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07.03.2024 |

Neue DGE-Empfehlungen: Weniger Fleisch, mehr Hülsenfrüchte

Linsen
Die DGE rät zu mehr Hülsenfrüchten auf den Tellern (Foto: Pixabay)

Auf unseren Tellern und in unseren Mägen sollten weniger tierische Produkte landen und dafür mehr Obst, Gemüse und Hülsenfrüchte – das ist nicht nur der menschlichen Gesundheit zuträglich, sondern schützt auch das Klima. Mindestens drei Viertel unserer Ernährung sollte aus pflanzlichen Lebensmitteln bestehen. Das geht aus den überarbeiteten Empfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Ernährung e. V. (DGE) hervor, die am 5. März veröffentlicht wurden und damit pünktlich zum Tag der gesunden Ernährung, der alljährlich am 7. März begangen wird. Die Empfehlungen gelten für gesunde Erwachsene im Alter von 18 bis 65 Jahren, die sich mit einer Mischkost ernähren. „Wenn wir uns gesund ernähren und gleichzeitig die Umwelt schonen wollen, müssen wir unsere Ernährung jetzt ändern“, sagte DGE-Präsident Prof. Dr. Bernhard Watzl. „Wer sich überwiegend von Obst und Gemüse, Vollkorngetreide, Hülsenfrüchten, Nüssen und pflanzlichen Ölen ernährt, schützt nicht nur seine Gesundheit. Eine pflanzenbetonte Ernährung schont auch die Umwelt.“

Die DGE-Empfehlungen „Gut essen und trinken“ sind das Resultat eines mehrjährigen Überarbeitungsprozesses unter Federführung der Arbeitsgruppe „Lebensmittelbezogene Ernährungsempfehlungen“. Sie basieren auf einem mit Unterstützung von Expert*innen unterschiedlicher Fachrichtungen erarbeiteten mathematischen Optimierungsmodell, das nun nicht mehr nur die Nährstoffversorgung in den Blick nimmt, sondern auch die Verringerung von ernährungsmitbedingten Krankheiten sowie die Reduzierung von schädlichen Umwelt- und Klimaeffekten, vor allem Treibhausgasemissionen und Landnutzung. Zu pflanzlichen Lebensmitteln wird nun noch stärker als bisher geraten: Maximal ein Viertel der Ernährung sollte sich noch aus tierischen Produkten speisen. Die überarbeiteten Empfehlungen berücksichtigen nun z. B. täglich zwei Portionen Milch und Milchprodukte – eine Portion weniger als bisher. Bei Fisch bleibt es bei 1-2 Portionen (180 Gramm) wöchentlich. Standen bisher noch 300-600 Gramm Fleisch und Wurst pro Woche auf dem Speiseplan, empfiehlt die DGE nun klar, nicht mehr als 300 Gramm Fleisch und Wurst zu essen. „Aber auch mit der Zufuhr von weniger als 300 g Fleisch pro Woche können die Nährstoffziele erreicht werden“, betonen die Expert*innen. Sie geben zudem den Hinweis, dass zu viel Fleisch von Rind, Schwein, Lamm und Ziege und insbesondere daraus hergestellte Wurst das Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Dickdarmkrebs erhöht.

Obst und Gemüse stellen auch weiterhin die mengenmäßig wichtigste Gruppe dar. 5 Portionen Obst und Gemüse sollten wir täglich verzehren – am besten in ihrer jeweiligen Erntesaison. „Obst und Gemüse liefern reichlich Vitamine, Mineralstoffe, Ballaststoffe sowie sekundäre Pflanzenstoffe. Sie sind gut für die Gesundheit und tragen zur Sättigung bei.“ Hülsenfrüchte wie Erbsen, Bohnen, Linsen sowie Nüsse – die bisher Teil der Gruppe „Obst & Gemüse“ waren, werden mit einer eigenen Empfehlung gestärkt. Hülsenfrüchte sind reich an Eiweiß, Vitaminen, Mineral- und Ballaststoffen sowie sekundären Pflanzenstoffen und mindestens 1 Portion (125 Gramm) pro Woche sollte auf den Teller. Nüsse liefern zusätzlich lebensnotwendige Fettsäuren und sind gut für die Herzgesundheit, weshalb die DGE am Tag zu einer kleinen Handvoll rät. Zudem sind pflanzliche Öle zu bevorzugen, wie etwa Rapsöl und daraus hergestellte Margarine. Empfehlenswert seien außerdem Walnuss-, Lein-, Soja- und Olivenöl, Bei Getreideprodukten wie Brot, Nudeln, Reis und Mehl ist den Expert*innen zufolge die Vollkornvariante die bessere Variante für die Gesundheit. Vollkornlebensmittel sättigen länger und enthalten mehr Vitamine und Mineralstoffe als Weißmehlprodukte und gerade die Ballaststoffe im Vollkorn senken das Risiko für viele Krankheiten. Süßes, Salziges und Fettiges sollten Verbraucher*innen besser im Supermarktregal stehen lassen. Wird zu viel davon gegessen, steigt das Risiko für Übergewicht, Bluthochdruck, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Typ-2-Diabetes.

Die neuen Empfehlungen zeigen eine Idealsituation auf, betont die DGE. Bereits kleine Veränderungen in der täglichen Ernährung seien schon ein Schritt in die richtige Richtung – hin zu einer gesundheitsfördernden und umweltschonenderen Ernährung. Die Umweltschutzorganisation WWF Deutschland begrüßt die neuen Empfehlungen als wichtigen Schritt hin zu einer Ernährung innerhalb der Grenzen unseren Planeten. „Die mit unseren Essgewohnheiten einhergehenden Umweltauswirkungen auf die Erde sind massiv. Insbesondere unser zu hoher Verzehr von tierischen Lebensmitteln befeuert die Klima- und Biodiversitätskrise“, sagte Elisa Kollenda, Referentin für nachhaltige Ernährung beim WWF Deutschland. „Die DGE-Empfehlungen preisen das nun erstmals ein und geben damit wichtige Impulse an die Verbraucherinnen und Verbraucher. Bei Fleisch bewegt sich die DGE auf einem Pfad gen planetare Grenzen. Bei Milchprodukten gilt dies nur eingeschränkt. Bei den Hülsenfrüchten besteht noch deutlich Luft nach oben, was die empfohlenen Verzehrmengen angeht.“ Wichtig sei nun eine Überarbeitung des Qualitätsstandards für die Gemeinschaftsverpflegung. „Damit Veränderungen im Qualitätsstandard dann flächendeckend in Kantinen von Kitas, Schulen oder Seniorenheimen umgesetzt werden, braucht es Verbindlichkeit und finanzielle Rahmenbedingungen. Hier müssen Bund und Länder nun nachlegen.“

15.02.2024 |

Branchenberichte: Bioanbaufläche wächst weltweit um 26 Prozent

bioumsatz
Die Umsätze mit Bio wuchsen (Foto: CC0)

Die ökologisch bewirtschaftete Fläche weltweit und in Deutschland verzeichnet weiterhin Zuwächse und auch der Markt für Bioprodukte verbucht steigende Umsätze, wenn auch die Bilanz in einigen Ländern gemischt ausfiel. Das zeigen zwei Berichte, die Mitte Februar auf der Ökoleitmesse BIOFACH in Nürnberg vorgestellt wurden. Das Forschungsinstitut für biologischen Landbau FiBL und IFOAM – Organics International präsentierten ihren Bericht „The World of Organic Agriculture“ mit Zahlen zum Ökolandbau rund um den Globus, während der Bund Ökologische Lebensmittelwirtschaft (BÖLW) seinen Branchenreport für Deutschland veröffentlichte. Laut dem FiBL/IFOAM-Jahrbuch, das sich auf das Jahr 2022 bezieht und Daten aus 188 Ländern zusammenführt, wurden weltweit rund 96 Millionen Hektar Land ökologisch bewirtschaftet – ein Anstieg um 20 Millionen Hektar oder 26,6 % im Vergleich zu 2021 – ein so deutlicher Zuwachs wie noch nie zuvor. Die 25. Ausgabe des Berichts zeigt, dass nicht nur die ökologisch bewirtschaftete Fläche zunahm, sondern auch die Zahl der Biolandwirt*innen und die Umsätze der Branche. Der Bericht, der neben Statistiken auch Artikel zu aktuellen Entwicklungen in der Biobranche liefert, betont auch die zentrale Rolle des Ökolandbaus für das Erreichen übergeordneter Nachhaltigkeitsstrategien, wie die UN-Nachhaltigkeitsziele (SDGs) oder die Farm to Fork-Strategie der EU: „Angesichts der Tatsache, dass der Ökolandbau zu all diesen Zielen und Strategien substanziell beiträgt, enthält dieses Buch nicht nur Daten zu Flächenanteilen, der Zahl der Erzeuger*innen und Marktkennwerte, sondern zeigt auch die Bedeutung des Ökolandbaus bei der Bekämpfung des Klimawandels, der Sicherung von Lebensmitteln und Ernährung, der Eindämmung des Artensterbens und der Förderung eines nachhaltigen Konsums”, schreiben Dr. Jürn Sanders, der Vorsitzende der Geschäftsleitung von FiBL Schweiz und Karen Mapusua, die Präsidentin von IFOAM, im Vorwort. „Somit unterstreicht es den Beitrag des Ökolandbaus zur Transformation des Ernährungssystems als Ganzes (…) und zu einer nachhaltigen Zukunft.“

Das Länder-Ranking führt weiter Australien mit einer absoluten Biofläche von 53 Millionen Hektar an, wobei schätzungsweise 97 % dieser Fläche extensiv bewirtschaftetes Grünland sind. Die Fläche weitete sich im Vergleich zum Vorjahr um 17,3 Millionen Hektar aus. Auf Platz zwei rangiert Indien mit 4,7 Millionen Hektar Bioanbaufläche, während sich Argentinien mit 4 Millionen Hektar auf Platz 3 vorschob. Es folgen China und Frankreich mit einer Biofläche von jeweils rund 2,9 Millionen Hektar. Deutschland schaffte es im globalen Vergleich 2022 auf Platz 10 mit 1,86 Millionen Hektar. Aufgrund des hohen Flächenanteils Australiens liegt mehr als die Hälfte der weltweiten ökologischen Anbaufläche in Ozeanien (55,2 %). Europa bringt es auf eine Fläche von 18,4 Millionen Hektar oder 19,1 % der Gesamtfläche, gefolgt von Lateinamerika mit 9,5 Millionen Hektar (9,9 %), Asien (8,8 Millionen Hektar bzw. 9,2 %) sowie Afrika (2,7 Millionen bzw. 2,8 %). Der weltweite Anteil des Ökolandbaus an der gesamten landwirtschaftlichen Nutzfläche beträgt nun 2 %, doch in 22 Ländern ist er mit mehr als 10 % deutlich höher. Liechtenstein führte auch 2022 mit einem Bioanteil von 43 % an der Gesamtfläche, gefolgt von Österreich mit 27,5 %. In Estland wurden 23,4 % der Fläche ökologisch bestellt. Im Ranking sind viele Inselstaaten weit vorne vertreten, wie Sao Tome und Principe mit 21,2 % und Dominica mit 11,6 %. In der EU betrug der Anteil der Bioanbaufläche 10,4 %, wohingegen er in anderen Regionen bei unter einem Prozent liegt. Weltweit gab es dem Bericht zufolge im Jahr 2022 rund 4,5 Millionen Bioproduzent*innen – ein Anstieg um 26 % gegenüber 2021, der vor allem auf starken Zuwächsen in Indien beruht. Der Großteil (60,6%) der Bioproduzent*innen leben in Asien, während 21,6 % in Afrika und 10,6 % in Europa beheimatet sind. Die meisten Biobäuerinnen und -bauern sollen in Indien leben (2,5 Millionen), gefolgt von Uganda mit rund 404.246 und Thailand und Äthiopien mit jeweils rund 121.500 Personen. Genaue Zahlen sind hier jedoch schwer zu ermitteln, da einige Länder nur die Anzahl der Unternehmen, Projekte oder Erzeugergemeinschaften melden, sodass die Gesamtzahl der Produzent*innen noch höher liegen könnte.

Der weltweite Markt für Bioprodukte verzeichnete ebenfalls Zuwächse, wenn auch keine üppigen. Der Markt wurde für 2022 auf umgerechnet 135 Milliarden Euro geschätzt – ein Plus von 3 % bzw. 4 Millionen Euro im Vergleich zum Vorjahr. Die USA sind führend mit einem Umsatz von 56,6 Milliarden Euro vor Deutschland und China mit 15,3 bzw. 12,4 Milliarden Euro sowie Frankreich mit 12,1 Milliarden. In einigen Ländern Europas wurde ein Umsatzrückgang verzeichnet, während in Kanada ein Zuwachs von 9,7 % verbucht wurde und der Markt in Japan um 8,4 % zulegte. Die Schweizer Verbraucher*innen gaben am meisten für Biolebensmittel aus (im Schnitt je 437 Euro), während die Menschen in Dänemark 365 Euro und in Österreich 274 Euro für Bio lockermachten. Den Deutschen war Bio 184 Euro wert. Dänemark weist mit 13 % den höchsten Biomarktanteil am gesamten Lebensmittelmarkt auf. In Österreich sind es 11,5 % und in der Schweiz 11,2 %. In einem Kapitel zum globalen Biomarkt setzt Amarjit Sahota von Ecovia Intelligence die nackten Zahlen in Perspektive: „Der Markt für Bioprodukte ist durch die geopolitischen Konflikte und die unsichere Wirtschaftslage negativ beeinflusst worden. Die Umsätzen nahmen 2022 weiter zu, aber das lag teilweise auch daran, dass die Preise für Bioprodukte anzogen“, schreibt er in dem Bericht. „Einige Länder, darunter auch Deutschland und Frankreich, berichteten von sinkenden Verkaufszahlen und Absatzmengen. In den USA und anderen Ländern legten die Umsätze zwar zu, aber in bescheidenem Umfang.“ Sahota beonte, dass die Biobranche auch nicht immun gegen geopolitische Konflikte sei, die zu Unterbrechungen in globalen Lieferketten für Agrarprodukte führten. Jedoch rechnet er damit, dass wieder ein gesundes Wachstum einsetzen werde, sobald sich die Wirtschaftslage verbessert hat.

Der Bund Ökologische Lebensmittelwirtschaft (BÖLW) wartete für Deutschland mit frischen Zahlen für das Jahr 2023 auf. Der Bio-Gesamtumsatz lag bei 16,1 Milliarden Euro – ein Plus von 5 % gegenüber dem Vorjahr. Es gibt mittlerweile 36.535 Bio-Höfe in ganz Deutschland und mit 14,3 % aller Betriebe wirtschaftet jeder siebte Betrieb ökologisch. Die ökologisch bewirtschaftete Fläche erhöhte sich im letzten Jahr um 80.459 Hektar auf nun insgesamt 1.940.301 Hektar – ein Zuwachs von 4,3 % gegenüber 2022 oder eine tägliche Umwandlung in Bioflächen von 307 Fußballfeldern, wie der BÖLW vorrechnet. Der Bio-Anteil an der gesamten Landwirtschaftsfläche stieg so auf fast 11,8 %. Somit ist Deutschland noch weit von dem selbstgesteckten Ziel entfernt, bis 2030 auf 30 % Biofläche zu kommen. Der BÖLW mahnt hier an, dass die Politik Unternehmen, die in den notwendigen Umbau unseres Ernährungssystems investieren wollen, verlässliche Perspektive anbieten müsse. Landwirtschaftsminister Cem Özdemir soll dafür sorgen, dass unnötige Bürokratie bei der Agrarförderung abgebaut werde, da Höfe, die nach dem Bio-Recht wirtschaften, bereits hohe Umweltleistungen erbrächten. Und die Prioritäten bei der Agrarförderung seien ebenfalls anders zu setzen: „Es ist entscheidend, die einseitige Ausrichtung der Forschungsförderung zu beenden und die Bio-Züchtung zu stärken. Sie zielt darauf ab, dass Pflanzen ohne Pestizide auskommen und effizienter mit Dünger umgehen können. Das kommt der gesamten Landwirtschaft zugute“, sagt Peter Röhrig, geschäftsführender Vorstand des BÖLW. „Bundesminister Özdemir hat zugesagt, 30 Prozent der Forschungsmittel für ökologische Forschung bereitzustellen, auch um die Bio-Züchtung zu stärken. Wenn das Forschungsministerium jedoch deutlich mehr Mittel für Gentechnikforschung als für innovative Bio-Züchtung bereitstellt, untergräbt dies die Glaubwürdigkeit der Bundesregierung.“ (ab)

31.01.2024 |

Kritischer Agrarbericht fordert mehr Mut zur Transformation der Landwirtschaft

Tiere
Tierhaltung im Fokus des KAB (Foto: CC0)

Der Januar stand in Berlin wie gewohnt ganz im Zeichen der Landwirtschaft – dieses Jahr noch etwas sichtbarer als ohnehin: Am Berliner Messegelände wehten die Fahnen der „Grünen Woche“ im Wind, Trecker rollten durch die Stadt und 8.000 Menschen demonstrierten in eisiger Kälte unter dem Motto „Wir haben es satt“ für die Agrarwende. Und in ebenso bewährter Tradition erschien auch am 18. Januar der „Kritische Agrarbericht 2024“, der zunächst vormittags auf der Grünen Woche präsentiert wurde und am Abend auf einer Veranstaltung in der Heinrich-Böll-Stiftung mit einigen Autor*innen diskutiert werden konnte. Es ist bereits die 32. Ausgabe, die das AgrarBündnis e.V., ein Zusammenschluss von 26 Organisationen aus Landwirtschaft, Umwelt-, Natur- und Tierschutz sowie Verbraucher- und Entwicklungspolitik, herausbringt. Auf 344 Seiten formuliert der Bericht Kritik am derzeitigen Agrarsystem und zeigt Alternativen auf. „Tiere und die Transformation der Landwirtschaft“ lautet der diesjährige Schwerpunkt, den 24 der 46 Beiträge behandeln. „Die anhaltende gesellschaftliche Diskussion über die Nutztierhaltung hat zu einer großen Verunsicherung in der Landwirtschaft geführt“, betont Frieder Thomas, Geschäftsführer des AgrarBündnis. „Die Zahl der tierhaltenden Betriebe sinkt dramatisch, während die Fleischimporte zunehmen.“

Der Bericht beginnt mit einer nüchternen Bestandsaufnahme. Noch vor zwei Jahren habe Aufbruchstimmung geherrscht. „Der Ball liegt auf dem Elfmeterpunkt. Jetzt muss man nur noch schießen“, war eine beliebte Metapher in der Agrardebatte. Die Zukunftskommission Landwirtschaft hatte ihren Abschlussbericht und das Kompetenzwerk Nutztierhaltung (Borchert-Kommission) seine Empfehlungen für den Umbau der Tierhaltung vorgelegt. „Alles schien gesagt, durchdacht und durchgerechnet zu sein, was es braucht, um Landwirtschaft und Tierhaltung zukunftsfest zu machen“, so die Herausgeber. Die Kompromisse und Vorschläge für eine Transformation des Agrar- und Ernährungssektors kamen von einem denkbar breiten Zusammenschluss unterschiedlichster Interessensgruppen und waren mit tatkräftiger Unterstützung der Wissenschaft erarbeitet worden. Sie hätten als „Steilvorlage für die Politik“ dienen können. Doch den seit fast zwei Jahren andauernden Krieg Russlands gegen die Ukraine nutze vielmehr die Agrarlobby, um Kernpunkte der EU-Agrarreform und die weitere Ökologisierung der Landwirtschaft auszuhebeln. „Was wir derzeit erleben, ist ein agrarpolitisches Rollback auf allen Ebenen, in Brüssel ebenso wie in Berlin.“ Die notwendige Transformation hin zu einem gesunden, gerechten, umweltfreundlichen und für alle Beteiligten auch wirtschaftlich tragfähigen Agrar- und Ernährungssystem drohe an parteipolitischen Querelen, fehlender Finanzierung, aber auch an mangelnder Einsicht in seine gesellschaftliche und ökonomische Notwendigkeit zu scheitern. Die Selbstauflösung der Borchert-Kommission sei symptomatisch für den Stillstand. Verbraucher*innen wünschten sich zwar mehr Tierschutz und eine klimafreundlichere Tierhaltung, greifen aber angesichts enorm gestiegener Lebensmittelpreise im Supermarkt doch zum Billigangebot – „verleitet von Rabattschlachten der vier großen Handelsketten, die ihrer gesamtgesellschaftlichen Verantwortung nicht gerecht werden“. Zudem würden die Bäuerinnen und Bauern von einer Politik im Stich gelassen, die nicht in der Lage sei, den Betrieben bei dem Umbau ihrer Tierhaltung die nötige finanzielle Unterstützung und vor allem Planungssicherheit zu geben.

Zunächst stellt Wolfgang Reimer, Vorsitzender der Agrarsozialen Gesellschaft e.V., einleitend fest, dass die Transformation der Landwirtschaft nur mit den Tieren gelingen kann, nicht ohne sie. Weder die Fortschreibung des bisherigen Trends mit industrieller Tierhaltung noch die Abschaffung der Tierhaltung seien die Lösung. Vielmehr müssten dort, wo es die natürlichen Bedingungen zulassen, der Pflanzenbau und die Tierhaltung wieder stärker verbunden werden, um die natürliche Produktivität zu nutzen. Für Wiederkäuer müsse die Haltung und Zucht auf die optimale Ausnutzung des Raufutters vom Grünland mit deutlich geringeren Kraftfuttergaben ausgerichtet werden. Die Geflügel- und Schweinehaltung dürfe nicht wie bisher weltweit über ein Drittel der Getreideflächen und zwei Drittel des Sojas vom Acker verschlingen, sondern müsse stärker als bisher Reststoffe aus Landwirtschaft und Ernährungsindustrie verwerten und Kulturen, die mit der Erweiterung der Ackerbaufruchtfolgen angebaut werden. Doch letztendlich hätten alle derzeit diskutierten Umbaukonzepte einen Rückgang der Tierhaltung zur Folge. Über die folgenden 11 Kapitel verteilt erstreckt sich ein breitgefächertes Potpourri an Artikeln und Analysen zu den vielen Facetten des Schwerpunktthemas. Xenia Brand, Geschäftsführerin der Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft (AbL), hat die Düngepolitik herausgepickt. Eine sinnvolle Düngepolitik müsse sowohl die Ziele aus dem Gewässer- und Klimaschutz verfolgen, als auch das Verursacherprinzip stärken, fordert sie. Die Gebietsausweisung der Roten Gebiete etwa werde von vielen Landwirt*innen als willkürlich betrachtet, auch aufgrund sich ständig ändernder Gebiete. Das Düngerecht müsse viel stärker als bisher beim Verursacher ansetzen, d. h. es brauche eine einzelbetriebliche Betrachtung und eine verursacherbezogene Adressierung der Stickstoffüberschüsse. Betriebe mit niedrigen Stickstoff- und Phosphorsalden, die deutlich unter den zulässigen Obergrenzen liegen, müssten entlohnt werden. Statt wie bisher auf Sanktionen solle stärker auf Anreize und Honorierungen gesetzt werden. „Für die landwirtschaftlichen Betriebe sollte Planungssicherheit und ein Anreizsystem entstehen, das im Ergebnis zu mehr Gewässer und Klimaschutz führt“, lautet Brands Fazit. Berit Thomsen von der AbL befasst sich mit der Transformation der Tierhaltung für Betriebe mit Weide- und mit Anbindehaltung und zeigt auf, welche ökonomischen, ökologischen und sozialen Aspekte in dem erforderlichen Veränderungsprozess zu berücksichtigen sind. Der Biobauer und Abgeordneter der Grünen im EU-Parlament Martin Häusling hat das Thema Antibiotikaeinsatz in der Tierhaltung gewählt. In der Veterinärmedizin müsse dringend gehandelt werden, um Antibiotikaresistenzen vorzubeugen. Änderungen in den Tierhaltungssystemen, bei der Fütterung und in der Zucht seinen nötig mit besonderer Handlungsdruck beim Umgang mit den sogenannten Reserveantibiotika. Es brauche schnellstens einen Systemwechsel „weg von Haltungsbedingungen, die krank machen, hin zu möglichst geschlossenen, tiergerechten Betrieben“.

Kapitel 2 widmet sich Welthandel und -ernährung. Stig Tanzmann, Referent für Landwirtschaft bei Brot für die Welt, beleuchtet den Hype um alternative Proteine mit Blick auf das Menschenrecht auf Nahrung. Die Produktion von und die Debatte um alternative Proteine und Fleisch­, Fisch­ und Milchersatzprodukte habe erfreulicherweise stark an Fahrt aufgenommen. Bekanntestes Beispiel in Deutschland sei die vegane Neuerfindung der Rügenwalder Mühle. Global gebe es kaum einen Agrar­ oder Ernährungskonzern, der nicht im Feld um alternative Proteine und Fleisch­, Fisch­ und Milchersatzprodukte aktiv sei. Angesichts starker Wachstumserwartungen wird viel Geld in Start­ups gepumpt. Hier gelte es, der drohenden Dominanz der Industrie vorzubeugen. Die Debatte um alternative Proteine dürfe nicht weiter dem Markt überlassen werden, sondern müsse über völkerrechtliche Vereinbarungen in den Vereinten Nationen von staatlicher Seite strukturiert und auf Basis der Menschenrechte reguliert werden. Auch alternative Proteine auf der Basis von Insekten bedürfen einer internationalen Regulierung. Insekten sind wichtige Bestandteile vieler Ernährungssysteme des globalen Südens und es müsse verhindert werden, dass sich Agrar­ und Ernährungskonzerne Insekten patentieren, Bestände ohne einen Vorteilsausgleich nutzen oder der globale Norden den traditionellen Nutzer*innen Hygienestandards aufoktroyiere. Bei dem gesamten Hype dürfe nicht vergessen, dass der Großteil der landwirtschaftlichen Nutzfläche Weideland sei, das sich eben als Futter für Wiederkäuer eigne. Auch die Weltmeere spielten eine bedeutete Rolle bei der globalen Proteinversorgung. Daher dürfte die Welternährungs­ und Tierhaltungsdebatte nicht nur von der westlichen Perspektive geprägt werden, die Kleinfischer:innen, Pastoralisten und nomadische Tierhalter:innen häufig vernachlässige.

Im Beitrag „Die Hähnchen fliegen immer noch nach Afrika“ macht Francisco Marí, Referent für Welternährung, bei Brot für die Welt, auf ein Thema aufmerksam, um das es in letzter Zeit etwas stiller geworden ist, obwohl es nichts an Brisanz eingebüßt hat: der Export von Geflügelfleisch nach Afrika. Da in Europa mit Vorliebe Hähnchenbrust gegessen wird, die nur 15-20% der Tiere ausmacht, besteht quasi eine Überproduktion an Fleisch. Deutschland importiert etwa noch zusätzlich Hähnchenfilets. Die ungeliebten Teile werden in andere EU-Länder, nach Asien oder eben nach Afrika exportiert – Mari nennt dies ein wahres „Hähnchenroulette“ von Fleischimporten und -exporten. 2021 erreichten bis zu 750 Millionen Kilo Hähnchenfleisch aus EU-Ländern Afrika. Dazu kommen 1,5 Milliarden Kilo aus den USA und Brasilien, zum Teil auch aus Argentinien und Kanada. Die Märkte afrikanischer Länder, und zwar nicht mehr nur Westafrika, werden überschwemmt, Produzent*innen vor Ort können mit den Preisen der Billigimporte nicht mithalten und die kleinbäuerliche Tierhaltung wird von lokalen Märkten verdrängt. Unfaire Handelsregeln können den Dumpingimporten nur wenig entgegensetzen. Doch Mari berichtet auch von einigen Ländern, die früh auf strikte Importverbote für Hähnchenfleisch gesetzt haben und erfolgreich Arbeitsplätze in der heimischen Geflügelproduktion schaffen und stabile Preise und Einkommen vor allem für Kleintierhalter:innen garantieren konnten. So wurden in Kamerun seit dem Importverbot 2006 in der Geflügelmast 320.000 Arbeitsplätze geschaffen. In Nigeria sollen laut Agrarministerium über 2 Millionen Menschen in der Hähnchenmast beschäftigt sein, die 600.000 Tonnen produziert. Im Senegal gibt es laut Geflügelverband in dem Sektor 500.000 Arbeitsplätze. „In allen diesen Ländern können inzwischen auf den Märkten die lebend angebotenen Hühner vor Ort geschlachtet und Hühnerteile auf den Märkten frisch erworben werden. Ärmere Menschen können sich also auch ein paar billige Hühnerflügel oder Hälse leisten“, schreibt Mari und zerpflückt damit das Argument von Befürworter*innen einer industriellen Agrarproduktion und Agrarkonzernen, es sei unfair, armen Menschen, die sich das lokale Huhn nicht leisten können, durch Importbeschränkungen die Chance zu nehmen, sich mit billigem Fleisch zu ernähren. Damit es afrikanischen Staaten gelinge, eine eigene Wertschöpfung zur Fleischproduktion aufbauen, statt wertvolle Devisen an ausländische Fleischkonzerne zu zahlen, müssten sie laut Mari handelspolitische Maßnahmen ergreifen, wie es die EU schon lange erfolgreich selbst zum Schutz der eigenen Geflügelindustrie vor Billigimporten tut. Das „Zaubermittel“ heiße Zollquoten. Aber ohne den massiven Abbau der Mastkapazitäten in der EU, ein Ende der bisherigen Massentierhaltung und Förderung tiergerechter und ökologischer Haltungsformen sowie ein verändertes Konsumverhalten der EU-Verbraucher*innen werde sich an der Problematik nichts ändern.

Die hier genannten Themen sind lediglich ein kurzes Reinschnuppern in die ersten beiden Kapitel des Berichts. In den Folgekapiteln Ökologischer Landbau, Produktion und Markt, Region, Natur und Umwelt, Wald, Tierschutz und Tierhaltung, Gentechnik, Agrarkultur sowie Verbraucher und Ernährungskultur verbergen sich viele weitere spannende Artikel, nicht nur zum Thema Tierhaltung. Die Autor*innen befassen sich auch mit Alternativen zum Pestizideinsatz in Politik und Praxis, dem drohenden Dammbruch durch das Aushöhlen des Vorsorgeprinzips bei neuen Gentechnikverfahren oder stellen Überlegungen zu möglichen Zusammenhängen zwischen Geschmack und biologischer Vielfalt bei Obst und Gemüse an. Alle Artikel können online gelesen oder als PDF heruntergeladen werden und wem die Klickerei zu viel wird, kann sich auch beim AbL-Verlag ein Printexemplar bestellen. Zudem haben die Autor*innen der zehn Jahresrückblick-Artikel (Entwicklungen & Trends) für das jeweilige Politikfeld je fünf Kernforderungen an die Bundesregierung, aber auch an andere politische Entscheidungsträger*innen sowie Akteur*innen der Zivilgesellschaft, formuliert, die auch als separates Dokument zum Download bereitstehen. Die Herausgeber*innen betonen, dass es an durchdachten Empfehlungen und Konzepten, an positiven Beispielen aus der Praxis, wie es anders gehen könnte, wahrlich nicht mangle. Daher fordert das AgrarBündnis von der Politik mehr Mut und Unterstützung bei der Transformation der Landwirtschaft. „Gegen die Mutlosigkeit“ ist die Pressemitteilung zur Veröffentlichung des Berichts überschrieben, der trotz all der widrigen Umstände „ein Dokument der Zuversicht“ sei – oder zumindest der Unbeirrbarkeit. Mit dem Bericht wollen die Herausgeber*innen den Ball „immer wieder auf den Elfmeterpunkt“ legen. „Schießen (und treffen) müssen andere.“ Die Nachspielzeit jedenfalls laufe. (ab)

15.01.2024 |

Ungleichheit pur: Superreiche verdoppelten ihr Vermögen seit 2020

Jacht
Superreiche schaden dem Klima (Foto: CC0)

Alle Jahre wieder Mitte Januar ist es soweit: Die Reichen und Mächtigen sowie international führende Wirtschaftsexpert*innenen, Politik*innen und Wissenschaftler*innen kommen im Schweizer Örtchen Davos zum Weltwirtschaftsforum zusammen. Und wie jedes Jahr wartet die Entwicklungsorganisation Oxfam zum Auftakt mit einem Bericht auf, der die globale Ungleichheit ins Rampenlicht rückt und die neusten Zahlen zum Vermögen der Superreichen präsentiert. Und in der Regel enthält er die wenig überraschende Botschaft, dass die Superreichen ihre Vermögen weiter ausbauen konnten und selbst in Krisenzeiten noch profitierten, während der Großteil der Weltbevölkerung kaum über die Runden kommt. Der am 15. Januar veröffentlichte Bericht „Inequality Inc.“ macht hier keine Ausnahme. Er zeigt, dass die fünf reichsten Männer der Welt ihr Vermögen seit 2020 verdoppeln konnten. Dies entspricht einem Gewinn von 14 Millionen US-Dollar pro Stunde – ein ordentlicher Verdienst. Wenn jeder dieser fünf Multimilliardäre täglich 1 Million US-Dollar ausgeben würde, wären sie insgesamt 476 Jahre damit beschäftigt, ihr gemeinsames Vermögen auf den Kopf zu hauen. Allein Amazon-Gründer Jeff Bezos hat seit 2020 sein Vermögen um 32,7 Milliarden US-Dollar vergrößert. Da ließen sich die 5,5 Milliarden, die er 2021 für seinen 4-minütigen Ausflug ins Weltall bezahlte, locker verschmerzen. Gleichzeitig sind weltweit fast fünf Milliarden Menschen im Vergleich zu 2019 ärmer geworden. „Während Milliarden von Menschen die Schockwellen von Pandemie, Inflation und Krieg ertragen müssen, boomen die Vermögen der Milliardär*innen“, erklärte Serap Altinisik, geschäftsführende Vorstandsvorsitzende von Oxfam Deutschland. „Diese zunehmende soziale Ungleichheit stellt Gesellschaften vor immer größere Zerreißproben.“

Die Berechnungen von Oxfam International zum Vermögen der reichsten Menschen der Welt stützen sich auf die World‘s Billionaires List 2020 des Wirtschaftsmagazin Forbes und dessen Echtzeitrangliste „World’s Real-Time Billionaires“ mit Stand November 2023. Am 30. November letzten Jahres besaßen die fünf reichsten Männer der Welt 869 Milliarden US-Dollar, während es im März 2020 noch 340 Milliarden waren – ein Plus von 155%. Die Daten zum Vermögen der ärmsten 60% oder 4,77 Milliarden der Weltbevölkerung stammen aus dem UBS Global Wealth Report 2023 und die Vergleichsdaten zu 2019 aus dem Credit Suisse Global Wealth Databook 2019, die dieselbe Methodologie anwenden. Das gesamte weltweite Vermögen belief sich 2022 auf 454,4 Billionen US-Dollar, woran die ärmeren 60% einen Anteil von 2,23% und damit 10,1 Billionen hatten. 2019 bekamen sie vom 388,7 Billionen-Kuchen 2,26% bzw. 8,8 Billionen US-Dollar ab. Nominal nahm die Summe zwar zu, aber unter Berücksichtigung der Inflation war es real ein Rückgang um 0,2% ihres Vermögens bzw. 20 Milliarden US-Dollar. Während der Vermögenszuwachs der Superreichen die Inflation bei Weitem ausgleichen konnte, werden die Armen noch ärmer. Serap Altinisik betont, dass die wachsende soziale Ungleichheit zudem geschlechtsspezifische und rassistische Diskriminierungen verstärkt, da marginalisierte Gruppen wie Frauen oder BIPOC (Black, Indigenious, und People of Colour) besonders betroffen seien. Zudem untergrabe sie die Demokratie und trage maßgeblich zur Klimakrise bei. „Das muss sich ändern, wir brauchen eine Besteuerung hoher Vermögen, damit auch die Superreichen ihren gerechten Beitrag zum Gemeinwohl leisten.“

Daher fordert Oxfam eine Vermögenssteuer für die Reichsten in Europa. In einer deutschsprachigen Zusammenfassung des Berichts wird aufgezeigt, dass heute gerade einmal 4% der weltweiten Steuereinnahmen aus Abgaben auf Vermögen stammen. Zwischen 1990 und 2017 stieg allerdings die Zahl der Länder, die eine Mehrwertsteuer erheben, von 50 auf mehr als 150. Verbrauchssteuern stellen mit 44% den größten Anteil der globalen Steuereinnahmen dar. Da reichere Menschen einen geringeren Anteil ihres Einkommens für den Konsum aufwenden, belastet diese Art von Steuern sie deutlich weniger als einkommensschwächere Bevölkerungsteile. In Deutschland ist Vermögen besonders ungleich verteilt und wird gleichzeitig unterdurchschnittlich besteuert: Nur etwas mehr als 3% aller Steuereinnahmen stammen aus Abgaben auf Vermögen. Oxfam schätzt, dass eine innerhalb der EU erhobene Vermögenssteuer auf Vermögen über 4,6 Millionen Euro jedes Jahr 285,6 Milliarden Euro (313,7 Milliarden US-Dollar) einbringen könnte. Diese kämen zustande, wenn Vermögen über 5 Millionen US-Dollar (4,6 Millionen Euro) mit 2%, jene über 50 Millionen mit 3% und Milliardäre mit 5% besteuert würden. Allein Deutschland könnte damit jährlich 85,2 Milliarden Euro einnehmen. Also genug, um ein sich plötzlich materialisierendes 60-Milliarden-Haushaltsloch zu stopfen. Menschen mit weniger als 4,6 Millionen Euro Vermögen, also der Großteil der Bevölkerung, wären nicht von der Steuer betroffen, da sie in Deutschland nur etwa 200.000 Menschen und damit gerade einmal 0,24% der Bevölkerung tangieren würde. Solch eine Vermögenssteuer für die Multi-Millionäre und Milliardär*innen der Welt könnte jährlich wichtige Finanzmittel für das Gemeinwohl generieren, betont Oxfam. Diese könnten in die Bekämpfung des Klimawandels, den Ausbau von Bildung, Gesundheitsversorgung und sozialer Sicherung investiert werden.

Mit den Forderungen schließt sich Oxfam der europäischen Bürgerinitiative „Tax the Rich“ an, die von Wirtschaftswissenschaftler*innen, Millionär*innen, Aktivist*innen, Gewerkschafter*innen und Politiker*innen initiiert wurde. Die deutsch-österreichische Millionärin Marlene Engelhorn, eine Nachfahrin von BASF-Gründer Friedrich Engelhorn, hatte angekündigt, 25 Millionen ihres Vermögens „rückverteilen“ zu wollen. Ein noch einzusetzender „Guter Rat für Rückverteilung“ soll darüber entscheiden, was mit den 25 Millionen Euro geschehen soll. Seine 50 Mitglieder sollen einen Querschnitt der Gesellschaft abbilden und nach wissenschaftlichen Kriterien ausgesucht werden und nicht von Engelhorn. Sie selbst macht vor Ort in Davos Werbung für eine gerechtere Besteuerung von Superreichen. „Ich habe Geld einfach, weil ich geerbt habe, weil ich geboren bin“, sagte sie heute im morgendlichen Schneegriesel dem Morgenmagazin. Sie fordert eine grundlegende Veränderung der Strukturen des Steuersystems. „Die Aufgabe liegt bei der Politik, dafür zu sorgen, dass nicht wenige Reiche so wie ich ihr Vermögen einfach mal so verdoppeln können, einfach weil sie das Eigentum an alle Ressourcen haben, weil die Verteilungspolitik versagt hat, sondern die Aufgabe der Politik ist, dafür zu sorgen, dass Ressourcen so verteilt werden, dass am Ende nicht über 50% der Weltbevölkerung – und auch auf nationaler Ebene – durch die Finger schauen, während Menschen wie ich durch Geburt horten können. Das geht nicht und diese Aufgabe muss man ernst nehmen.“ (ab)

09.01.2024 |

Benötigt, begehrt, degradiert: Bodenatlas fordert mehr Bodenschutz

Boden
Böden haben viele Funktionen (Foto: CC0)

Gesunde Böden sind für unsere Ernährung und die Bewältigung der Klima- und Biodiversitätskrise von elementarer Bedeutung, doch der Zustand dieser überlebenswichtigen Ressource verschlechtert sich zunehmend – sei es weltweit, in Europa oder auch Deutschland. Land wird zu einer immer härter umkämpften Ressource und die ungleiche Verteilung von Boden ist nicht selten Ursache für Konflikte und Gewalt. Auf diese Zusammenhänge macht der Bodenatlas 2024 aufmerksam, der am 9. Januar von der Heinrich-Böll-Stiftung, dem Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND) und der Forschungsorganisation TMG - Think Tank for Sustainability veröffentlicht wurde. „Mit diesem Atlas wollen wir auf eine Ressource aufmerksam machen, die bei der Bewältigung vieler globaler Krisen eine Schlüsselfunktion innehat: unsere Böden“, schreiben die Leiter*innen der drei Organisationen im Vorwort der Publikation. Gerade in der internationalen Klimadebatte komme Böden zunehmend eine Schlüsselrolle zu, wodurch sich die Verteilungskonflikte um Land zuspitzten und dabei gerade jene oft den Kürzeren ziehen, deren Lebensunterhalt von Böden abhängt. „Weltweit hungern immer mehr Menschen. Das Ziel, den Hunger bis 2030 zu überwinden, ist in weite Ferne gerückt. Menschen in ländlichen Regionen sind besonders betroffen. Für sie ist der Zugang zu gesunden, fruchtbaren Böden ein zentraler Faktor, um sich aus Hunger und Armut zu befreien“, betonen die Herausgeber*innen.

Der Bodenatlas 2024 liefert auf 50 Seiten viele Zahlen, Daten und Fakten rund um das Thema Boden, unterfüttert mit 53 Grafiken sowie Quellenangaben. 2015 erschien die erste Ausgabe, doch seither hat sich einiges getan. Die ersten Kapitel streichen zunächst die Funktionen des Ökosystems Boden als Grundlage des Lebens heraus. „Ohne Boden und seine unschätzbar wertvollen Eigenschaften ist unser Dasein nicht denkbar“, heißt es dort. Eine Grafik beleuchtet den Artenreichtum unter der Oberfläche, wo sich unzählige Tiere und Mikroorganismen tummeln. „Unter einem Hektar Land leben 15 Tonnen Bodenlebewesen – das entspricht dem Gewicht von 20 Kühen. Eine Handvoll Boden kann mehr Lebewesen enthalten, als Menschen auf der Erde leben“, illustriert der BUND-Vorsitzende Olaf Bandt diese Vielfalt. Zudem dienen Böden als natürliche Wasserspeicher und können so die Auswirkungen der Klimakrise wie Trockenheit, Starkregen und Überschwemmungen abmildern – aber eben nur, wenn sie intakt sind. Böden speichern bis zu 3.750 Tonnen Wasser pro Hektar und geben dieses nach Bedarf wieder ab, erklärt Dr. Imme Scholz, Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung, anlässlich der Veröffentlichung des Atlas. Aber der Flächenfraß für Infrastruktur, Industrie und Wohnraum bedingt, dass Boden als Wasserspeicher verloren geht. „Durch Versiegelung, aber auch industrielle Formen der Landwirtschaft geht die Fähigkeit von Böden, Wasser aufzunehmen, zurück – mit verheerenden Folgen, wie wir aktuell an der Hochwasserkatastrophe in Niedersachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen sehen“, so Dr. Scholz.

Die Kapitel zu Bodendegradation und Desertifikation blicken auf den aktuellen Zustand unserer Böden. Weltweit nimmt die Bodendegradation seit Jahrzehnten zu und circa ein Viertel der globalen, eisfreien Landfläche ist von menschlich verursachter Degradation betroffen. Auf landwirtschaftlich genutzten Flächen ist die Lage noch viel dramatischer: mehr als ein Drittel gelten als degradiert. In der Europäischen Union sind mittlerweile über 60% der Böden geschädigt. Jährlich gehen in der EU bereits jetzt ungefähr eine Milliarde Tonnen Boden aufgrund von Erosion durch Wasser verloren. Geschätzte Kosten: etwa 1,25 Milliarden Euro jährlich durch den Verlust an landwirtschaftlicher Produktivität. Doch auch die extremste Form von Bodendegradation, die Desertifikation, ist längst nicht mehr nur ein Problem in Afrikas Sahelzone oder den Wüsten Asiens – auch in Europa entstehen unfruchtbare, wüste Landschaften. Dr. Scholz verweist darauf, dass die Wüstenbildung durch intensive Landwirtschaft und die Klimakrise zunehme – auch in Europa: „Dreizehn EU-Mitgliedstaaten sind mittlerweile betroffen. Und zwar nicht nur Südeuropa, sondern auch Länder mit gemäßigtem und feuchtem Klima wie Ungarn und Bulgarien.“ Insgesamt sind 23% des Gebiets der EU moderat und 8% hoch bis sehr hoch empfindlich gegenüber Wüstenbildung. Meist ist Spanien im Blick der Berichterstattung, wo immer mehr Wasser für den Anbau von Obst und Gemüse für den europäischen Markt genutzt wird: Zwischen 2010 und 2016 habe sich der Grundwasserverbrauch für die Bewässerung hochprofitabler Produkte wie Erdbeeren, Salat oder Brokkoli von 4% auf 22% mehr als verfünffacht, heißt es im Atlas. Auch in Deutschland weist mindestens ein Fünftel der landwirtschaftlichen Flächen sehr starke Bodenerosion auf.

Im Zentrum des Bodenatlasses stehen auch die Nutzungskonflikte, die sich in puncto Boden ergeben. Ein Kapitel widmet sich dem schon lange diskutierten Dilemma Teller oder Futtertrog und hebt die Vorteile einer auf pflanzlichen Produkten basierten Ernährung hervor, die es ermöglicht, die Flächen für Futtermittel anderweitig zu nutzen und so Umwelt und Klima zu schonen. Auch Land Grabbing, der Kampf um fruchtbares Ackerland, der für die lokale Bevölkerung oft in Vertreibung und Armut mündet, ist Thema des aktuellen Bodenatlas. Hier wird aufgezeigt, dass auch Deutschland an dieser Landnahme beteiligt ist, während hierzulande zugleich der Run auf Land zunimmt, wobei kleine und mittlere Betriebe zunehmend unter die Räder kommen. Eine sich verstärkende Tendenz ist der Kampf um Boden im Namen des Klimaschutzes: „Aufgrund der Fähigkeit von Böden, das Klimagas CO2 zu speichern, und des Flächenbedarfs für Klimaschutzmaßnahmen wie etwa Aufforstung erlangen Böden eine immer größere Bedeutung in der internationalen Klimadebatte“, erklärt Dr. Jes Weigelt, stellvertretender Geschäftsführer von TMG. „Denn Böden sind die größten CO2-Speicher an Land. Gleichzeitig benötigen die geplanten Klimaschutzmaßnahmen aller Länder rechnerisch 1,2 Milliarden Hektar Land – eine Fläche dreimal so groß wie die EU.“ Eine Zunahme an Konflikten um Land und Boden sei daher vorprogrammiert. „Um dem Netto-Null-Ziel näher zu kommen, müssen auf etwa 550 Millionen Hektar beschädigte Ökosysteme restauriert werden – und auf etwa 630 Millionen Hektar wird voraussichtlich eine Änderung der Landnutzung erforderlich“, heißt es im Kapitel „Benötigter, begehrter, umkämpfter Boden“. Dies bedeute etwa die Umwandlung von Agrar- in Forstland, wodurch die bestehenden Landrechte von Bäuer*innen, Hirt*innen und indigenen Gemeinschaften verletzt werden könnten, wie es bei großen Klimaprojekten in der Vergangenheit bereits geschah. „Nur wenn politisch kohärente, auf den Menschenrechten basierende Maßnahmen zu Nutzung und Erhalt der Böden entwickelt werden, können wir diese Konflikte verhindern und gleichzeitig die Klimaziele erreichen“, betont Weigelt.

All das und noch viele weitere Kapitel und Themen sind in der Broschüre enthalten, die auf den Webseiten der Herausgeber heruntergeladen oder als Druckexemplar bestellt werden kann. Doch die Autor*innen bemängeln nicht nur den Status quo, sondern liefern auch Anregungen, was getan werden kann, um die Böden fruchtbar zu halten oder wiederherzustellen. „Agrarökologische Methoden der Landwirtschaft fördern nachhaltig die Bodenfruchtbarkeit“, betont Dr. Scholz. „Agrarökologische Betriebe haben zudem eins gemeinsam: Sie erhöhen die Unabhängigkeit und Resilienz der Betriebe.“ Die Herausgeber mahnen im Vorwort, dass national und international neue Wege zum Schutz und zur nachhaltigen Nutzung von Böden gefunden werden müssen. „Deutschland hat auf dem Nachhaltigkeitsgipfel der Vereinten Nationen im Jahr 2015 in New York die Agenda 2030 mit verabschiedet. Eines der dort beschlossenen Nachhaltigkeitsziele lautet, den neu entstehenden Verlust an fruchtbaren Böden auszugleichen.“ Bei der anstehenden Novellierung des Bundesbodenschutzgesetzes müsse daher das Vorsorgeprinzip und der Schutz vor einer Verschlechterung des Bodenzustands stärker berücksichtigt werden, fordern sie. Olaf Bandt verweist darauf, dass Landwirt*innen besser beim Bodenschutz unterstützt werden sollten. Auch die Gemeinsame Agrarpolitik als Förderinstrument der EU müsse Ökosystemleistungen auch für den Boden zukünftig stärker honorieren. „Nachhaltige Flächennutzung kommt nicht nur der Natur zu Gute, sondern schützt unsere Lebensgrundlage Boden und erhöht die Resilienz gegenüber Auswirkungen der Klima- und Biodiversitätskrise“, so Bandt. (ab)

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