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20.02.2019 | permalink
IPES-Food: Vision für ein nachhaltiges Ernährungssystem in Europa
Führende Agrar- und Ernährungsexperten haben ihre Vision für nachhaltige europäische Lebensmittelsysteme vorgestellt – die Gemeinsame Lebensmittelpolitik. Sie fordern eine grundlegende Reform der Ernährungs- und Landwirtschaftssysteme der EU, um den Klimawandel zu bekämpfen, das Artensterben zu stoppen, Fettleibigkeit zu verringern und eine zukunftsfähige Landwirtschaft zu ermöglichen. Wie das gelingen kann, zeigt IPES-Food – ein internationales Expertenteam, dem auch mehrere am Weltagrarbericht beteiligte Wissenschaftler angehören – in einem am 7. Februar veröffentlichten Bericht. Er ist das Ergebnis eines dreijährigen partizipativen Prozesses, an dem mehr als 400 Landwirte, zivilgesellschaftliche Akteure, Wissenschaftler und politische Entscheidungsträger mitwirkten. Zudem flossen zahlreiche Studien und Bewertungen sowie aktuelle Empfehlungen der wissenschaftlichen EU-Gremien ein. IPES-Food schlägt eine „Gemeinsame Lebensmittelpolitik“ vor – einen Politikrahmen, der alles Handeln auf Nachhaltigkeit neu ausrichtet, die Fahrtrichtung für das gesamte Lebensmittelsystem festlegt und alle Politiken zusammenbringt, die die Erzeugung, Verarbeitung, Verteilung und den Konsum von Lebensmitteln betreffen. „Eine Gemeinsame Lebensmittelpolitik kann den Übergang zu nachhaltigen Ernährungssystemen auslösen und zwar auf eine Art und Weise, wie es die GAP, als Gemeinsame Agrar-Politik, nicht kann“, sagte der Hauptautor und Vorsitzende von IPES-Food, Olivier De Schutter.
Die Experten argumentieren, dass es eine Gemeinsame Lebensmittelpolitik brauche, um Zielkonflikte und kostspielige Ineffizienzen zu beenden. Politiken, die sich auf Lebensmittelsysteme in Europa auswirken – Landwirtschaft, Handel, Lebensmittelsicherheit, Umwelt, Entwicklung, Forschung, Bildung, Steuer- und Sozialpolitik, Marktregulierung, Wettbewerb und viele andere mehr – seien über viele Jahre ad hoc entwickelt worden. „Das Resultat ist, dass Strategien gegen Fettleibigkeit neben Agrarhandelspolitiken existieren, die Junkfood billig und reichlich verfügbar machen. Die GAP bietet Prämien für Junglandwirte, neben einem Agrarsubventionsmodell, das die Landpreise nach oben treibt und den Zugang zu Land untergräbt. Und wir haben strenge Umweltstandards, während die Beratungsdienste, die die Landwirte benötigen würden, um diese zu erfüllen, unterfinanziert sind“, erklärt De Schutter. „Eine Gemeinsame Lebensmittelpolitik kann diesen kostspieligen Widersprüchen ein Ende setzen, indem sie die Wurzel des Problems angeht: die Art und Weise, wie wir politische Maßnahmen festlegen und Prioritäten in Lebensmittelsystemen setzen.“ Zudem ist laut den Autoren eine Reform nötig, um soziale Innovation und Basisinitiativen einzubeziehen. Auf lokaler Ebene gibt es zahlreiche Experimente, von Solidarischer Landwirtschaft über Bauernmärkte bis hin zu lokalen Ernährungsräten und urbanen Lebensmittelpolitiken. Diese Initiativen sind oft sehr nachhaltig, verringern die Umweltauswirkungen und bringen Erzeuger und Verbraucher näher zusammen. Doch sie erhalten kaum Unterstützung und erfüllen meist nicht die Förderkriterien der GAP.
Der Bericht enthält 80 kurz-, mittel- und langfristige Reformvorschläge, mit denen fünf Ziele erreicht werden sollen: Die Gewährleistung des Zugangs zu Land, Wasser und gesunden Böden; der Wiederaufbau klimaresistenter, gesunder Agrarökosysteme; die Förderung einer ausreichenden, gesunden und nachhaltigen Ernährung für alle; der Aufbau fairerer, kürzerer und sauberer Lieferketten sowie die Ausrichtung des Handels auf nachhaltige Entwicklung. „Es kann nicht nur von Landwirten erwartet werden, dass sie auf ein neues Produktionsmodell umstellen. Wir müssen auch Schritte unternehmen, um den Zugang zu Land zu garantieren, um regionale Verarbeitungsstrukturen wiederaufzubauen, den Zugang zu Märkten zu erleichtern und eine Veränderung der Konsumgewohnheiten anzustoßen“, erklärte De Schutter.
IPES-Food fordert die Einrichtung eines Vizepräsidenten der Europäischen Kommission für nachhaltige Lebensmittelsysteme und einer interfraktionellen Arbeitsgruppe „Lebensmittel“ im EU-Parlament, um die sektorbezogenen Politiken zu überwachen und zu harmonisieren. Zudem müsse die EU die Vorschriften für die öffentliche Beschaffung und die Mehrwertsteuer reformieren und die Vermarktung von Junkfood einschränken, um Anreize für eine gesunde und nachhaltige Ernährung zu setzen. EU-Mitgliedstaaten sollten nur GAP-Gelder erhalten, wenn sie verpflichtende Pläne für gesunde Ernährung entwickeln, die öffentliche Beschaffung, Stadtplanung, Steuer- und Sozialpolitik, Marketing und Ernährungserziehung einbeziehen.
Nach Ansicht der Experten muss die EU-Politik dringend auf agrarökologische Systeme mit geringem Input ausgerichtet werden. Sie schlagen die Einführung einer EU-weiten „Agrarökologieprämie“ als Basis für die GAP-Zahlungen vor, Anreize für mehr stickstoffbindende Leguminosen, Weiden und Agroforstwirtschaft, die Einrichtung unabhängiger landwirtschaftlicher Beratungsdienste, die Förderung des Wissensaustauschs zwischen Landwirten sowie letztendlich ein Ende der routinemäßigen Verwendung von Chemikalien. Zudem sollten Lebensmittelimporteure zur Verantwortung gezogen werden können, wenn es in ihren Lieferketten zu Abholzung, Land Grabbing oder Rechtsverletzungen kommt. IPES-Food will auch mehr Unterstützung für Initiativen, die Landwirte und Verbraucher miteinander verbinden („kurze Lieferketten“), mehr Verarbeitung und Wertschöpfung auf lokaler Ebene, regionale Ernährungsräte und städtische Lebensmittelpolitik. „Letztlich ist dieser Bericht eine Aufforderung zum Handeln“, sagte De Schutter. Er forderte die europäischen Institutionen auf, die Herausforderung anzunehmen, mit allen Akteuren des Lebensmittelsystems zusammen eine Ernährungspolitik für Europa fertigzustellen, zu verabschieden und umzusetzen. „Die Gemeinsame Lebensmittelpolitik bietet einen Plan B für Europa: Es geht darum, öffentliche Politik für das Gemeinwohl zurückzuerobern und das Vertrauen in das europäische Projekt wiederherzustellen.“ (ab)