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25.01.2023 |

Kritischer Agrarbericht: Landwirtschaft und Ernährung krisenfest machen

KAB23
Der Kritische Agrarbericht 2023 (Foto: CC0)

Alle Jahre wieder im Januar ist es soweit: Wenn die Grüne Woche in Berlin und die „Wir haben es satt-Demo“ im Kalender stehen, kommt auch eine neue Ausgabe des „Kritischen Agrarberichts“ frisch aus der Presse. Mit dem soeben erschienenen „KAB 2023“ ist es nun die 31. Ausgabe des Jahrbuches, das vom AgrarBündnis e.V., einem Zusammenschluss von derzeit 26 Organisationen aus Landwirtschaft, Umwelt-, Natur- und Tierschutz sowie Verbraucher- und Entwicklungspolitik, herausgegeben wird. Auf 352 Seiten liefert die Publikation, die auch kapitelweise online abrufbar ist, eine Bestandsaufnahme der aktuellen politischen Debatten rund um Landwirtschaft und Ernährung, eine gesalzene Kritik am derzeitigen Agrarsystem, aber auch gute und hoffnungsstiftende Konzepte, Ideen und gelungene Leuchtturmprojekte aus der Praxis, die zeigen, wie es besser laufen könnte. Im Fokus der diesjährigen Ausgabe steht das Thema „Landwirtschaft & Ernährung für eine Welt im Umbruch“. 29 der insgesamt 46 Beiträge sind diesem Schwerpunkt gewidmet, der sich mit den multiplen Krisen beschäftigt, mit der die Welt und die Landwirtschaft gerade zu kämpfen haben. „Klima, Corona, Krieg, Welthunger, Artensterben: Die Landwirtschaft und das gesamte Ernährungssystem müssen nicht nur nachhaltiger werden, sondern auch resilienter, krisenfester“, erklärt Frieder Thomas, Geschäftsführer des Bündnisses. „Agrarindustrielle Methoden mit ihren ökologischen Kollateralschäden, der hohen Abhängigkeit von fossilen Energien und globalen Lieferketten sind dabei eher ein Problem als Teil der Lösung. Gebraucht werden neue Strukturen – dezentral, regional, vielfältig –, aber auch das Wissen um nachhaltige Produktionsmethoden.“ Beides müsse politische Unterstützung finden.

Den Auftakt zum Themenfokus bildet Benny Haerlin, Leiter des Berliner Büros der Zukunftsstiftung Landwirtschaft und einst Mitglied im Aufsichtsrat des Weltagrarberichts, mit seinem einleitenden Kapitel „Die Party ist vorbei – Aufbruch ins Ungewisse“, einem Überblick zu Landwirtschaft und Ernährung in Zeiten von Krieg und Dauerkrise. „Die Krise als das neue Normal wird die Menschen, die gegenwärtig auf diesem Planeten leben, wohl für den Rest ihres Lebens begleiten: ein Dauerzustand der Instabilität des Ökosystems Erde und der globalen menschlichen Gesellschaften“, so seine wenig rosige Prognose. „Die Welt ist aus den Fugen geraten und wir können nicht vorhersagen, auf welches neue Gleichgewicht sie zustrebt – falls ‚Gleichgewicht‘ dafür noch der passende Begriff ist.“ Die Menschheit habe in mehreren Bereichen „den ökologischen Gleichgewichtskorridor, den safe operating space des Holozäns, bereits überschritten“, wie schon Rockström und Co 2009 in einem wegweisenden Artikel in „Nature“ verkündeten. Die Dauerkrise sei vielschichtig: ökologisch, geopolitisch, wirtschaftlich, kulturell und erkenntnistheoretisch. Die Frage sei nicht mehr, „ob sie kommt, sondern wie zivilisiert wir als Gesellschaften mit ihr umgehen werden“, konstatiert Haerlin. Sein „Kleines Krisen-Panoptikum“ listet eine Krisen-Top-Ten und führt sie im Artikel weiter aus. Die industrielle wie die bäuerliche Landwirtschaft, inklusive der kleinbäuerlichen Subsistenzlandwirtschaft, gehe denkbar schlecht gerüstet in die aufziehenden Krisengewitter. „Während ein Teil der Menschheit mit einer absurden Mischung aus fossiler und technologischer Übersteuerung und Abhängigkeit zu viel vom Falschen produziert und konsumiert, kann ein anderer sich nur schwer selbst ernähren, weil es an Frieden, Sicherheit, Menschenrechten, besonders für Frauen, sowie an minimaler Ausbildung, Technik und regionalen Marktzugängen fehlt.“ Haerlin endet dennoch mit einem Lichtblick: „Langfristig wegweisend für neue und innovative Trampelpfade durch die Dauerkrisen sind Gemeinden, die ihre Energie schon heute gemeinsam vor Ort erzeugen und verteilen und daran gemeinschaftlich verdienen.“ Ähnliches scheine in vielen Varianten auch machbar bei Gesundheit, Pflege und Altenversorgung sowie bei der lokalen und regionalen Erzeugung und Versorgung mit Lebensmitteln, z.B. in Form von solidarischer Landwirtschaft, Mikrofarmen oder Erzeuger-Verbraucher- Genossenschaften. „Was in akuter Not und Katastrophen an praktischer Solidarität, Gemeinsamkeit und Zusammenhalt möglich ist, haben wir in den letzten Jahren immer wieder eindrucksvoll bewiesen. Das Prinzip ‚Freiwillige Feuerwehr‘ funktioniert.“

Im Anschluss folgt ein bunter Strauß lesenswerter Artikel, die 11 Oberkapiteln zugeordnet sind. Das erste und umfangreichste davon widmet sich der „Agrarpolitik und sozialen Lage“. Daniela Wannemacher, Leiterin Team Landnutzung beim BUND, und Phillip Brändle, Referent für Agrarpolitik bei der Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft, blicken auf die Gemeinsame Europäische Agrarpolitik (GAP) und kritisieren, dass die EU-Agrarreform den ökologischen und sozialen Herausforderungen nicht gerecht werde. Am 1. Januar begann eine neue Förderperiode und bis 2027 sollen alleine in Deutschland rund 30 Mrd. € EU-Fördermittel in die Landwirtschaft gesteckt werden. Neu eingeführt wurde etwa das Instrument der Öko-Regelungen (Eco Schemes), womit rund 25 % der Gelder aus der Ersten Säule an konkrete Leistungen, v.a. im Bereich des Biodiversitätsschutzes, gebunden sind. „Zur Umsetzung der Brüsseler Vorgaben haben die EU-Mitgliedstaaten nationale Strategiepläne erarbeitet, so auch Deutschland“, erklärt Brändle in der Pressemitteilung des AgrarBündnis. Doch diese Reform und ihre nationale Umsetzung reichten nicht aus, um die Ziele im Bereich des Umwelt-, Klima- und Tierschutzes zu erreichen und für eine gerechte Verteilung der Gelder zu sorgen. Zudem funkte der Krieg Russlands gegen die Ukraine dazwischen. „Minister Özdemir gab in der Folgezeit, gemeinsam mit den Bundesländern, dem Druck der Agrar- und Ernährungsindustrie nach und weichte die GAP zugunsten der ‚Ernährungssicherung‘ auf. So wurde die Fruchtfolgeregelung auf 2024 vertagt und die Verpflichtung zur Stilllegung von mindesten 4 % der Ackerfläche unter Berücksichtigung von Landschaftselementen im Zuge der Konditionalität ebenfalls 2023 ausgesetzt, sodass statt Brachflächen bestimmte Kulturen angebaut werden konnten, obwohl von wissenschaftlicher Seite mehrfach deutlich gemacht worden sei, dass der zu erwartende Effekt für die Produktion von Lebensmitteln marginal sei, schreiben die beiden Autor*innen. Brändle kritisierte, dass Özdemir die Chance, die GAP deutlich gerechter und ökologischer zu machen, bisher nicht genutzt habe. „Damit muss 2023 Schluss sein.“ Özdemir müsse baldigst einen praxistauglichen Fahrplan vorlegen, wie und in welchem Zeitraum die Bundesregierung aus den pauschalen Flächenprämien aussteigen werde. „Spätestens ab 2027 muss die GAP vollständig auf ein System zur Honorierung von Umwelt- und Tierwohlleistungen umgestellt werden, welches sich betriebswirtschaftlich lohnt und zudem die Fördergelder zwischen den Betrieben gerecht aufteilt.“ Das 1. Oberkapitel enthält u.a. auch eine Analyse der Carbon-Farming-Initiative der EU-Kommission, widmet sich der zunehmenden Bedeutung der Nebenerwerbslandwirtschaft für die agrarstrukturelle Entwicklung in Deutschland und beleuchtet das Tabu-Thema Physische Erkrankungen, Burnout und Depression in der Landwirtschaft und die Folgen.

Im 2. Kapitel „Welthandel und -ernährung“ zieht Stig Tanzmann, Referent für Landwirtschaft bei Brot für die Welt, die traurige Bilanz, dass eine Welt ohne Hunger in weite Ferne rückt und die Ziele der Agenda 2030 nicht mehr zu erreichen sind. Zwar habe der “Angriff Russlands auf die Ukraine und seine Folgen für das Welternährungssystem die Hungerthematik sprichwörtlich mit aller Gewalt zurück ins Zentrum der politischen und medialen Aufmerksamkeit gebracht“, da Russland ganz gezielt von Beginn an Hunger und Getreide als Waffe nutzte. Es werde nun endlich darüber berichtet, dass bis zu 828 Millionen Menschen hungern, doch Politik und Medien beschränkten sich dem Autor zufolge in ihrer Analyse der Lage allzu häufig auf den Krieg und seine Folgen. Dabei gerate aus den Augen, dass Hunger und Mangelernährung komplexe, gewachsene globale Probleme sind und schon vor Kriegsbeginn bis zu 811 Millionen hungerten. Die Corona-Pandemie habe bereits die Anfälligkeit internationaler Lieferketten offenbart, doch als Antwort habe man vor allem die Wiederherstellung der langen, von multinationalen Konzernen dominierten Agrarwertschöpfungsketten angestrebt. „Nicht im Fokus stand aber die Stärkung der Ernährungssouveränität und der Unterstützung lokaler Produzent:innen“, bemängelt Tanzmann. Das Recht auf Nahrung habe in der Debatte keine Rolle gespielt. Der Krieg sei nun „eine weitere Krisenschicht, die sich drastisch verschärfend auf ein sich seit Längerem bereits in der Krise befindendes Welternährungssystem“ lege. Auf internationaler und UN-Ebene habe es eher Rückschritte gegeben, als die „dringend notwendige Transformation des Agrar- und Ernährungssystems einzuleiten“ – angefangen mit dem UN Food Systems Summit (UNFSS) im Herbst 2021, der mit seinem diffusen Multistakeholder-Ansatz das Recht auf Nahrung geschwächt und „zur Fragmentierung der Welternährungsarchitektur“ beigetragen habe, indem er den UN-Ausschuss für Welternährung (CFS) in seiner Bedeutung herabgesetzt habe. Im Weiteren skizziert Tanzmann die aktuellen Entwicklungen und Reaktionen, internationale Konferenzen und Ereignisse seit Kriegsbeginn und benennt Versäumnisse bei der Lösung des Welthungerproblems. Die Lösung der Krise liege hingegen auf dem ‚Acker um die Ecke‘ und „in der Solidarität zwischen der ländlichen und urbanen Bevölkerung.“ Die anderen beiden Artikel in Kapitel 2 beschäftigen sich damit, wie Klimaschutz in der Landwirtschaft die Ernährungssicherheit fördern kann und wie die Abhängigkeit von synthetischen Düngemitteln diese und andere globale Ernährungskrisen anheizte.

Zahlreiche weitere spannende Artikel verbergen sich in den restlichen neun Kapiteln, die den Themen Ökologischer Landbau; Produktion und Markt; Regionalentwicklung; Natur und Umwelt; Wald; Tierschutz und Tierhaltung; Gentechnik; Agrarkultur sowie Verbraucherschutz und Ernährungskultur gewidmet sind. Wer nicht zwischen den Artikeln hin- und herklicken möchte, kann sich beim AbL-Verlag ein gedrucktes Exemplar des Kritischen Agrarberichts bestellen. Die Autor:innen der zehn Jahresrückblicke (Entwicklungen & Trends) im Bericht haben zudem für das jeweilige Politikfeld je fünf Kernforderungen an die Bundesregierung, aber auch an andere politische Entscheidungsträger:innen sowie Akteur:innen der Zivilgesellschaft, formuliert, die zudem als separates Dokument „10 x 5 Kernforderungen an die Politik“ zum Download bereitstehen. So fordern die Autor*innen des Jahresrückblicks in Kapitel 3 etwa eine Stärkung des Ökolandbaus, denn dieser beweise gerade in Krisenzeiten seine Stärken: Durch geringere Abhängigkeit von externen Betriebsmitteln, die Schaffung besserer Bedingungen für die Artenvielfalt und in der Regel einen Schwerpunkt auf Regionalität trage er zu Resilienz und Nachhaltigkeit unseres Ernährungssystems bei. Die Bundesregierung müsse erstens Bio in der Außer-Haus-Verpflegung stärken mit mindestens 50 % Bio in öffentlichen Kantinen, Mensen und Klinikküchen. Zweitens brauche es, um einen Ökoflächenanteil von 30 % zu erreichen, auch eine staatliche Informationskampagne für Verbraucher:innen. Drittens bedarf es des Ausbaus von Forschung, Aus- und Weiterbildung im Ökolandbau sowie viertens der Einbindung aller Ministerien im Rahmen der neuen Bio-Strategie, zum Beispiel des Wirtschaftsministeriums mit auf Nachhaltigkeit fokussierten Förderprogrammen. Fünftens müsse die Wahlfreiheit für Essen ohne Gentechnik durch ein starkes EU-Gentechnikrecht weiterhin abgesichert bleiben. Antje Kölling von Demeter weist darauf hin, dass 2023 ein entscheidendes Jahr für alle sei, die auch künftig Lebensmittel ohne Gentechnik anbauen und essen wollen, da die EU-Kommission an einem Gesetzesentwurf zu neuen Gentechnikverfahren (NGT) in der Landwirtschaft arbeite. „Es darf jedoch keine Gentechnik durch die Hintertür geben“, fordert Kölling. „Wahlfreiheit und Vorsorgeprinzip müssen weiterhin auch für neue Gentechnikverfahren gelten!“ (ab)

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