (stunting), was bedeutet, dass sie aufgrund eines chronischen Mangels an essenziellen Nährstoffen in ihrer Ernährung zu klein für ihr Alter sind. 2012 waren es noch 26,3% bzw. 177,9 Millionen Kindern, aber das Ziel, den Anteil bis 2030 zu halbieren, wird dennoch nicht erreicht werden, da aktuelle Prognosen davon ausgehen, dass dann noch 19,5% aller Kinder unterentwickelt sein werden. Der weltweite Anteil von Übergewicht bei Kindern unter fünf Jahren stagniert und betrug 2022 etwa 5,6%. 37 Millionen Kinder sind betroffen. Bis 2030 werden voraussichtlich 5,7% der Kinder unter fünf Jahren übergewichtig sein und damit wird der Anteil doppelt so hoch sein wie der Zielwert von 3%, den die Staatengemeinschaft für 2030 anvisiert hat.

Um es kurz zu machen: Die Welt befindet sich bei keinem der sieben globalen Ernährungsziele für 2030 im Zeitplan. Die fünf UN-Organisationen sind der Ansicht, dass ein ausreichendes Finanzierungsniveau und ein gleichberechtigter Zugang zu Finanzmitteln zur Bewältigung der Herausforderungen in den Bereichen Ernährungssicherheit und Ernährung unerlässlich sind, damit die notwendigen Maßnahmen ergriffen werden können. Das Schwerpunktpunktthema des diesjährigen SOFI ist daher auf die Finanzierung gerichtet, derer es bedarf, um Hunger und Unterernährung zu beenden. Der Bericht hebt hervor, dass die Länder, die am dringendsten mehr Finanzmittel benötigen, mit erheblichen Problemen beim Zugang zu diesen Mitteln konfrontiert sind. Von den 119 untersuchten Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen haben rund 63% nur begrenzten oder mäßigen Zugang zu Finanzmitteln. Zudem sind die meisten dieser Länder (74%) von einem oder mehreren wichtigen Faktoren betroffen, die zu Ernährungsunsicherheit und Mangelernährung beitragen. „Der schnellste Weg aus Hunger und Armut führt nachweislich über Investitionen in die Landwirtschaft in ländlichen Gebieten“, sagt IFAD-Präsident Alvaro Lario. „Aber die globale und finanzielle Landschaft ist seit der Verabschiedung der Ziele für nachhaltige Entwicklung im Jahr 2015 sehr viel komplexer geworden. Die Überwindung von Hunger und Mangelernährung erfordert mehr und bessere Investitionen.“ (ab)

07.06.2024 |

Leitlinien zum Menschenrecht auf Nahrung im Mittelpunkt

Kochen
Millionen Menschen haben nicht genug Nahrung (Foto: CC0)

Meist fristet das Recht auf angemessene Nahrung ein Schattendasein. Zwar nehmen Öffentlichkeit und Medien zur Kenntnis, wenn ein neuer Bericht zur Welternährungslage erscheint oder Hilfsorganisationen angesichts drohender Hungersnöte – sei es im Sudan, in Gaza oder in anderen von Krieg, Klimawandel und Katastrophen gebeutelten Gegenden der Welt – Alarm schlagen. Wir kennen die Bilder ausgemergelter Kinder, die auf den Bildschirmen ab und zu an uns vorbeihuschen. Viele wissen, dass rund um den Globus mindestens 735 Millionen Menschen chronisch unterernährt sind – Tendenz der letzten Jahre wieder steigend – und dass die Weltgemeinschaft das Ziel, bis 2030 Hunger und Mangelernährung zu beseitigen, wohl krachend verfehlen wird. Doch die wenigsten haben vermutlich schon einmal einen Blick in den Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte geworfen. Und dass die Tatsache, dass Menschen nicht genug Nahrung haben oder gar hungern, in juristischer Hinsicht bedeutet, dass täglich und millionenfach „das grundlegende Recht eines jeden, vor Hunger und Mangelernährung geschützt zu sein“ verletzt wird – ein im Sozialpakt seit 1966 völkerrechtlich verbrieftes Menschenrecht –, dürfte vielen nicht bewusst sein. Einmal abgesehen von den NGOs und Menschenrechtsorganisationen sowie engagierten Expert*innen, die sich seit Jahrzehnten für die Anerkennung und Verwirklichung des Rechts auf Nahrung einsetzen sowie dafür, dass Politiker*innen nicht nur in Sonntagsreden die Beseitigung von Hunger und Mangelernährung geloben, sondern Staaten sich konkret dazu verpflichten. Aktuell rückt das Recht auf Nahrung jedoch wieder etwas stärker ins Rampenlicht, denn 2024 steht der 20. Geburtstag eines Dokuments an, das ein Meilenstein war für die Präzisierung dessen, was das Recht auf Nahrung ausmacht und was Staaten tun können und müssen, um es für all ihre Bürger*innen zu gewährleisten: Gemeint sind die von der Welternährungsorganisation FAO 2004 in Rom verabschiedeten Freiwilligen Leitlinien für das Recht auf angemessene Nahrung, die für viele Bereiche, wie z.B. Zugang zu Ressourcen (wie Land, Wasser, Saatgut und Kapital), Ernährung, Bildung, Finanzen oder soziale Sicherungssysteme, Empfehlungen geben und konkrete Maßnahmen vorschlagen, damit das Recht auf Nahrung kein Papiertiger bleibt, sondern verwirklicht werden kann.

Der eigentliche Geburtstag der Leitlinien ist zwar erst im November, doch schon jetzt stellte das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL) sie in den Mittelpunkt der Sonderkonferenz „Politik gegen Hunger“, die am 04. und 05. Juni in Berlin stattfand. Seit 2001 kommen in diesem Forum Vertreter*innen aus Politik und Verwaltung, internationalen Organisationen, Zivilgesellschaft und Wissenschaft zusammen, um sich mit globalen Ernährungsfragen zu befassen. Dieses Jahr trafen sich also 200 Teilnehmer*innen aus 38 Ländern unter dem Motto „Twenty Years of Action: Advancing the Human Right to Food”, um darüber zu diskutieren, was die „Freiwilligen Leitlinien zur Unterstützung der schrittweisen Verwirklichung des Rechts auf Nahrung im Kontext nationaler Ernährungssicherung“ bewirken konnten und durch welche Herausforderungen das Recht auf Nahrung bedroht ist. „Die Weltgemeinschaft hat das Versprechen abgegeben, den globalen Hunger zu beenden. Mit der Konferenz wollen wir Perspektiven aufzeigen für nachhaltigere, widerstandsfähigere und gerechtere Ernährungssysteme“, ließ Bundesminister Cem Özdemir zur Eröffnung der Konferenz verlauten. „Wir müssen aber auch feststellen, dass dieses Ziel durch Klimakrise, Kriege und Konflikte bedroht wird“, räumte er ein. Dass diese Krisen allesamt menschengemacht sind, heiße aber auch im Umkehrschluss, „dass wir es in der Hand haben“. Neben zahlreichen Vorträgen und Paneldiskussionen fanden auch sechs Arbeitsgruppen statt, in denen beraten wurde, wie eine Agenda für die Umsetzung des Rechts auf Nahrung bis 2034 aussehen könnte und was die verschiedenen Stakeholder-Gruppen dazu beitragen könnten. Am Ende der Konferenz überreichte Michael Windfuhr vom Deutschen Institut für Menschenrechte dem BMEL sowie der Vorsitzenden des UN-Welternährungsausschusses CFS, Nosipho Nausca-Jean Jezile, die gemeinsamen Erkenntnisse und Empfehlungen der Konferenzteilnehmenden. Die BMEL kündigte an, die Ergebnisse bei der 52. Plenardebatte des CFS im Oktober 2024 einfließen zu lassen und den Ausschuss dabei zu unterstützen, „im Jubiläumsjahr ein entschlossenes Bekenntnis zur Stärkung des Rechts auf Nahrung zu formulieren“.

Im Vorfeld der Konferenz hob Sarah Luisa Brand, Expertin zum Recht auf Nahrung beim Deutschen Institut für Menschenrechte, die Bedeutung der Leitlinien in einem Interview hervor: „Die Erarbeitung der Leitlinien war bahnbrechend: Zum ersten Mal gelang es, ein zwischenstaatlich abgestimmtes und mit aktiver Beteiligung der Zivilgesellschaft erarbeitetes Dokument zu entwickeln, das sich der konkreten Umsetzung eines der im UN-Sozialpakt anerkannten Rechte widmet“, erläutert sie. Die Leitlinien hätten zudem „die Entwicklung weiterer Instrumente durch die Vereinten Nationen gefördert, sodass Staaten heute auf verschiedene Orientierungshilfen für die Umsetzung des Rechtes auf Nahrung zurückgreifen können.“ Als aktuelle Herausforderungen beim weltweiten Kampf gegen Hunger betrachtet sie, dass Hunger, Fehl- und Mangelernährung wieder zunehmen infolge der Covid 19-Pandemie und der aktuellen bewaffneten Konflikte. Aber auch der Klimawandel und der Verlust an Biodiversität bedrohe die Ernährungssicherheit weltweit. „Um alle Menschen weltweit ernähren zu können müssen die Agrar- und Ernährungssysteme weltweit verändert werden – hin zu mehr Partizipation, Biodiversität, Nachhaltigkeit und lokaler Produktion. Die Politik muss dafür sorgen, dass die lokale, kleinbäuerliche Produktion gefördert und Ressourcen stärker geschont werden, und dass qualitativ hochwertige Nahrung für alle erschwinglich ist“, fordert Brand. Auch die internationale Zusammenarbeit spiele eine wichtige Rolle: „Länder, die von Nahrungsmittelimporten abhängig sind, sollten ihre Eigenversorgung und Reserven erhöhen können, so dass temporäre Preisschwankungen auf den internationalen Märkten keine dramatischen Auswirkungen auf die Nahrungssicherheit haben.“

Auch das Global Network for the Right to Food and Nutrition, dem mehrere zivilgesellschaftliche Organisationen aus der ganzen Welt angehören, meldet sich anlässlich des nahenden 20. Jahrestages der UN-Leitlinien mit einer Erklärung zu Wort. Initiiert wurde diese von der Menschenrechtsorganisation FIAN und dem evangelischen Hilfswerk Brot für die Welt und ausgearbeitet wurde sie auf dem Weltsozialforums 2024 in Kathmandu im Februar auf einer Veranstaltung zu den Leitlinien. Das Netzwerk fordert in der Erklärung die sofortige und umfassende Umsetzung der Leitlinien unter angemessener Berücksichtigung und Anwendung der seit ihrer Verabschiedung im Jahr 2004 erzielten Fortschritte des normativen und rechtlichen Rahmens für das Menschenrecht auf angemessene Nahrung und Ernährung. „Heute erkennen 29 Länder das Recht auf angemessene Ernährung ausdrücklich in ihren Verfassungen an, während mehr als 100 Länder es implizit oder durch Richtlinien, Grundsätze oder andere einschlägige Bestimmungen anerkennen“, betont das Netzwerk und lobt die Vorreiterrolle Nepals: „Die Verfassung des Landes garantiert das Recht auf Nahrung und Ernährungssouveränität und 2018 wurde ein entsprechendes Gesetz verabschiedet. Das Gesetz sieht institutionelle Mechanismen auf nationaler, provinzieller und lokaler Ebene sowie die koordinierte Entwicklung eines nationalen Ernährungsplans vor.“ Eine Verordnung zur Umsetzung des Gesetzes wurde von der Regierung im März 2024 verabschiedet. Das Land konzentriert seine Bemühungen darauf, den Anteil der unterernährten Bevölkerung seit 2018 um die Hälfte zu reduzieren, und liegt derzeit auf Platz 69 von 125 Ländern im Welthungerindex. Andere Länder in Südostasien seien hier weniger motiviert. In Bangladesch stehe die Verabschiedung eines bereits seit 2016 fertig entworfenen Gesetzes zum Recht auf Nahrung aus. In Indien sei die Hungersituation trotz einer Reihe positiver Entwicklungen, wie der Anerkennung des Rechts auf Nahrung als Grundrecht durch den Obersten Gerichtshof 2001 und die Verabschiedung des National Food Security Act von 2013, ernst, und das Land belegt im Welthungerindex Platz 111. „Wir fordern die Regierungen auf, sich stärker für die Verwirklichung des Rechts auf Nahrung und Ernährung und die Beendigung von Hunger und Unterernährung zu engagieren, indem sie die internationalen Menschenrechtsbestimmungen in ihre nationalen Gesetze, Vorschriften, Strategien und Programme aufnehmen. Dazu gehört die Schaffung von Mechanismen für die Rechenschaftspflicht, die Gewährleistung einer sinnvollen Beteiligung der betroffenen Gemeinschaften an Entscheidungsprozessen und die Einrichtung transparenter Systeme zur Überwachung und Behebung von Verstößen gegen das Recht auf Nahrung“, heißt es in der Erklärung, der sich mehrere Organisationen und Einzelpersonen angeschlossen haben. Bleibt also zu hoffen, dass dem Recht auf Nahrung in diesem Jahr ausgiebig Aufmerksamkeit zuteil wird – und dass Taten folgen! (ab)

02.05.2024 |

Erdüberlastungstag 2024: Deutschland überzieht ab 2. Mai Ressourcenbudget

Tagebau
Der deutsche Ressourcenhunger ist groß (Foto: CC0, Pixabay)

Schon wieder ist deutscher Erdüberlastungstag: Die Bundesrepublik hat schon am 2. Mai die in diesem Jahr nachhaltig nutzbaren natürlichen Ressourcen verbraucht und lebt die restlichen 243 Tage wieder auf Kosten anderer Länder und künftiger Generationen. Darauf machen mehrere deutsche Nichtregierungsorganisationen aufmerksam. Sie stützen sich auf Daten des „Global Footprint Network“, einer internationalen Forschungsorganisation, die das Datum alljährlich basierend auf Daten der National Footprint and Biocapacity Accounts neu berechnet. Diese werden von der York University, Toronto mitgepflegt und stützen sich unter anderem auf UN-Datensätze. Das Netzwerk berechnet sowohl den globalen Erdüberlastungstag als auch nationale Overshoot Days. Deutschland ist dieses Jahr zwei Tage früher dran als im Vorjahr. „Es ist doppelt ungerecht: Während die Menschen im Globalen Süden viel weniger Rohstoffe verbrauchen und Emissionen verursachen, leben wir immer früher im Jahr auf Kosten der Menschen im Globalen Süden und unserer Kinder,“ beklagt Lara Louisa Siever, Referentin für Rohstoffpolitik, Wirtschaft und Menschenrechte bei der entwicklungspolitischen Organisation INKOTA. „Das müssen wir ändern und endlich unseren enormen Verbrauch reduzieren.“

Zur Berechnung des Erdüberlastungstages werden zwei Größen verglichen: die biologische Kapazität der Erde zum Aufbau von Ressourcen sowie zur Aufnahme von Müll und Treibhausgasemissionen und andererseits der ökologische Fußabdruck – der Bedarf an Acker-, Weide- und Bauflächen, die Entnahme von Holz, Fasern (Baumwolle) oder Fisch, aber auch der CO2-Ausstoß und die Müllproduktion. Der weltweite Erdüberlastungstag war im vergangenen Jahr am 2. August, aber Deutschland liegt mit seinem nationalen Datum immer deutlich früher im Kalender. Die schlechteste Bilanz weisen Katar und Luxemburg auf, deren nationale Erdüberlastungstage 2024 schon auf Februar fielen, gefolgt von den Vereinigten Arabischen Emiraten, Kuwait, Bahrain und Estland sowie einige weitere Länder, die den Tag schon im März begehen, zum Beispiel die USA mit ihrem Erdüberlastungstag am 14. März. Seit einigen Jahren rückt das deutsche Datum zwar im Kalender leicht nach hinten, aber von schnellen Fortschritten kann nicht die Rede sein. Im Jahr 2010 wären dem Global Footprint Network zufolge rein rechnerisch 3,3 Erden nötig gewesen, wenn alle Menschen so leben und wirtschaften würden wie die Deutschen, doch heute sind immer noch 3 Planeten erforderlich, um den deutschen Verbrauch zu denken. Zu dem überdimensionalen ökologischen Fußabdruck Deutschlands tragen vor allem Emissionen aus der Energieversorgung und dem Verkehrssektor bei. Aber auch der enorme Flächenbedarf für die Fleischproduktion sowie die Überlastung der Böden durch den Düngemitteleinsatz in der industriellen Landwirtschaft schlagen deutlich zu Buche „Der deutsche Erdüberlastungstag ist eine Mahnung, jetzt in allen Bereichen die Rahmenbedingungen so zu verändern, dass nachhaltiges Verhalten zum neuen Normal wird“, so Aylin Lehnert, Bildungsreferentin bei der Nichtregierungsorganisation Germanwatch. „Wir brauchen eine neue Schuldenbremse, eine Schuldenbremse in Bezug auf die Überlastung der Erde.“

Germanwatch lenkt mit seiner diesjährigen Pressemitteilung den Blick auf den hohen Konsum der Deutschen von Fleisch und anderen tierischen Produkten und die damit verbundenen Folgen. Denn hierzulande werden rund 60 % der Agrarfläche durch die Produktion von Futtermitteln belegt. „Allein 56 Prozent des hierzulande erzeugten Getreides gehen in die Futtertröge. Da die einheimischen Futtermittel dennoch nicht ausreichen, um den hiesigen Bedarf für die Tiere zu decken, werden zusätzlich massiv Flächen im Ausland in Anspruch genommen – 2022 etwa wurden 3,4 Millionen Tonnen Soja für die Verfütterung nach Deutschland importiert“, erklärt Konstantinos Tsilimekis, Experte für Welternährung und Landnutzung bei Germanwatch. „Der Anbau solcher Futtermittel ist seit Jahrzehnten ein zentraler Treiber für die Vernichtung von Wäldern und den Verlust von Biodiversität“, fügt er hinzu. Rund 138.000 Hektar Tropenwald sollen allein von 2016 bis 2018 weltweit für den deutschen Konsum zerstört worden sein – eine Fläche fast doppelt so groß wie Hamburg. Tsilimekis betont, dass in Deutschland die Zahl der Nutztiere verringert und Lebensmittel vermehrt direkt konsumiert werden müssten, anstatt sie an Tiere zu verfüttern, um die Zerstörung von Naturflächen verringern zu können und wertvolle Flächen wie Moore renaturieren zu können. Er verweist auf eine Studie des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung, laut der eine weltweite Umstellung auf eine nachhaltige und fleischarme Ernährung die Chancen für eine Begrenzung der globalen Erwärmung auf 1,5 Grad stark erhöhen würde. Zwar geht der Fleischverbrauch in Deutschland in den letzten Jahren immer mehr zurück, doch der Empfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Ernährung, nicht mehr als 300 Gramm Fleisch und Wurst pro Woche zu essen, folgen die wenigsten, denn mit 52 Kilo pro Kopf lag der Verzehr im Jahr 2022 höher. Eine gesündere und ressourcenschonende Ernährung erreiche man aber nicht allein mit Appellen, so Tsilimekis. „Es ist eine politische Aufgabe, nachhaltigere Angebote in der Gemeinschaftsverpflegung, etwa in Kantinen, sowie steuerliche Anreize für pflanzenbasierte Nahrungsmittel zu schaffen.“ Gleichzeitig müssten auch gangbare Geschäftsmodelle gemeinsam mit den Landwirt:innen entwickelt werden.

INKOTA visiert die absolute Senkung des deutschen Rohstoffverbrauchs auf ein global gerechtes Maß an und forderte von der Bundesregierung, die für dieses Jahr angekündigte Kreislaufwirtschaftsstrategie und das Reparaturgesetz schnell zu verabschieden und ambitioniert umzusetzen. Nur so könnten Umweltzerstörung, Menschenrechtsverletzungen und eine Verschärfung der Klimakrise durch Rohstoffabbau und -weiterverarbeitung verhindert werden. Der Abbau und die Weiterverarbeitung von Metallen sind etwa für mindestens 11% der weltweiten Emissionen verantwortlich. Daher ließen sich durch die längere Nutzung von Produkten massiv Treibhausgase und Rohstoffe einsparen. Die EU hat sich bereits im Februar auf neue Regelungen für Reparaturen geeinigt. „Jetzt gibt es keine Ausreden mehr! Die EU hat vorgelegt, jetzt muss Deutschland nachziehen und Reparaturen endlich konsequent fördern“, mahnt Lara Louisa Siever. „Dazu gehören strengere Vorgaben zur Verfügbarkeit von Ersatzteilen zu angemessenen Preisen. Reparaturfeindliche Praktiken müssen verboten werden.“ Zudem sei ein bundesweiter Reparaturbonus unerlässlich, um der Reparaturkultur einen Schub zu verleihen.

Der Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND) richtete das Augenmerk in seiner diesjährigen Pressemitteilung zum deutschen Erdüberlastungstag auf die übernutze Ressource Wasser. „In Europa und Deutschland steigt die Nachfrage nach kostbaren Ressourcen wie Süß- und Trink-Wasser. Dieses wird immer knapper und zugleich auch immer stärker verunreinigt“, erklärt BUND-Vorsitzender Olaf Bandt. Die Verschmutzung unserer Gewässer und damit auch die unserer Meere muss gestoppt werden. Wenn wir weiter zögern, werden wir immer größere Summen aufwenden müssen, um Wasser und auch Luft und Böden zu reinigen. Sauberes Wasser ist die wichtigste Lebensgrundlage auf unserem blauen Planeten.“ Der BUND betont die Notwendigkeit, dem Kampf ums Wasser vorzubeugen. Die Industrie spiele dabei eine zentrale Rolle, denn in Deutschland ist sie einer der größten Wasserverbraucher. „Wasser ist für das Leben unersetzlich. Unsere Gewässer sind aber in keinem guten Zustand, die Wasserentnahmemengen der Industrie viel zu hoch. Es wurde zu lange weggesehen, wenn weite Teile der Industrie und der Landwirtschaft auf Kosten unseres Wassers gewirtschaftet haben“, bemängelt Bandt. Das Verursacherprinzip müsse auch im Bereich der industriellen Wassernutzung gelten: „Wer nutzt, soll zahlen, wer verunreinigt, muss säubern. Der Wasserverbrauch muss gerecht zwischen Privathaushalten und Industrie geregelt werden.“ (ab)

07.03.2024 |

Neue DGE-Empfehlungen: Weniger Fleisch, mehr Hülsenfrüchte

Linsen
Die DGE rät zu mehr Hülsenfrüchten auf den Tellern (Foto: Pixabay)

Auf unseren Tellern und in unseren Mägen sollten weniger tierische Produkte landen und dafür mehr Obst, Gemüse und Hülsenfrüchte – das ist nicht nur der menschlichen Gesundheit zuträglich, sondern schützt auch das Klima. Mindestens drei Viertel unserer Ernährung sollte aus pflanzlichen Lebensmitteln bestehen. Das geht aus den überarbeiteten Empfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Ernährung e. V. (DGE) hervor, die am 5. März veröffentlicht wurden und damit pünktlich zum Tag der gesunden Ernährung, der alljährlich am 7. März begangen wird. Die Empfehlungen gelten für gesunde Erwachsene im Alter von 18 bis 65 Jahren, die sich mit einer Mischkost ernähren. „Wenn wir uns gesund ernähren und gleichzeitig die Umwelt schonen wollen, müssen wir unsere Ernährung jetzt ändern“, sagte DGE-Präsident Prof. Dr. Bernhard Watzl. „Wer sich überwiegend von Obst und Gemüse, Vollkorngetreide, Hülsenfrüchten, Nüssen und pflanzlichen Ölen ernährt, schützt nicht nur seine Gesundheit. Eine pflanzenbetonte Ernährung schont auch die Umwelt.“

Die DGE-Empfehlungen „Gut essen und trinken“ sind das Resultat eines mehrjährigen Überarbeitungsprozesses unter Federführung der Arbeitsgruppe „Lebensmittelbezogene Ernährungsempfehlungen“. Sie basieren auf einem mit Unterstützung von Expert*innen unterschiedlicher Fachrichtungen erarbeiteten mathematischen Optimierungsmodell, das nun nicht mehr nur die Nährstoffversorgung in den Blick nimmt, sondern auch die Verringerung von ernährungsmitbedingten Krankheiten sowie die Reduzierung von schädlichen Umwelt- und Klimaeffekten, vor allem Treibhausgasemissionen und Landnutzung. Zu pflanzlichen Lebensmitteln wird nun noch stärker als bisher geraten: Maximal ein Viertel der Ernährung sollte sich noch aus tierischen Produkten speisen. Die überarbeiteten Empfehlungen berücksichtigen nun z. B. täglich zwei Portionen Milch und Milchprodukte – eine Portion weniger als bisher. Bei Fisch bleibt es bei 1-2 Portionen (180 Gramm) wöchentlich. Standen bisher noch 300-600 Gramm Fleisch und Wurst pro Woche auf dem Speiseplan, empfiehlt die DGE nun klar, nicht mehr als 300 Gramm Fleisch und Wurst zu essen. „Aber auch mit der Zufuhr von weniger als 300 g Fleisch pro Woche können die Nährstoffziele erreicht werden“, betonen die Expert*innen. Sie geben zudem den Hinweis, dass zu viel Fleisch von Rind, Schwein, Lamm und Ziege und insbesondere daraus hergestellte Wurst das Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Dickdarmkrebs erhöht.

Obst und Gemüse stellen auch weiterhin die mengenmäßig wichtigste Gruppe dar. 5 Portionen Obst und Gemüse sollten wir täglich verzehren – am besten in ihrer jeweiligen Erntesaison. „Obst und Gemüse liefern reichlich Vitamine, Mineralstoffe, Ballaststoffe sowie sekundäre Pflanzenstoffe. Sie sind gut für die Gesundheit und tragen zur Sättigung bei.“ Hülsenfrüchte wie Erbsen, Bohnen, Linsen sowie Nüsse – die bisher Teil der Gruppe „Obst & Gemüse“ waren, werden mit einer eigenen Empfehlung gestärkt. Hülsenfrüchte sind reich an Eiweiß, Vitaminen, Mineral- und Ballaststoffen sowie sekundären Pflanzenstoffen und mindestens 1 Portion (125 Gramm) pro Woche sollte auf den Teller. Nüsse liefern zusätzlich lebensnotwendige Fettsäuren und sind gut für die Herzgesundheit, weshalb die DGE am Tag zu einer kleinen Handvoll rät. Zudem sind pflanzliche Öle zu bevorzugen, wie etwa Rapsöl und daraus hergestellte Margarine. Empfehlenswert seien außerdem Walnuss-, Lein-, Soja- und Olivenöl, Bei Getreideprodukten wie Brot, Nudeln, Reis und Mehl ist den Expert*innen zufolge die Vollkornvariante die bessere Variante für die Gesundheit. Vollkornlebensmittel sättigen länger und enthalten mehr Vitamine und Mineralstoffe als Weißmehlprodukte und gerade die Ballaststoffe im Vollkorn senken das Risiko für viele Krankheiten. Süßes, Salziges und Fettiges sollten Verbraucher*innen besser im Supermarktregal stehen lassen. Wird zu viel davon gegessen, steigt das Risiko für Übergewicht, Bluthochdruck, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Typ-2-Diabetes.

Die neuen Empfehlungen zeigen eine Idealsituation auf, betont die DGE. Bereits kleine Veränderungen in der täglichen Ernährung seien schon ein Schritt in die richtige Richtung – hin zu einer gesundheitsfördernden und umweltschonenderen Ernährung. Die Umweltschutzorganisation WWF Deutschland begrüßt die neuen Empfehlungen als wichtigen Schritt hin zu einer Ernährung innerhalb der Grenzen unseren Planeten. „Die mit unseren Essgewohnheiten einhergehenden Umweltauswirkungen auf die Erde sind massiv. Insbesondere unser zu hoher Verzehr von tierischen Lebensmitteln befeuert die Klima- und Biodiversitätskrise“, sagte Elisa Kollenda, Referentin für nachhaltige Ernährung beim WWF Deutschland. „Die DGE-Empfehlungen preisen das nun erstmals ein und geben damit wichtige Impulse an die Verbraucherinnen und Verbraucher. Bei Fleisch bewegt sich die DGE auf einem Pfad gen planetare Grenzen. Bei Milchprodukten gilt dies nur eingeschränkt. Bei den Hülsenfrüchten besteht noch deutlich Luft nach oben, was die empfohlenen Verzehrmengen angeht.“ Wichtig sei nun eine Überarbeitung des Qualitätsstandards für die Gemeinschaftsverpflegung. „Damit Veränderungen im Qualitätsstandard dann flächendeckend in Kantinen von Kitas, Schulen oder Seniorenheimen umgesetzt werden, braucht es Verbindlichkeit und finanzielle Rahmenbedingungen. Hier müssen Bund und Länder nun nachlegen.“

15.02.2024 |

Branchenberichte: Bioanbaufläche wächst weltweit um 26 Prozent

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Die Umsätze mit Bio wuchsen (Foto: CC0)

Die ökologisch bewirtschaftete Fläche weltweit und in Deutschland verzeichnet weiterhin Zuwächse und auch der Markt für Bioprodukte verbucht steigende Umsätze, wenn auch die Bilanz in einigen Ländern gemischt ausfiel. Das zeigen zwei Berichte, die Mitte Februar auf der Ökoleitmesse BIOFACH in Nürnberg vorgestellt wurden. Das Forschungsinstitut für biologischen Landbau FiBL und IFOAM – Organics International präsentierten ihren Bericht „The World of Organic Agriculture“ mit Zahlen zum Ökolandbau rund um den Globus, während der Bund Ökologische Lebensmittelwirtschaft (BÖLW) seinen Branchenreport für Deutschland veröffentlichte. Laut dem FiBL/IFOAM-Jahrbuch, das sich auf das Jahr 2022 bezieht und Daten aus 188 Ländern zusammenführt, wurden weltweit rund 96 Millionen Hektar Land ökologisch bewirtschaftet – ein Anstieg um 20 Millionen Hektar oder 26,6 % im Vergleich zu 2021 – ein so deutlicher Zuwachs wie noch nie zuvor. Die 25. Ausgabe des Berichts zeigt, dass nicht nur die ökologisch bewirtschaftete Fläche zunahm, sondern auch die Zahl der Biolandwirt*innen und die Umsätze der Branche. Der Bericht, der neben Statistiken auch Artikel zu aktuellen Entwicklungen in der Biobranche liefert, betont auch die zentrale Rolle des Ökolandbaus für das Erreichen übergeordneter Nachhaltigkeitsstrategien, wie die UN-Nachhaltigkeitsziele (SDGs) oder die Farm to Fork-Strategie der EU: „Angesichts der Tatsache, dass der Ökolandbau zu all diesen Zielen und Strategien substanziell beiträgt, enthält dieses Buch nicht nur Daten zu Flächenanteilen, der Zahl der Erzeuger*innen und Marktkennwerte, sondern zeigt auch die Bedeutung des Ökolandbaus bei der Bekämpfung des Klimawandels, der Sicherung von Lebensmitteln und Ernährung, der Eindämmung des Artensterbens und der Förderung eines nachhaltigen Konsums”, schreiben Dr. Jürn Sanders, der Vorsitzende der Geschäftsleitung von FiBL Schweiz und Karen Mapusua, die Präsidentin von IFOAM, im Vorwort. „Somit unterstreicht es den Beitrag des Ökolandbaus zur Transformation des Ernährungssystems als Ganzes (…) und zu einer nachhaltigen Zukunft.“

Das Länder-Ranking führt weiter Australien mit einer absoluten Biofläche von 53 Millionen Hektar an, wobei schätzungsweise 97 % dieser Fläche extensiv bewirtschaftetes Grünland sind. Die Fläche weitete sich im Vergleich zum Vorjahr um 17,3 Millionen Hektar aus. Auf Platz zwei rangiert Indien mit 4,7 Millionen Hektar Bioanbaufläche, während sich Argentinien mit 4 Millionen Hektar auf Platz 3 vorschob. Es folgen China und Frankreich mit einer Biofläche von jeweils rund 2,9 Millionen Hektar. Deutschland schaffte es im globalen Vergleich 2022 auf Platz 10 mit 1,86 Millionen Hektar. Aufgrund des hohen Flächenanteils Australiens liegt mehr als die Hälfte der weltweiten ökologischen Anbaufläche in Ozeanien (55,2 %). Europa bringt es auf eine Fläche von 18,4 Millionen Hektar oder 19,1 % der Gesamtfläche, gefolgt von Lateinamerika mit 9,5 Millionen Hektar (9,9 %), Asien (8,8 Millionen Hektar bzw. 9,2 %) sowie Afrika (2,7 Millionen bzw. 2,8 %). Der weltweite Anteil des Ökolandbaus an der gesamten landwirtschaftlichen Nutzfläche beträgt nun 2 %, doch in 22 Ländern ist er mit mehr als 10 % deutlich höher. Liechtenstein führte auch 2022 mit einem Bioanteil von 43 % an der Gesamtfläche, gefolgt von Österreich mit 27,5 %. In Estland wurden 23,4 % der Fläche ökologisch bestellt. Im Ranking sind viele Inselstaaten weit vorne vertreten, wie Sao Tome und Principe mit 21,2 % und Dominica mit 11,6 %. In der EU betrug der Anteil der Bioanbaufläche 10,4 %, wohingegen er in anderen Regionen bei unter einem Prozent liegt. Weltweit gab es dem Bericht zufolge im Jahr 2022 rund 4,5 Millionen Bioproduzent*innen – ein Anstieg um 26 % gegenüber 2021, der vor allem auf starken Zuwächsen in Indien beruht. Der Großteil (60,6%) der Bioproduzent*innen leben in Asien, während 21,6 % in Afrika und 10,6 % in Europa beheimatet sind. Die meisten Biobäuerinnen und -bauern sollen in Indien leben (2,5 Millionen), gefolgt von Uganda mit rund 404.246 und Thailand und Äthiopien mit jeweils rund 121.500 Personen. Genaue Zahlen sind hier jedoch schwer zu ermitteln, da einige Länder nur die Anzahl der Unternehmen, Projekte oder Erzeugergemeinschaften melden, sodass die Gesamtzahl der Produzent*innen noch höher liegen könnte.

Der weltweite Markt für Bioprodukte verzeichnete ebenfalls Zuwächse, wenn auch keine üppigen. Der Markt wurde für 2022 auf umgerechnet 135 Milliarden Euro geschätzt – ein Plus von 3 % bzw. 4 Millionen Euro im Vergleich zum Vorjahr. Die USA sind führend mit einem Umsatz von 56,6 Milliarden Euro vor Deutschland und China mit 15,3 bzw. 12,4 Milliarden Euro sowie Frankreich mit 12,1 Milliarden. In einigen Ländern Europas wurde ein Umsatzrückgang verzeichnet, während in Kanada ein Zuwachs von 9,7 % verbucht wurde und der Markt in Japan um 8,4 % zulegte. Die Schweizer Verbraucher*innen gaben am meisten für Biolebensmittel aus (im Schnitt je 437 Euro), während die Menschen in Dänemark 365 Euro und in Österreich 274 Euro für Bio lockermachten. Den Deutschen war Bio 184 Euro wert. Dänemark weist mit 13 % den höchsten Biomarktanteil am gesamten Lebensmittelmarkt auf. In Österreich sind es 11,5 % und in der Schweiz 11,2 %. In einem Kapitel zum globalen Biomarkt setzt Amarjit Sahota von Ecovia Intelligence die nackten Zahlen in Perspektive: „Der Markt für Bioprodukte ist durch die geopolitischen Konflikte und die unsichere Wirtschaftslage negativ beeinflusst worden. Die Umsätzen nahmen 2022 weiter zu, aber das lag teilweise auch daran, dass die Preise für Bioprodukte anzogen“, schreibt er in dem Bericht. „Einige Länder, darunter auch Deutschland und Frankreich, berichteten von sinkenden Verkaufszahlen und Absatzmengen. In den USA und anderen Ländern legten die Umsätze zwar zu, aber in bescheidenem Umfang.“ Sahota beonte, dass die Biobranche auch nicht immun gegen geopolitische Konflikte sei, die zu Unterbrechungen in globalen Lieferketten für Agrarprodukte führten. Jedoch rechnet er damit, dass wieder ein gesundes Wachstum einsetzen werde, sobald sich die Wirtschaftslage verbessert hat.

Der Bund Ökologische Lebensmittelwirtschaft (BÖLW) wartete für Deutschland mit frischen Zahlen für das Jahr 2023 auf. Der Bio-Gesamtumsatz lag bei 16,1 Milliarden Euro – ein Plus von 5 % gegenüber dem Vorjahr. Es gibt mittlerweile 36.535 Bio-Höfe in ganz Deutschland und mit 14,3 % aller Betriebe wirtschaftet jeder siebte Betrieb ökologisch. Die ökologisch bewirtschaftete Fläche erhöhte sich im letzten Jahr um 80.459 Hektar auf nun insgesamt 1.940.301 Hektar – ein Zuwachs von 4,3 % gegenüber 2022 oder eine tägliche Umwandlung in Bioflächen von 307 Fußballfeldern, wie der BÖLW vorrechnet. Der Bio-Anteil an der gesamten Landwirtschaftsfläche stieg so auf fast 11,8 %. Somit ist Deutschland noch weit von dem selbstgesteckten Ziel entfernt, bis 2030 auf 30 % Biofläche zu kommen. Der BÖLW mahnt hier an, dass die Politik Unternehmen, die in den notwendigen Umbau unseres Ernährungssystems investieren wollen, verlässliche Perspektive anbieten müsse. Landwirtschaftsminister Cem Özdemir soll dafür sorgen, dass unnötige Bürokratie bei der Agrarförderung abgebaut werde, da Höfe, die nach dem Bio-Recht wirtschaften, bereits hohe Umweltleistungen erbrächten. Und die Prioritäten bei der Agrarförderung seien ebenfalls anders zu setzen: „Es ist entscheidend, die einseitige Ausrichtung der Forschungsförderung zu beenden und die Bio-Züchtung zu stärken. Sie zielt darauf ab, dass Pflanzen ohne Pestizide auskommen und effizienter mit Dünger umgehen können. Das kommt der gesamten Landwirtschaft zugute“, sagt Peter Röhrig, geschäftsführender Vorstand des BÖLW. „Bundesminister Özdemir hat zugesagt, 30 Prozent der Forschungsmittel für ökologische Forschung bereitzustellen, auch um die Bio-Züchtung zu stärken. Wenn das Forschungsministerium jedoch deutlich mehr Mittel für Gentechnikforschung als für innovative Bio-Züchtung bereitstellt, untergräbt dies die Glaubwürdigkeit der Bundesregierung.“ (ab)

31.01.2024 |

Kritischer Agrarbericht fordert mehr Mut zur Transformation der Landwirtschaft

Tiere
Tierhaltung im Fokus des KAB (Foto: CC0)

Der Januar stand in Berlin wie gewohnt ganz im Zeichen der Landwirtschaft – dieses Jahr noch etwas sichtbarer als ohnehin: Am Berliner Messegelände wehten die Fahnen der „Grünen Woche“ im Wind, Trecker rollten durch die Stadt und 8.000 Menschen demonstrierten in eisiger Kälte unter dem Motto „Wir haben es satt“ für die Agrarwende. Und in ebenso bewährter Tradition erschien auch am 18. Januar der „Kritische Agrarbericht 2024“, der zunächst vormittags auf der Grünen Woche präsentiert wurde und am Abend auf einer Veranstaltung in der Heinrich-Böll-Stiftung mit einigen Autor*innen diskutiert werden konnte. Es ist bereits die 32. Ausgabe, die das AgrarBündnis e.V., ein Zusammenschluss von 26 Organisationen aus Landwirtschaft, Umwelt-, Natur- und Tierschutz sowie Verbraucher- und Entwicklungspolitik, herausbringt. Auf 344 Seiten formuliert der Bericht Kritik am derzeitigen Agrarsystem und zeigt Alternativen auf. „Tiere und die Transformation der Landwirtschaft“ lautet der diesjährige Schwerpunkt, den 24 der 46 Beiträge behandeln. „Die anhaltende gesellschaftliche Diskussion über die Nutztierhaltung hat zu einer großen Verunsicherung in der Landwirtschaft geführt“, betont Frieder Thomas, Geschäftsführer des AgrarBündnis. „Die Zahl der tierhaltenden Betriebe sinkt dramatisch, während die Fleischimporte zunehmen.“

Der Bericht beginnt mit einer nüchternen Bestandsaufnahme. Noch vor zwei Jahren habe Aufbruchstimmung geherrscht. „Der Ball liegt auf dem Elfmeterpunkt. Jetzt muss man nur noch schießen“, war eine beliebte Metapher in der Agrardebatte. Die Zukunftskommission Landwirtschaft hatte ihren Abschlussbericht und das Kompetenzwerk Nutztierhaltung (Borchert-Kommission) seine Empfehlungen für den Umbau der Tierhaltung vorgelegt. „Alles schien gesagt, durchdacht und durchgerechnet zu sein, was es braucht, um Landwirtschaft und Tierhaltung zukunftsfest zu machen“, so die Herausgeber. Die Kompromisse und Vorschläge für eine Transformation des Agrar- und Ernährungssektors kamen von einem denkbar breiten Zusammenschluss unterschiedlichster Interessensgruppen und waren mit tatkräftiger Unterstützung der Wissenschaft erarbeitet worden. Sie hätten als „Steilvorlage für die Politik“ dienen können. Doch den seit fast zwei Jahren andauernden Krieg Russlands gegen die Ukraine nutze vielmehr die Agrarlobby, um Kernpunkte der EU-Agrarreform und die weitere Ökologisierung der Landwirtschaft auszuhebeln. „Was wir derzeit erleben, ist ein agrarpolitisches Rollback auf allen Ebenen, in Brüssel ebenso wie in Berlin.“ Die notwendige Transformation hin zu einem gesunden, gerechten, umweltfreundlichen und für alle Beteiligten auch wirtschaftlich tragfähigen Agrar- und Ernährungssystem drohe an parteipolitischen Querelen, fehlender Finanzierung, aber auch an mangelnder Einsicht in seine gesellschaftliche und ökonomische Notwendigkeit zu scheitern. Die Selbstauflösung der Borchert-Kommission sei symptomatisch für den Stillstand. Verbraucher*innen wünschten sich zwar mehr Tierschutz und eine klimafreundlichere Tierhaltung, greifen aber angesichts enorm gestiegener Lebensmittelpreise im Supermarkt doch zum Billigangebot – „verleitet von Rabattschlachten der vier großen Handelsketten, die ihrer gesamtgesellschaftlichen Verantwortung nicht gerecht werden“. Zudem würden die Bäuerinnen und Bauern von einer Politik im Stich gelassen, die nicht in der Lage sei, den Betrieben bei dem Umbau ihrer Tierhaltung die nötige finanzielle Unterstützung und vor allem Planungssicherheit zu geben.

Zunächst stellt Wolfgang Reimer, Vorsitzender der Agrarsozialen Gesellschaft e.V., einleitend fest, dass die Transformation der Landwirtschaft nur mit den Tieren gelingen kann, nicht ohne sie. Weder die Fortschreibung des bisherigen Trends mit industrieller Tierhaltung noch die Abschaffung der Tierhaltung seien die Lösung. Vielmehr müssten dort, wo es die natürlichen Bedingungen zulassen, der Pflanzenbau und die Tierhaltung wieder stärker verbunden werden, um die natürliche Produktivität zu nutzen. Für Wiederkäuer müsse die Haltung und Zucht auf die optimale Ausnutzung des Raufutters vom Grünland mit deutlich geringeren Kraftfuttergaben ausgerichtet werden. Die Geflügel- und Schweinehaltung dürfe nicht wie bisher weltweit über ein Drittel der Getreideflächen und zwei Drittel des Sojas vom Acker verschlingen, sondern müsse stärker als bisher Reststoffe aus Landwirtschaft und Ernährungsindustrie verwerten und Kulturen, die mit der Erweiterung der Ackerbaufruchtfolgen angebaut werden. Doch letztendlich hätten alle derzeit diskutierten Umbaukonzepte einen Rückgang der Tierhaltung zur Folge. Über die folgenden 11 Kapitel verteilt erstreckt sich ein breitgefächertes Potpourri an Artikeln und Analysen zu den vielen Facetten des Schwerpunktthemas. Xenia Brand, Geschäftsführerin der Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft (AbL), hat die Düngepolitik herausgepickt. Eine sinnvolle Düngepolitik müsse sowohl die Ziele aus dem Gewässer- und Klimaschutz verfolgen, als auch das Verursacherprinzip stärken, fordert sie. Die Gebietsausweisung der Roten Gebiete etwa werde von vielen Landwirt*innen als willkürlich betrachtet, auch aufgrund sich ständig ändernder Gebiete. Das Düngerecht müsse viel stärker als bisher beim Verursacher ansetzen, d. h. es brauche eine einzelbetriebliche Betrachtung und eine verursacherbezogene Adressierung der Stickstoffüberschüsse. Betriebe mit niedrigen Stickstoff- und Phosphorsalden, die deutlich unter den zulässigen Obergrenzen liegen, müssten entlohnt werden. Statt wie bisher auf Sanktionen solle stärker auf Anreize und Honorierungen gesetzt werden. „Für die landwirtschaftlichen Betriebe sollte Planungssicherheit und ein Anreizsystem entstehen, das im Ergebnis zu mehr Gewässer und Klimaschutz führt“, lautet Brands Fazit. Berit Thomsen von der AbL befasst sich mit der Transformation der Tierhaltung für Betriebe mit Weide- und mit Anbindehaltung und zeigt auf, welche ökonomischen, ökologischen und sozialen Aspekte in dem erforderlichen Veränderungsprozess zu berücksichtigen sind. Der Biobauer und Abgeordneter der Grünen im EU-Parlament Martin Häusling hat das Thema Antibiotikaeinsatz in der Tierhaltung gewählt. In der Veterinärmedizin müsse dringend gehandelt werden, um Antibiotikaresistenzen vorzubeugen. Änderungen in den Tierhaltungssystemen, bei der Fütterung und in der Zucht seinen nötig mit besonderer Handlungsdruck beim Umgang mit den sogenannten Reserveantibiotika. Es brauche schnellstens einen Systemwechsel „weg von Haltungsbedingungen, die krank machen, hin zu möglichst geschlossenen, tiergerechten Betrieben“.

Kapitel 2 widmet sich Welthandel und -ernährung. Stig Tanzmann, Referent für Landwirtschaft bei Brot für die Welt, beleuchtet den Hype um alternative Proteine mit Blick auf das Menschenrecht auf Nahrung. Die Produktion von und die Debatte um alternative Proteine und Fleisch­, Fisch­ und Milchersatzprodukte habe erfreulicherweise stark an Fahrt aufgenommen. Bekanntestes Beispiel in Deutschland sei die vegane Neuerfindung der Rügenwalder Mühle. Global gebe es kaum einen Agrar­ oder Ernährungskonzern, der nicht im Feld um alternative Proteine und Fleisch­, Fisch­ und Milchersatzprodukte aktiv sei. Angesichts starker Wachstumserwartungen wird viel Geld in Start­ups gepumpt. Hier gelte es, der drohenden Dominanz der Industrie vorzubeugen. Die Debatte um alternative Proteine dürfe nicht weiter dem Markt überlassen werden, sondern müsse über völkerrechtliche Vereinbarungen in den Vereinten Nationen von staatlicher Seite strukturiert und auf Basis der Menschenrechte reguliert werden. Auch alternative Proteine auf der Basis von Insekten bedürfen einer internationalen Regulierung. Insekten sind wichtige Bestandteile vieler Ernährungssysteme des globalen Südens und es müsse verhindert werden, dass sich Agrar­ und Ernährungskonzerne Insekten patentieren, Bestände ohne einen Vorteilsausgleich nutzen oder der globale Norden den traditionellen Nutzer*innen Hygienestandards aufoktroyiere. Bei dem gesamten Hype dürfe nicht vergessen, dass der Großteil der landwirtschaftlichen Nutzfläche Weideland sei, das sich eben als Futter für Wiederkäuer eigne. Auch die Weltmeere spielten eine bedeutete Rolle bei der globalen Proteinversorgung. Daher dürfte die Welternährungs­ und Tierhaltungsdebatte nicht nur von der westlichen Perspektive geprägt werden, die Kleinfischer:innen, Pastoralisten und nomadische Tierhalter:innen häufig vernachlässige.

Im Beitrag „Die Hähnchen fliegen immer noch nach Afrika“ macht Francisco Marí, Referent für Welternährung, bei Brot für die Welt, auf ein Thema aufmerksam, um das es in letzter Zeit etwas stiller geworden ist, obwohl es nichts an Brisanz eingebüßt hat: der Export von Geflügelfleisch nach Afrika. Da in Europa mit Vorliebe Hähnchenbrust gegessen wird, die nur 15-20% der Tiere ausmacht, besteht quasi eine Überproduktion an Fleisch. Deutschland importiert etwa noch zusätzlich Hähnchenfilets. Die ungeliebten Teile werden in andere EU-Länder, nach Asien oder eben nach Afrika exportiert – Mari nennt dies ein wahres „Hähnchenroulette“ von Fleischimporten und -exporten. 2021 erreichten bis zu 750 Millionen Kilo Hähnchenfleisch aus EU-Ländern Afrika. Dazu kommen 1,5 Milliarden Kilo aus den USA und Brasilien, zum Teil auch aus Argentinien und Kanada. Die Märkte afrikanischer Länder, und zwar nicht mehr nur Westafrika, werden überschwemmt, Produzent*innen vor Ort können mit den Preisen der Billigimporte nicht mithalten und die kleinbäuerliche Tierhaltung wird von lokalen Märkten verdrängt. Unfaire Handelsregeln können den Dumpingimporten nur wenig entgegensetzen. Doch Mari berichtet auch von einigen Ländern, die früh auf strikte Importverbote für Hähnchenfleisch gesetzt haben und erfolgreich Arbeitsplätze in der heimischen Geflügelproduktion schaffen und stabile Preise und Einkommen vor allem für Kleintierhalter:innen garantieren konnten. So wurden in Kamerun seit dem Importverbot 2006 in der Geflügelmast 320.000 Arbeitsplätze geschaffen. In Nigeria sollen laut Agrarministerium über 2 Millionen Menschen in der Hähnchenmast beschäftigt sein, die 600.000 Tonnen produziert. Im Senegal gibt es laut Geflügelverband in dem Sektor 500.000 Arbeitsplätze. „In allen diesen Ländern können inzwischen auf den Märkten die lebend angebotenen Hühner vor Ort geschlachtet und Hühnerteile auf den Märkten frisch erworben werden. Ärmere Menschen können sich also auch ein paar billige Hühnerflügel oder Hälse leisten“, schreibt Mari und zerpflückt damit das Argument von Befürworter*innen einer industriellen Agrarproduktion und Agrarkonzernen, es sei unfair, armen Menschen, die sich das lokale Huhn nicht leisten können, durch Importbeschränkungen die Chance zu nehmen, sich mit billigem Fleisch zu ernähren. Damit es afrikanischen Staaten gelinge, eine eigene Wertschöpfung zur Fleischproduktion aufbauen, statt wertvolle Devisen an ausländische Fleischkonzerne zu zahlen, müssten sie laut Mari handelspolitische Maßnahmen ergreifen, wie es die EU schon lange erfolgreich selbst zum Schutz der eigenen Geflügelindustrie vor Billigimporten tut. Das „Zaubermittel“ heiße Zollquoten. Aber ohne den massiven Abbau der Mastkapazitäten in der EU, ein Ende der bisherigen Massentierhaltung und Förderung tiergerechter und ökologischer Haltungsformen sowie ein verändertes Konsumverhalten der EU-Verbraucher*innen werde sich an der Problematik nichts ändern.

Die hier genannten Themen sind lediglich ein kurzes Reinschnuppern in die ersten beiden Kapitel des Berichts. In den Folgekapiteln Ökologischer Landbau, Produktion und Markt, Region, Natur und Umwelt, Wald, Tierschutz und Tierhaltung, Gentechnik, Agrarkultur sowie Verbraucher und Ernährungskultur verbergen sich viele weitere spannende Artikel, nicht nur zum Thema Tierhaltung. Die Autor*innen befassen sich auch mit Alternativen zum Pestizideinsatz in Politik und Praxis, dem drohenden Dammbruch durch das Aushöhlen des Vorsorgeprinzips bei neuen Gentechnikverfahren oder stellen Überlegungen zu möglichen Zusammenhängen zwischen Geschmack und biologischer Vielfalt bei Obst und Gemüse an. Alle Artikel können online gelesen oder als PDF heruntergeladen werden und wem die Klickerei zu viel wird, kann sich auch beim AbL-Verlag ein Printexemplar bestellen. Zudem haben die Autor*innen der zehn Jahresrückblick-Artikel (Entwicklungen & Trends) für das jeweilige Politikfeld je fünf Kernforderungen an die Bundesregierung, aber auch an andere politische Entscheidungsträger*innen sowie Akteur*innen der Zivilgesellschaft, formuliert, die auch als separates Dokument zum Download bereitstehen. Die Herausgeber*innen betonen, dass es an durchdachten Empfehlungen und Konzepten, an positiven Beispielen aus der Praxis, wie es anders gehen könnte, wahrlich nicht mangle. Daher fordert das AgrarBündnis von der Politik mehr Mut und Unterstützung bei der Transformation der Landwirtschaft. „Gegen die Mutlosigkeit“ ist die Pressemitteilung zur Veröffentlichung des Berichts überschrieben, der trotz all der widrigen Umstände „ein Dokument der Zuversicht“ sei – oder zumindest der Unbeirrbarkeit. Mit dem Bericht wollen die Herausgeber*innen den Ball „immer wieder auf den Elfmeterpunkt“ legen. „Schießen (und treffen) müssen andere.“ Die Nachspielzeit jedenfalls laufe. (ab)

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