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12.10.2023 |

WHI: Krisen bremsen Kampf gegen den Hunger weiter aus

Ken
Ernährungssysteme werden jungen Menschen oft nicht gerecht (Foto: CC0)

Das Ausmaß des Hungers in der Welt ist nach wie vor enorm und Fortschritte bei der Hungerbekämpfung sind weitgehend zum Erliegen gekommen. Die Auswirkungen einer Vielzahl an Krisen wie der Anstieg der Nahrungsmittelpreise, angetrieben durch den Krieg gegen die Ukraine, die wirtschaftlichen Folgen der Corona-Pandemie, der Klimawandel und immer mehr bewaffnete Konflikte verstärken sich gegenseitig und bewirken, dass etwa 735 Millionen Menschen täglich ihr Recht auf angemessene Nahrung verwehrt wird. Junge Menschen und vor allem junge Frauen sind dabei besonders stark betroffen. Das sind einige der Kernaussagen des Welthunger-Index (WHI) 2023, der am 12. Oktober von der Welthungerhilfe und der irischen Hilfsorganisation Concern Worldwide veröffentlicht wurde. Die multiplen Krisen haben vor allem dazu geführt, dass sich die Ungleichheiten zwischen Regionen, Ländern und Gruppen verschärfen, warnt der Bericht. Während einige Länder sie relativ gut überstanden hätten, seien die Hunger- und Ernährungsprobleme in anderen Ländern schlimmer geworden. „Menschen in Ländern mit niedrigem Einkommen und benachteiligte Gruppen sind besonders betroffen, weil sie kaum noch Kapazitäten zur Bewältigung der verschiedenen Krisen haben“, betont Marlehn Thieme, Präsidentin der Welthungerhilfe. Vor diesem Hintergrund seien die geplanten Kürzungen von Mitteln für die Entwicklungszusammenarbeit und vor allem die humanitäre Hilfe das falsche Signal.

Der WHI wird jedes Jahr von den beiden Organisationen herausgegeben. Die diesjährige Ausgabe wertete Daten zur Ernährungslage von 136 Ländern aus und fasst im Index vier Indikatoren zusammen: Den Anteil der Unterernährten an der Bevölkerung (hier dient die Deckung des Kalorienbedarfs als Messlatte), den Anteil von Kindern unter fünf Jahren, deren Wachstum verzögert ist (zu geringe Körpergröße im Verhältnis zum Alter – ein Anzeichen für chronische Unterernährung), den Anteil der unter Fünfjährigen, die an Auszehrung leiden (zu niedriges Gewicht im Verhältnis zur Körpergröße – ein Beleg für akute Unterernährung) sowie die Sterblichkeitsrate von Kindern in dieser Altersgruppe. Darauf basierend wird der WHI-Wert auf einer 100-Punkte-Skala ermittelt, wobei 100 der schlechteste Wert ist. Die Lage in jedem Land wird als niedrig, mäßig, ernst, sehr ernst oder gravierend eingestuft. Für 125 Länder waren ausreichend Daten vorhanden, um WHI-Werte für 2023 zu berechnen, für 11 Länder konnte aufgrund unvollständiger Datenlage kein Wert berechnet werden und wenn möglich wurden jene Länder vorläufig in die unterschiedlichen Kategorien eingestuft.

Demnach ist in 43 Ländern die Hungersituation nach wie vor ernst oder sehr ernst. Sehr ernst ist sie in neun Ländern: Burundi, Somalia und Südsudan (mit unvollständiger Datenlage) sowie in der Zentralafrikanischen Republik, der Demokratischen Republik Kongo, Lesotho, Madagaskar, Niger und Jemen. Die Zentralafrikanische Republik hat mit 42,3 den höchsten berechenbaren WHI-Wert aller Länder im Ranking. Dort waren 48,7% aller Menschen im Zeitraum 2020–2022 unterernährt – fast die Hälfte der Bevölkerung kann also dauerhaft ihren Mindestbedarf an Kalorien nicht decken. Eines von zehn Kindern erlebt seinen 5. Geburtstag nicht und 40% sind wachstumsverzögert. Das Land hat in den letzten Jahren enorm unter Konflikten gelitten, die Bevölkerung wurde vertrieben, litt an weitverbreiteter Armut und Unterbeschäftigung, wodurch der Hunger verstärkt wurde. Der Bericht gibt für weitere 37 Länder den Schweregrad des Hungers mit mäßig an. Besorgniserregend ist, dass sich vielerorts die Lage verschlimmert hat: In 18 Ländern mit mäßigen, ernsten oder sehr ernsten WHI-Werten für 2023 nahm der Hunger im Vergleich zum Referenzjahr 2015 zu. „Der Welthunger-Index (WHI) offenbart, dass wir nach jahrzehntelangen Fortschritten in der Reduzierung des weltweiten Hungers seit 2015 kaum noch vorangekommen sind. Da sich die Auswirkungen der Krisen vervielfachen und verschärfen, leiden immer mehr Menschen unter extremem Hunger. Prognosen zufolge wird sich die Situation im Laufe des Jahres sogar weiter verschlechtern“, heißt es im Vorwort.

In 14 Ländern mit mäßigen, ernsten oder sehr ernsten WHI-Werten für 2023 sind die Fortschritte weitgehend zum Stillstand gekommen – ihre WHI-Werte für 2023 sanken nur um unter 5% gegenüber 2015. Der globale WHI-Wert für 2023 liegt bei 18,3, was als mäßig gilt, jedoch nicht einmal einen Punkt unter dem Wert von 19,1 für 2015 liegt. Beim aktuellen Tempo werden 58 Länder bis 2030 kein niedriges Hungerniveaus erreichen können. „Während das Jahr 2030 näher rückt und nur noch sieben Jahre verbleiben, um die Ziele für nachhaltige Entwicklung zu erreichen, wird fast einer Dreiviertelmilliarde Menschen ihr Recht auf angemessene Nahrung verwehrt“, schreiben Mathias Mogge, Generalsekretär der Welthungerhilfe und David Regan, der Vorstandsvorsitzende von Concern Worldwide, im Vorwort zum Bericht. „Hunger ist nicht neu, genauso wenig wie seine Ursachen. Neu ist, dass wir jetzt in einer Zeit leben, die als „Polykrise“ bezeichnet wird: Die sich verstärkenden Auswirkungen des Klimawandels, Konflikte, wirtschaftliche Schocks, die Pandemie und der Russland-Ukraine-Krieg haben nicht nur die sozialen und wirtschaftlichen Ungleichheiten verschärft, sondern auch die erzielten Fortschritte bei der Reduzierung des Hungers in vielen Ländern verlangsamt oder gar umgekehrt“, führen sie aus. Es gibt jedoch auch positive Beispiele in den grauen Zahlen: Sieben Länder, deren WHI-Werte für 2000 einen gravierenden Hungerzustand verzeichnete – Angola, Äthiopien, Niger, Sambia, Sierra Leone, Somalia und Tschad –, machten Fortschritte. Zudem haben sieben Staaten ihre WHI-Werte zwischen 2015 und 2023 um fünf oder mehr Punkte gesenkt: Bangladesch, Dschibuti, Laos, Mosambik, Nepal, Timor-Leste und Tschad.

Der diesjährige Welthunger-Index befasst sich mit der wichtigen Rolle, die die Jugend weltweit bei der Verbesserung der Ernährungssysteme spielen könnte und zeigt, dass diese aktuell vor allem jungen Menschen nicht gerecht werden. In einem Gastbeitrag schreiben Wendy Geza und Mendy Ndlovu, zwei Wissenschaftlerinnen aus Südafrika, aus der Perspektive der jungen Generation: „Wir, als junge Menschen in unseren 20ern, sind uns der Tatsache bewusst, dass wir nicht nur unter dem Versagen der derzeitigen Ernährungssysteme leiden, sondern diese samt der sich abzeichnenden Herausforderungen erben werden. Das bedroht unser Recht auf Nahrung sowie andere Menschenrechte wie Gesundheit, Bildung und ein würdiges Leben.“ Auf der Welt leben derzeit ca. 1,2 Milliarden junge Menschen, ein historischer Höchstwert. Die Mehrheit von ihnen lebt in Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen in Südasien, Ostasien und Afrika. Dort betrachtet die Jugend oft die Landwirtschaft als unattraktiv und unrentabel. Mangelnde Unterstützung, Innovation und Ausbildung sowie die Überzeugung, dass die Landwirtschaft keine Möglichkeiten für Wohlstand oder Selbstverwirklichung bietet, führen zu geringem Interesse an ihr. Für eine stärkere Beteiligung junger Menschen an Ernährungssystemen ist Geza und Ndlovu zufolge daher ein ganzheitlicher Ansatz notwendig, der auf eine allumfassende Verbesserung der ländlichen Wirtschaft, des sozialen Wohlergehens und von Dienstleistungen im ländlichen Raum ausgerichtet ist. „Es müssen unterstützende Umfelder für Jugendliche geschaffen werden, damit sie Karrieren und Interessen in Ernährungssystemen verfolgen können.“ Ein weiteres Problem sei die mangelnde Beteiligung von Jugendlichen an Entscheidungsprozessen, die ihre Zukunft betreffen. Der Anteil junger Leute in formellen Entscheidungsgremien sei verschwindend gering und das Einbringen ihrer Perspektiven habe in der politischen Umsetzung kaum Wirkung gezeigt. „Als Erbende der gegenwärtigen Ernährungssysteme verdienen wir ein stärkeres Mitspracherecht bei deren Umgestaltung, damit sie unseren aktuellen und zukünftigen Bedürfnissen gerecht werden“, fordern die beiden Autorinnen. (ab)

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