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03.07.2023 |

HLPE fordert Reduzierung der Ungleichheit in Ernährungssystemen

Vietn
Bäuerin in Vietnam (Foto: CC0/Pixabay)

Die Welt ist gekennzeichnet durch enorme Ungleichheiten, die gerade in Ernährungssystemen besonders stark ausgeprägt sind: Das bereits alarmierende Ausmaß an Hunger und Unterernährung verschärft sich weiter und globale und nationale Ziele in diesem Bereich drohen in weite Ferne zu rücken, wenn Ungleichheiten nicht endlich verringert werden. Das ist die Kernbotschaft eines Berichts, der vom Hochrangigen Expertengremium für Ernährungssicherheit und Ernährung (HLPE) des Welternährungsausschuss (CFS) verfasst wurde. Das CFS ist das inklusivste Gremium auf UN-Ebene, das sich mit der Welternährung befasst, da ihm neben Vertreter*innen von Regierungen, internationalen und UN-Organisationen auch Akteure aus Zivilgesellschaft, Wissenschaft und dem Privatsektor angehören. Der HLPE liefert dem CFS die wissenschaftliche Expertise und Handlungsempfehlungen und legte 2019 einen vielbeachteten Bericht zu Agrarökologie vor. Der neueste und 18. Themenbericht des Gremiums „Reducing inequalities for food security and nutrition” wurde am 15. Juni auf einer Veranstaltung in Rom vorgestellt. „Er zeigt, dass die Lage im Bereich Ernährungssicherheit und Ernährung von Region zu Region sehr unterschiedlich aussieht, aber keine einzige Region ist frei von jeglichen Formen der Mangelernährung, d.h. jede Region hat zumindest mit einem Aspekt davon zu kämpfen. Aber innerhalb der Regionen gibt es große Unterschiede“, erklärte Bhavani Shankar, Professor für Ernährung und Gesundheit an der Universität Sheffield, der bei der Erstellung des Berichts die Federführung innehatte. „Die Ungleichheiten innerhalb von Ländern sind enorm, in vielen Fällen nehmen sie sogar zu und das ist ein großer Teil des Problems. Und jene Gruppen, die in puncto Ernährungssicherheit am schlechtesten dastehen, sind Frauen, Menschen mit geringerer Bildung, indigene Völker und arme Menschen“, sagte er in Rom. Der Vorsitzende des HLPE, Bernard Lehmann, schreibt im Vorwort des Berichts: „Ungleichheiten bei Ernährungssicherheit und Ernährung bestehen im gesamten Ernährungssystem, vom Hof bis zum Teller. Dazu gehören der ungleiche Zugang zu Ressourcen für die Lebensmittelproduktion und zu Marktchancen für Kleinbauern, ungleiche Machtverhältnisse zwischen großen Lebensmittelkonzernen und Erzeugern sowie der ungleiche Zugang zu angemessenen und nahrhaften Lebensmitteln für Verbraucher.“

Der Bericht umfasst sechs Kapitel, wovon das erste den konzeptionellen Rahmen liefert. Die Autor*innen erklären, warum der Kampf gegen Ungleichheit wichtig ist. Ungleichheit bedrohe Fortschritte im Bereich Ernährungssicherheit und Ernährung. Zudem schreiben globale Ziele wie die UN-Nachhaltigkeitsziele (SDGs) sowie Menschenrechtspakte die Beseitigung von Ungleichheit vor. Darüber hinaus gebiete es der natürliche Sinn für menschliche Gerechtigkeit und Fairness, der auch der Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung zugrunde liegt. Der Bericht definiert Ungleichheiten in Ernährungssystemen „als die beobachteten Unterschiede in der Ernährungssituation oder bei damit verbundenen Faktoren in Ernährungssystemen (z.B. dem Zugang zu Ressourcen für die Lebensmittelproduktion) zwischen Einzelpersonen und Gruppen (aufgeschlüsselt nach sozialer, wirtschaftlicher und geografischer Lage)“. Ein Diagramm veranschaulicht den konzeptionellen Rahmen und zeigt, wie die Ernährungssicherheit und Ernährung verbessert werden können, indem Ungleichheiten in Ernährungssystemen und in anderen damit verbundenen Systemen wie Gesundheit, Bildung oder Infrastruktur, die alle für die Ernährungssicherheit relevant sind, angegangen werden. Ein nachhaltiger Wandel sei nur möglich ist, wenn die systemischen Treiber und Grundursachen von Ungleichheit verstanden und bekämpft würden.

Kapitel 2 beschreibt Muster und Trends bezüglich der Ungleichheit. „Zwar betreffen Ungleichheiten bei der Ernährungssicherheit vor allem die Bevölkerung in Afrika, Südasien und der Karibik, doch sie bestehen überall“, erklären die Autor*innen. Trotz Erfolgen beim Kampf gegen die Unterernährung in Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen untergräbt der weltweite Anstieg von Übergewicht und Fettleibigkeit bei Erwachsenen und Kindern bisherige Fortschritte. Zudem hat sich der Hunger in den meisten Weltregionen seit 2015 verschlimmert. Blickt man auf die Regionen, in die die Welt für den Welthungerbericht (SOFI) unterteilt wird, ist in Afrika der Anteil der Unterernährten mit 37,7% in Zentralafrika am höchsten, wozu Länder wie der Tschad und die Demokratische Republik Kongo gehören. In der Region „Lateinamerika und Karibik“ ist die Karibik besonders stark betroffen und 30,5% der Menschen sind unterernährt, während in Asien der Anteil mit 21% in Südasien und in „Nordamerika und Europa“ in Südeuropa mit 2,8% am höchsten ist. Bei der Ernährungslage gibt es auch geschlechtsspezifische Unterschiede und die Kluft wird hier immer breiter. Weltweit sind zahlenmäßig mehr Frauen als Männer von Hunger betroffen und der Schweregrad der Ernährungsunsicherheit ist bei Frauen höher. Zudem sind Menschen mit Behinderungen stärker bedroht, da sie auch häufiger in Armut leben. Studien zeigen dem HLPE zufolge, dass indigene Erwachsene in Australien ein fünf- bis siebenmal höheres Risiko haben, von Ernährungsunsicherheit betroffen zu sein als ihre nicht-indigenen Altersgenossen. In den USA ist der Anteil schwarzer, nicht-hispanischer Haushalte, die von Ernährungsunsicherheit betroffen sind, mit 22,7% höher als bei weißen, nicht-hispanischen Haushalten mit 8,7%. Die Autor*innen stellen fest, dass mehr qualitative und besser nach Geschlecht, Standort, wirtschaftlichem Status, ethnischer Zugehörigkeit und anderen Faktoren aufgeschlüsselte Daten erforderlich sind, um Ungleichheiten in Ernährungssystemen systematisch zu quantifizieren und nachzuverfolgen.

Kapitel 3 untersucht die unmittelbaren Treiber von Ungleichheiten in Ernährungssystemen und verwandten Systemen. Die Autor*innen fokussieren sich auf drei Bereiche im Ernährungssystem: Ungleichheiten bei Ressourcen für die Lebensmittelproduktion, in Lebensmittelversorgungsketten sowie im Lebensmittelumfeld und beim Verhalten der Verbraucher*innen. Erstens bestehen nach wie vor große Ungleichheiten beim Zugang zu Ressourcen für den Anbau von Lebensmitteln. Ein klassisches Beispiel dafür ist die große und zunehmende Ungleichheit beim Landbesitz. Rund um den Globus und in den meisten Regionen der Welt mit Ausnahme Afrikas hat die Ungleichheit beim Landbesitz, gemessen am Gini-Koeffizienten, seit 1975 zugenommen. Zweitens ist in den Versorgungsketten der ungleiche Zugang zu Finanzdienstleistungen eine Ursache von Ungleichheit: Für kleine Lebensmittelproduzenten und -unternehmen gibt es seit langem erhebliche Hürden bei der Inanspruchnahme von Krediten, Versicherungen und anderen Finanzprodukten, oder sie haben keinen Zugang zu Informationen und Technologien. Außerdem sind sie nur begrenzt in der Lage, sich an modernen Wertschöpfungsketten und Märkten, an Lagerung, Verarbeitung und Vertrieb sowie am internationalen Handel zu beteiligen und davon zu profitieren. „Große Händler, Verarbeiter und Einzelhändler wollen die Transaktionskosten für den Kauf kleinerer Mengen von mehreren Kleinbauern nicht tragen. Daher legen sie oft Mindestmengen und/oder Qualitätsstandards fest, die Kleinerzeuger kaum erfüllen können, vor allem wenn die Modernisierung und die Investition in Betriebsmittel eine Finanzierung und bessere Informationen erfordern“, erklären die Autor*innen das Dilemma. Drittens sind im Lebensmittelumfeld vor allem einkommensschwache Bevölkerungsgruppen und Minderheiten von Ungleichheiten und damit verstärkt von Ernährungsunsicherheit betroffen. Unmittelbar befeuert werden Ungleichheiten in Ernährungssystemen auch durch Probleme in anderen Systemen, wie der fehlende Zugang zum Gesundheit, Wasser und Bildung.

Kapitel 4 sucht nach den systemischen Treiber und tieferen Ursachen für Ernährungssicherheit und -ungleichheit. Viele Faktoren, die sich auf Ernährungssysteme auswirken, haben laut HLPE ihren Ursprung in diesen Systemen selbst. So schaden Klimawandel und Umweltzerstörung etwa den in Ernährungssektor arbeitenden Menschen und stellen eine Bedrohung für ihre Ernährungssicherheit und Ernährung dar, gerade dort, wo Menschen und Orte am stärksten von Veränderungen betroffen sind. Zugleich sind Ernährungssysteme Haupttreiber des Klimawandels, ebenso wie für den Verlust der biologischen Vielfalt und die Übernutzung von Wasser und Böden. Weitere Ursachen sind (markt)wirtschaftliche Faktoren, die das globale Ernährungssystem grundlegend verändert haben, indem sie Marktdynamiken, Finanzströme und Handelsmuster so gestalteten, dass Macht- und Eigentumsverhältnisse gefestigt wurden. Hierbei steche die Gestaltung und das Ausmaß des internationalen Handels sowie der Einfluss einer kleinen Anzahl privater Akteure hervor, die zunehmend die Kontrolle über die Marktgestaltung innehätten. „Dies hat die Ernährungsgewohnheiten auf komplexe Weise verändert und die Handlungsmacht der meisten Beschäftigten im Ernährungssystem eingeschränkt. Auch wenn es gewisse ernährungsbedingte Vorteile gibt, besteht die Sorge, dass der Übergang zu einer westlichen, Übergewicht befördernden Ernährungsweise die Ernährungslage verschlimmert, zunächst die Wohlhabenderen betrifft, aber dann allmählich zu einem Problem für die am stärksten marginalisierten oder sozioökonomisch benachteiligten Teile der Gesellschaft wird.“ Der Bericht benennt aber auch politische und institutionelle Faktoren wie Gewalt und bewaffnete Konflikte sowie Politik und Governance (z. B. Landpolitik, Agrarpolitik oder Arbeitsmarktvorschriften). Zudem erzeugten und verstärkten soziokulturelle Faktoren wie kulturelle Normen oder geschlechtsspezifische Gewalt bestehende Ungleichheiten.

Kapitel 5 benennt Maßnahmen zur Verbesserung der Ernährungssicherheit und stellt Bereiche vor, denen Priorität einzuräumen ist, da sie das größte Potenzial zur Verringerung von Ungleichheiten aufweisen. Die Maßnahmen werden in vier Hauptkategorien eingeteilt: Lebensmittelproduktion, Versorgungsketten, Lebensmittelumfeld und -konsum sowie Rahmenbedingungen, allgemeiner Kontext und Governance. Bei der Lebensmittelproduktion nennt er Maßnahmen zur Schaffung eines gleichberechtigteren Zugangs zu Land, Wäldern, Vieh und Fischerei, die Anwendung agrarökologischer Prinzipien, die Gründung inklusiver Erzeugerorganisationen und mehr Geld für eine gerechtigkeitsorientierte öffentliche Forschung im Bereich Agrar- und Ernährungssysteme sowie andere öffentliche Investitionen im ländlichen Raum. Letzteres umfasst etwa die Beachtung von Aspekten der Gleichheit und Geschlechtergerechtigkeit bei der Strategieplanung, denn dies kann z.B. bewirken, dass auf Nutzpflanzen oder Tierarten gesetzt wird, die für die Ernährungssicherheit der Haushalte, für marginalisierte Gruppen und Gegenden oder für schlechte Böden ohne künstliche Bewässerung besonders geeignet sind. Was die Lieferketten anbelangt, so priorisiert der HLPE inklusive Ansätze für die Wertschöpfungskette, die Entwicklung von Arbeitsschutzmaßnahmen, -strategien und -programmen für Beschäftigte im Ernährungssystem, die Berücksichtigung territorialer Ansätze bei der Vorhaben zu Ernährungssystemen und Regionalentwicklung, Investitionen in eine gerechtigkeitsorientierte Infrastruktur für Lagerung, Verarbeitung und Vertrieb von Lebensmitteln sowie Investitionen in verbesserte Informationssysteme, die digitale Technologien nutzen. Mit Blick auf Umgebung und Konsum von Lebensmitteln sind die wichtigsten Aktionsbereiche die Planung und Steuerung des Lebensmittelumfelds, sodass alle Menschen in ihrer unmittelbaren Umgebung Zugang zu günstigen, nahrhaften, sicheren und kulturell angemessenen Lebensmitteln haben, die Einbeziehung von Erkenntnissen über menschliche Verhaltensmuster bei der Ernährung in die Gestaltung von Politiken und Programmen sowie die Stärkung sozialer Sicherungssysteme.

Das sechste Kapitel enthält Empfehlungen für eine grundlegende Umgestaltung der Ernährungssysteme. Es gibt zehn allgemeine Empfehlungen, die in vier Gruppen unterteilt sind, aber die 10 Hauptempfehlungen sind unterfüttert mit vielen Unterpunkten, d.h. genauere und präzisere Empfehlungen, erläutert Bhavani Shankar bei der Präsentation, die als Video online abrufbar ist. Cluster A konzentriert sich auf die Beseitigung von Ungleichheiten in Ernährungssysteme. Die erste Hauptempfehlung lautet daher, dass „Staaten, zwischenstaatliche Organisationen, der Privatsektor und die Zivilgesellschaft sektorübergreifend zusammenarbeiten sollten, um einen gerechteren Zugang zu Land, Wäldern, Wasserressourcen und anderen Ressourcen für die Lebensmittelproduktion zu gewährleisten, indem sie rechtebasierte Ansätze anwenden“. Als Unterpunkt empfehlen die Autor*innen, die Land- und Ressourcenrechte von Frauen, Bauern, indigenen Völkern und anderen marginalisierten Gruppen zu stärken, einschließlich der rechtlichen Anerkennung und des Erbrechts. Cluster B befasst sich mit Ungleichheiten in anderen Systemen. Eine Empfehlung lautet, dass Staaten den allgemeinen Zugang zu Dienstleistungen und Ressourcen sicherstellen sollten, die sich direkt auf die Ernährungssicherheit und Ernährung auswirken. Präzisiert wird dies damit, dass Staaten den universellen Zugang zu allen mit Ernährung in Zusammenhang stehenden Dienstleistungen gewährleisten müssen, darunter zu medizinischer Grundversorgung, Impfungen, Ernährungsbildung, sanitären Einrichtungen und sauberem Trinkwasser, um nur einige Beispiele zu nennen. Cluster C enthält Empfehlungen zur Bekämpfung sozialer und politischer Ursachen von Ungleichheit. Cluster D liefert Vorschläge zur Stärkung von Daten- und Wissenssystemen, die notwendig sind, um ein besseres Verständnis für Gerechtigkeitsaspekte in allen Bereichen zu bekommen, die für Ernährungssicherheit und Ernährung von Relevanz sind. Alle Empfehlungen mit weiteren Ausführungen und Bespielen sind im englischen 200-Seiten-Bericht oder der etwas knackigeren Zusammenfassung zu finden. (ab)

02.06.2023 |

Keine Grüne Revolution für Afrika: Studie belegt Scheitern von AGRA

Ghana
Bäuerin in Ghana (Foto: CC0)

Die Agrarinitiative „Allianz für eine Grüne Revolution in Afrika“ (AGRA) hat nicht nur ihre Ziele verfehlt, sondern ihre Maßnahmen haben auch negative Folgen für die Menschen und die Umwelt in den Projektländern. Obwohl zivilgesellschaftliche Organisationen schon lange vor den negativen Auswirkungen des von AGRA verfolgten Entwicklungsansatzes warnen, förderte die Bundesregierung die Allianz weiter mit mehreren Millionen Euro. Das zeigt ein am 1. Juni von Brot für die Welt, FIAN Deutschland, Forum Umwelt und Entwicklung, INKOTA-netzwerk und der Rosa-Luxemburg-Stiftung herausgegebener Bericht. Mit mehr als zwei Jahren Verzug hatten das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) und die Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) Ende 2022 eine Zwischenevaluierung der von ihnen finanzierten AGRA-Projekte in Burkina Faso und Ghana veröffentlicht. Dieses Dokument werteten die Organisationen nun aus. AGRA wurde 2006 von der Bill-und-Melinda-Gates-Stiftung und der Rockefeller-Stiftung geschaffen. Mit kommerziellem Hochertragssaatgut, Pestiziden und synthetischen Düngemitteln sollten die Einkommen von Millionen kleinbäuerlicher Haushalte verdoppelt und sie von Hunger und Armut befreit werden. Doch stattdessen werden die Bauern durch AGRA in teure Abhängigkeiten von externen Inputs gebracht, bemängeln die Organisationen.

Die Zwischenevaluierung wurde für die AGRA-Projekte in Burkina Faso und Ghana von MDF West Africa, einer Consulting-Agentur in Ghana, durchgeführt. Sie befasst sich mit der ersten Projektphase 2017-2022, in der das BMZ und die KfW in Burkina Faso und Ghana insgesamt vier AGRA-Projekte mit circa 10 Millionen Euro unterstützen. In den Projekten wurde der Einsatz von teuren industriellen Betriebsmitteln, wie synthetischem Dünger, Pestiziden und industriellem Saatgut gefördert. „Ohne die kontinuierliche externe Weiterfinanzierung dieser Substanzen können sich die Bäuerinnen und Bauern diese nach der Beendigung der Projekte nicht mehr leisten“, sagt Jan Urhahn, Agrarexperte der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Denn das von AGRA aufgebaute System des Zugangs zu und der Verteilung von externen industriellen Betriebsmitteln durch Berater*innen auf Dorfebene (village-based advisors - VBAs) ist nach Projektende massiv gefährdet. „AGRA hat mit dem Einsatz von VBAs ein Abhängigkeitssystem aufgebaut, das damit beginnt, dass sich VBAs auf die Versorgung mit externen industriellen Betriebsmitteln durch das Projekt verlassen. AGRA-Projekte begünstigen damit, dass Bäuerinnen und Bauern nicht nur in Abhängigkeit zu den von Projektseite empfohlenen Betriebsmitteln, sondern auch in eine Abhängigkeit zu den Unternehmen gebracht werden, die diese Betriebsmittel herstellen und vertreiben“, schreiben die NGOs in ihrer Bewertung. Bricht die Versorgung durch AGRA und deren Finanziers weg, gelangen die Bäuer*innen nicht mehr an die Betriebsmittel, von denen sie im Rahmen der Projekte abhängig gemacht wurden. „Dies widerspricht der Behauptung von AGRA, kleinbäuerliche Landwirtschaft könne zu einem erfolgreichen ‚Business‘ gemacht werden, das sich von selbst trägt“, sagt Urhahn. Auch angesichts der infolge der COVID-19-Pandemie und des Angriffskriegs auf die Ukraine seit zwei Jahren stark gestiegenen Preise für industrielle Betriebsmittel sei der AGRA-Ansatz wenig ökonomisch nachhaltig.

Schon frühere, AGRA-eigene Evaluierungen hatten zudem das Problem der Überschuldung durch Kreditaufnahme für die von AGRA beworbenen externen industriellen Betriebsmittel belegt. Auch die Zwischenevaluierung stellt fest, dass die Überschuldung von Bäuer*innen ein weit verbreitetes Phänomen gerade in Ghana ist. Dort sollen 41% der Reisbäuer*innen sowie 33% der Cassavabäuer*innen große Probleme haben, ihre Kredite zurückzuzahlen. MDF stellt diese Überschuldung jedoch als allgemeines Problem ohne Bezug zu AGRA dar. Außerdem wurde bei der Befragung der überschaubaren Anzahl an Bäuer*innen gar nicht nach einem möglichen Zusammenhang zwischen AGRA-Projekten und der Überschuldung gefragt, wundern sich die NGOs. Den Landwirt*innen wird zudem in Schulungen die Verwendung des an die Marktnachfrage angepassten Saatguts und synthetischer Düngemittel nahegelegt, während organischer Dünger oder lokal angepasste traditionelle Saatgutsorten keine Rolle spielen. Somit wird ihre Wahlfreiheit stark eingeschränkt. Die Evaluation hebt als positiv hervor, dass Saatgutunternehmen durch die Projekte in Gebiete vordringen konnten, in denen sie zuvor nicht tätig waren. „Davon profitieren einseitig Saatgut- und andere Betriebsmittelkonzerne, weil neue Absatzmärkte für ihre Produkte geschaffen werden“, kritisieren die NGOs. Das wird flankiert durch Lobbyarbeit von AGRA in den Projektländern, mit dem Ziel, nationale Gesetze oder Rahmenwerke für die Zulassung und Vermarktung von synthetischen Düngemitteln und industriellem Saatgut zu vereinfachen. Die Möglichkeit der Bäuer*innen, lokales Saatgut zu vermehren und ohne Kosten wiederzuverwenden, wird zunehmend eingeschränkt.

„Obwohl die wirtschaftliche Ausbeutung von Kindern eine nicht akzeptable Menschenrechtsverletzung ist, wurde sie bei der Evaluierung in den AGRA-Projekten festgestellt. Das ist nicht hinnehmbar“, sagt Roman Herre, Agrarreferent bei FIAN Deutschland. Beispielsweise wurde berichtet, dass junge Kinder mit aufs Feld gebracht wurden, um fehlende Arbeitskräfte zu ersetzen. Oft schälten Kleinkinder Cassava für die Weiterverarbeitung zu Stärke und „diese Praxis erschien recht systematisch und nicht zufällig“, heißt es in der Evaluation. „Vor allem vor dem Hintergrund, dass sich das BMZ für die Beendigung von Kinderarbeit und die Verwirklichung entsprechender UN-Konventionen einsetzt. Dieser Umstand muss umgehend angegangen werden“, fordert Herre. Die Organisationen kritisieren, dass die Berücksichtigung und Umsetzung zentraler Menschenrechte – wie das Recht auf Nahrung oder der Schutz von Kindern vor wirtschaftlicher Ausbeutung – in der Evaluation nicht systematisch überprüft wird. Auch das für die KfW verbindliche Menschenrechtskonzept des BMZ wird nicht einbezogen. „Während die Zwischenevaluierung an einigen Stellen versichert, dass die Projekte keine wesentlichen sozialen Verwerfungen hervorriefen, werden gleichzeitig an anderen Stellen Fälle von absichtlicher und systematischer Kinderarbeit bestätigt“, heißt es in der Auswertung. MDF schreibt: „AGRA hofft, dass mit steigenden landwirtschaftlichen Einkommen solche Praktiken verschwinden und die Kinder stattdessen zur Schule gehen werden. Wir kommen zu dem Schluss, dass die Projektträger zwar keine Schuld an einigen unglücklichen Gegebenheiten in den Projektgebieten tragen, dass aber auch keine großen Anstrengungen unternommen wurden, um diese zu beheben.“

Die Evaluierung zeigt zudem, dass Bäuer*innen aus Burkina Faso Umweltschäden durch den Einsatz von Pestiziden in AGRA-Projekten feststellen. „Die Umweltschäden werden in der Tat immer sichtbarer. Die Landwirte nennen Bodenerosion, die Verschlechterung der Bodenfruchtbarkeit, die Notwendigkeit, immer mehr Düngemittel zu verwenden, um produktiv zu sein, sowie das Verschwinden von bisher verbreiteten Insekten und Bodenwürmern und das vermehrte Auftreten von Superunkräutern. Als mögliche Ursachen nannten die Landwirte den Raubbau am Boden und den Einsatz falscher Herbizide und Pestizide“, schreibt MDF. In AGRA-Projekten in Ghana kommen zudem in der EU verbotene Pestizide, wie die Wirkstoffe Propanil und Permethrin unrechtmäßig zum Einsatz. Dies verstößt gegen den „Referenzrahmen für Entwicklungspartnerschaften im Agrar- und Ernährungssektor“ des BMZ und gegen die Sozial- und Umweltstandards der Weltbank, betonen die NGOs. Beide Standards sind für den Einsatz in KfW-Projekten, die von der Bundesregierung finanziert werden, verpflichtend. Zwar lobt die Zwischenevaluierung, dass es durch AGRA-Interventionen zu einer Steigerung von Erträgen und Einkommen und zu einer Verbesserung der Ernährungssicherheit gekommen sei. Dafür fehlen jedoch wissenschaftlich fundierte Daten, was unter anderem auf fehlende Basisdatenerhebungen vor dem Beginn der Projekte, oder auf kleine, nicht repräsentative Erhebungen und die kurze Zeitspanne der Evaluierung zurückzuführen ist. Selbst die Evaluierung kommt an einer Stelle zu dem Ergebnis, dass die „Daten nicht zuverlässig und nützlich“ seien.

Die NGOs melden sich nicht zum ersten Mal zu Wort. Die Ergebnisse der Studie „Falsche Versprechen“ aus dem Jahr 2020 sowie die Analyse der AGRA-eigenen Evaluierungen aus dem Jahr 2021 (Weltagrarbericht berichtete zu beidem) haben bereits dargestellt, dass die AGRA-Ziele in den 13 AGRA-Schwerpunktländern, zu denen Burkina Faso und Ghana gehören, nicht erreicht wurden. Ursprünglich sollten die Ergebnisse der Zwischenevaluierung zur ersten Projektphase als Basis für die Entscheidung dienen, ob das BMZ in einer zweiten Projektphase AGRA weiter finanziert. Doch bereits im Jahr 2020 stellte das BMZ weitere 15 Millionen Euro für die Jahre 2022 bis 2025 bereit, vor allem für Projekte in Burkina Faso und Nigeria. „Die Entscheidung des BMZ, AGRA weiterhin zu fördern und die Fördersumme anzuheben, wurde ohne eine empirisch belastbare Grundlage und trotz substanzieller und fundierter Kritik seitens der Zivilgesellschaft getroffen“, kritisieren die NGOs. Zwar hatte Bundesentwicklungsministerin Svenja Schulze bereits im Frühjahr 2022 angekündigt, die AGRA-Kooperation der Bundesregierung infrage zu stellen, aber konsequent wäre es, die Förderung von AGRA vorzeitig einzustellen, fordern die Organisation. „Mit den Ergebnissen der eigenen Evaluierung bleibt als einzig logische Konsequenz der direkte Ausstieg aus AGRA“, fordert Silke Bollmohr, Landwirtschaftsexpertin beim INKOTA-netzwerk. Statt der Weiterfinanzierung von AGRA solle das BMZ das Recht auf Nahrung und die Agrarökologie zum Kompass deutscher Entwicklungspolitik machen und alle Projekte mit klaren Maßnahmen und messbaren Zielen unterlegen. (ab)

04.05.2023 |

Natürliche Ressourcen: Deutschland lebt schon ab 4. Mai auf Pump

Tagebau
Der deutsche Ressourcenhunger überlastet die Erde (Foto: CC0)

Wenn alle Länder so leben und wirtschaften würden wie Deutschland, wären drei Erden nötig, um diesen Konsum zu decken. 2023 haben die Deutschen die für dieses Jahr nachhaltig nutzbaren Ressourcen und ökologisch verkraftbaren CO2-Emissionen schon am 4. Mai voll beansprucht und leben den Rest des Jahres wieder über das Budget hinaus. Das zeigen aktuelle Berechnungen der internationalen Nachhaltigkeitsorganisation „Global Footprint Network“. Diese berechnet alljährlich sowohl nationale Overshoot Days als auch den globalen Erdüberlastungstag, der 2022 auf den 28. Juli fiel. Die Berechnungen basieren auf den „National Footprint and Biocapacity Accounts“ (NFA), die sich wiederum auf UN-Datensätze stützen. Es werden zwei Größen gegenübergestellt: einerseits die biologische Kapazität der Erde zum Aufbau von Ressourcen sowie zur Aufnahme von Müll und Emissionen und andererseits der ökologische Fußabdruck – der Bedarf an Acker-, Weide- und Bauflächen, die Entnahme von Holz, Fasern oder Fisch, aber auch der CO2-Ausstoß und die Müllproduktion. Deutsche Nichtregierungsorganisationen fordern angesichts des frühen Overshoot Day eine Wende in zahlreichen Politikbereichen und kritisieren den hohen Ressourcenverbrauch. „Es ist eine absolute Ungerechtigkeit: Ab heute leben wir auf Kosten der Menschen im Globalen Süden und unserer Kinder! Während die Folgen unseres Konsums und Wirtschaftens vor allem die Menschen im Globalen Süden und nachfolgende Generationen treffen, verpasst die deutsche Bundesregierung die Rohstoffwende“, bemängelt etwa Julius Neu, Referent für Rohstoffpolitik, Wirtschaft und Menschenrechte beim entwicklungspolitischen INKOTA-netzwerk.

INKOTA fordert von der Bundesregierung mehr Einsatz für die Einleitung einer Rohstoffwende und die absolute Senkung des metallischen Rohstoffverbrauchs. Nur durch die Verringerung des Verbrauchs auf ein global gerechtes Maß könne es gelingen, Menschenrechtsverletzungen, die weitere Umweltzerstörung und eine Verschärfung der Klimakrise durch den Rohstoffabbau zu verhindern. „Die Bundesregierung muss in der deutschen Kreislaufwirtschaftsstrategie und dem kommenden EU-Rohstoffgesetz die Senkung des Rohstoffverbrauchs verbindlich verankern“, betont Julius Neu. Die EU verhandelt derzeit über ein EU-Rohstoffgesetz, den EU Critical Raw Materials Act. Er soll für europäische Unternehmen den Zugang zu kritischen Rohstoffen, die für sogenannte grüne und digitale Zukunftstechnologien benötigt werden, sicherstellen. Mitte März veröffentlichte die EU-Kommission ihren Entwurf für das Gesetz. INKOTA will erreichen, dass nicht nur die Interessen von Unternehmen im Fokus stehen, sondern auch Menschenrechte und Umweltschutz. „Der europäische Green Deal darf nicht auf Kosten des Globalen Südens gehen. Es ist in unserer Verantwortung, nicht nur auf uns zu schauen, sondern auch die Stimmen der Menschen zu hören, auf deren Kosten wir ab dem 4. Mai leben“, unterstreicht Neu. Die Bundesregierung müsse auf die gesetzliche Verankerung von menschenrechtlichen und umweltbezogenen Sorgfaltspflichten im EU-Rohstoffgesetz bestehen. „Unternehmen, die die Rohstoffe nutzen, müssen bis zur Mine in die Verantwortung genommen werden und dürfen diese nicht an Industrieinitiativen auslagern“, so INKOTA.

Auch die Umwelt- und Entwicklungsorganisation Germanwatch fordert eine möglichst umfangreiche Verringerung des Ressourcenverbrauchs sowohl bei nachwachsenden als auch nicht nachwachsenden Rohstoffen. Dafür sei eine ganzheitliche Kreislaufwirtschaft ein wichtiger Hebel. „Dies bedeutet im Kern: 1. Den benötigten Einsatz von Energie und Rohstoffen bei der Herstellung senken 2. Produkte langlebig und länger nutzbar machen, zum Beispiel durch reparaturfähiges und haltbares Produktdesign und ein effektives Recht auf Reparatur, welches die Wiederverwendung attraktiver macht als den Neukauf. Und 3. die Wiedergewinnung möglichst vieler Materialien über hochwertiges Recycling“, schreibt die NGO in ihrer Pressemitteilung zum deutschen Overshoot Day.„Bundesregierung und EU müssen ihre Politik wirksam auf eine Kreislaufwirtschaft ausrichten“, sagt Luisa Denter, Referentin für Ressourcenpolitik und zirkuläres Wirtschaften bei Germanwatch. Es gebe aktuell viele Ansätze, wie eine Nationale Kreislaufwirtschaftsstrategie in Deutschland oder eine Ökodesignrichtlinie und ein Recht auf Reparatur in der EU. „Aber wir beobachten oft, dass zunächst ambitionierte Vorhaben am Ende nur die kurzfristigen Potentiale abgrasen und die größeren, wirksamsten Hebel liegen lassen. Das muss sich ändern“, fordert Denter.

Germanwatch nennt als wichtigen Hebel auch die Verringerung der Treibhausgasemissionen im Flugverkehr, da Fliegen die mit Abstand klimaschädlichste Reiseart sei, da die Emissionen pro Fahrgast und Kilometer viel größer als beim Bahnfahren sind. Zudem seien die Emissionen im Flugverkehr rund dreimal so klimaschädlich wie die gleiche Emissionsmenge am Boden, da in großer Höhe Effekte wie Kondensstreifen den Schaden vervielfachen. Die Fluggesellschaften seien auch noch deutlich weiter von klimaverträglichen Antriebsarten entfernt als jede andere Verkehrsart. Insgesamt seien Bahn- und Busreisen im Inland pro Kilometer etwa sechsmal klimafreundlicher als Flugreisen. Es besteht zudem keine Notwendigkeit für Flüge auf Strecken unter 500 Kilometern, die auch zügig per Bahn bewältigt werden können. „Die Bahn sollte auch auf grenzüberschreitenden Strecken in Europa das bevorzugte Reisemittel werden – das würde Reisen deutlich energieeffizienter und klimafreundlicher machen“, sagt Jacob Rohm, Referent für klimafreundliche Mobilität bei Germanwatch. „Damit der Wandel vom Flug zur Schiene gelingt, brauchen wir einen Ausbau der Direktverbindungen zwischen europäischen Metropolen am Tag und in der Nacht sowie einfachere internationale Ticketbuchungen“, erklärt Rohm. Zudem müssten im Flugverkehr alle klimaschädlichen Subventionen, wie das Fehlen einer Kerosinsteuer, abgebaut werden.

Deutschland liegt mit seinem Pro-Kopf-Verbrauch und seinen Emissionen im obersten Viertel aller Länder. Katar und Luxemburg haben ihre nationalen Erdüberlastungstage bereits Mitte Februar erreicht. Kanada, die USA, die Vereinigten Arabischen Emirate und Australien waren schon im März soweit und auch die skandinavischen Länder und Österreich hatten ihr Budget schon vor Deutschland überzogen. Länder wie Ecuador und Jamaica hingegen kommen bis in den Dezember hinein mit den in demselben Jahr nachhaltig regenerierbaren Ressourcen aus. Die deutschen Organisationen betonen, dass es bereits einige positive Ansätze hierzulande gebe, um den Overshoot im Kalender weiter nach hinten zu schieben. Aber wenn wir die Anstrengungen nicht massiv beschleunigten, werde es noch Jahrzehnte dauern, um zu einer nachhaltigen Lebensweise zu finden – mit den schwerwiegendsten Folgen dieser jahrzehntelangen Übernutzung. „Jede:r kann den eigenen ökologischen Fußabdruck über die Art zu konsumieren, mobil zu sein oder zu wohnen verkleinern, aber die Wende zur Nachhaltigkeit gelingt nur über die Veränderung der Rahmenbedingungen für alle“, betont Germanwatch. (ab)

28.04.2023 |

Insekten selbst in Naturschutzgebieten durch Pestizide bedroht

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Insekten sind pestizidbelastet (Foto: CC0)

Die Insektenvielfalt in Deutschland schwindet und die bedrohten Bestäuber sind auch in Naturschutzgebieten nicht sicher. Das hatte schon 2017 eine vielbeachtete Studie des Entomologischen Vereins Krefelds (EVK) ans Licht gebracht, die für großes Medienecho sorgte und den akuten Handlungsbedarf aufzeigte. Das daraufhin aus der Taufe gehobene Forschungsprojekt DINA untersuchte in den letzten 4 Jahren, wie es um die Vielfalt von Fluginsekten in 21 Naturschutzgebieten bundesweit bestellt ist. Das Verbundsvorhaben, an dem unter Federführung des Naturschutzbund Deutschland (NABU) insgesamt 8 Hochschulen und Forschungseinrichtungen mitwirkten, stellte nun am 26. April in Berlin die zentralen Ergebnisse vor. Demnach hat sich die Lage der Insekten hierzulande in den letzten Jahren nicht verbessert. Aktuell sei „keine Erholung der Biomassen für die Jahre 2020 und 2021 feststellbar und der Trend zu einem niedrigen Stand kann deutschlandweit bestätigt werden“, verkündete Thomas Hörren vom EVK, einem der Projektpartner. Zudem wirkten sich konventionell bewirtschaftete Ackerflächen nachteilig auf das Vorkommen gefährdeter Pflanzenarten in benachbarten, geschützten Lebensräumen aus.

Das Forschungsprojekt DINA (Diversity of Insects in Nature protected Areas) hatte sich mit der Frage befasst, warum die Insektenvielfalt in Deutschland abnimmt und was dagegen unternommen werden kann. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung hatte das Vorhaben seit Mai 2019 mit einer Gesamtsumme von 4,6 Millionen Euro gefördert. Die Forscher*innen hatten im gesamten Land in 21 Naturschutzgebieten und Flächen des Schutzgebietsnetzes Natura 2000 die Insektenvielfalt und deren Belastung aus den umliegenden landwirtschaftlich genutzten Flächen erfasst. Die Wissenschaftler nutzen sowohl die standardisierte Methode des Entomologischen Vereins Krefeld zur Erfassung von Fluginsekten (sog. Malaise-Fallen) als auch neue Verfahren zur Bestimmung von Nahrungspflanzen der Insekten mittels DNA-Metabarcoding sowie Pestizidnachweise (Rückstandsanalysen) aus den Insektenfallen. „Die Betroffenheit war groß, als vor sechs Jahren das Ausmaß des dramatischen Rückgangs der Insektenvielfalt öffentlich wurde. Doch es fehlte an Daten, um den Verlust der biologischen Vielfalt aufzuhalten und in einen positiven Trend umzukehren“, sagte Prof. Dr. Gerlind Lehmann, DINA-Projektleiterin beim NABU. Mit DINA sei es nun gelungen, die bislang umfangreichste Datenbasis zur Anzahl und Vielfalt fliegender Insektenarten in den ausgewählten Schutzgebieten zu schaffen. „Wesentliche Treiber des Biodiversitätsverlustes wurden untersucht – etwa negative Umwelteinflüsse durch den Pestizideinsatz oder die Zerstörung von Lebensräumen“, so Dr. Lehmann.

Die Suche nach der Ursache, warum die Insektenvielfalt auch in Schutzgebieten schwindet, führte zu dem Ergebnis, dass die Gebiete von konventionell bewirtschafteten Ackerflächen umgeben sind oder sie gar beinhalten. „Eine bedeutende Zahl von Ackerflächen befindet sich innerhalb und in unmittelbarer Nachbarschaft von Naturschutz- und Natura 2000-Gebieten. Bisher werden diese Ackerflächen in der Regel konventionell bewirtschaftet“, heißt es in dem aktuellen DINA Policy Brief. „Auf einer Länge von mehr als 11.000 km grenzen Naturschutzgebiete direkt an Ackerflächen an“, sagte Lisa Eichler vom Leibniz-Institut für ökologische Raumentwicklung (IÖR). „Bei den EU-rechtlich geschützten „Fauna-Flora-Habitat (FFH)“-Gebieten sind es sogar 21.100 km – eine Strecke länger als die Luftlinie zwischen Nord- und Südpol.“ Die Forscher*innen stellten fest, dass sich angrenzende Ackerflächen nachteilig auf das Vorkommen gefährdeter Arten im Randbereich der geschützten Lebensräume auswirken. Denn dort kommen in der Regel Pestizide zum Einsatz.Pestizide wurden auf Insekten in allen untersuchten Schutzgebieten nachgewiesen, wobei die Insekten in der Agrarlandschaft in einem Radius von 2000 m kontaminiert wurden. „Auch in Naturschutzgebieten werden Insekten mit Pestizidmischungen belastet“, erklärt Dr. Carsten Brühl von der Rheinland-Pfälzischen Technischen Universität Kaiserslautern Landau „Kontaminiert werden sie vor allem außerhalb der Schutzgebietsflächen aufgrund ihres Aktivitätsradius. So haben Ackerflächen, die an Schutzgebiete angrenzen, einen Einfluss auf die zu schützenden Insektenbestände und die Pflanzenwelt.“ Die Anzahl der nachgewiesenen Pestizide steige in intensiv landwirtschaftlich genutzten Gebieten an. Dr. Brühl bemängelt, dass Belastungen mit Pestizidmischungen bisher in der Zulassung weder untersucht noch berücksichtigt werden. Die Studie ergab auch, dass Insekten aus den Schutzgebieten weiter fliegen als gedacht. Sie steuerten sowohl weiter entferntere Nutzpflanzen an, z.B. zur Rapsblüte, aber auch Pollen von Gartenpflanzen waren bei ihnen nachweisbar.

„Die Ergebnisse des Forschungsprojektes zeichnen ein alarmierendes Gesamtbild: Selbst in Naturschutzgebieten schreitet der Verlust von Artenvielfalt und Lebensräumen ungebremst voran“, warnt NABU-Präsident Jörg-Andreas Krüger. „Damit die Trendumkehr beim Insektensterben gelingen kann, muss die Belastung durch Pestizide in der gesamten Landschaft halbiert werden. In den besonders sensiblen Schutzgebieten gehört ihr Einsatz untersagt.“ Aus den Erkenntnissen des DINA-Projekts leiteten die Forschungsinstitutionen drei zentrale Empfehlungen zum wirksamen Schutz der Insektenvielfalt ab. Zum einen müsse das Thema Biodiversität bei der Zielsetzung und Planung von Schutzgebieten priorisiert werden. Damit die biologische Vielfalt dort auch wirklich geschützt werde, müsse die umliegende landwirtschaftliche Nutzfläche einbezogen werden, etwa wenn Maßnahmen geplant werden. Risikoanalysen und Landschaftsplanung müssen zudem die Randeffekte und Umgebungseinflüsse in einen Radius von mindestens 2 km um die Schutzgebietsgrenzen berücksichtigen. Ziel muss die Verminderung der Kontaktlinien mit Ackerflächen in intensiver Nutzung sein. Zweitens brauche es ein bundesweites Monitoring sowie Pestizidanalysen, um die Risiken für die Insektenbestände besser abschätzen zu können. Dabei müssen besonders schützenswerte Gebiete priorisiert werden. Und drittens bedarf es der Mitwirkung aller relevanten Akteur*innen aus Landschaftspflege, Landwirtschaft, Naturschutz, Politik und Zivilgesellschaft, damit Maßnahmen auf lokaler Ebene wirksam umgesetzt werden. Kooperativ erarbeitete Maßnahmen innerhalb und im Umfeld der Schutzgebiete sind strukturell und finanziell zu fördern, insbesondere durch die Ausgestaltung geeigneter Förder- und Beratungsinstrumente. “Die Notwendigkeit des Insektenschutzes ist allgemein akzeptiert und bedingt interdisziplinäre Lösungsansätze, die ökologische, ökonomische und soziale Aspekte miteinander verknüpfen“, sagte Prof. Dr. Wiltrud Terlau von der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg. „Die Rahmenbedingungen sind entscheidend. Landwirte als Hauptbeteiligte drängen auf mehr Wertschätzung und Planungssicherheit sowie eine höhere finanzielle Unterstützung und Flexibilität zur Umsetzung biodiversitätsfördernder Maßnahmen“, betonte die Professorin. „Eine Zusammenarbeit aller Beteiligten ist unerlässlich.“ (ab)

10.04.2023 |

Fleischverzehr in Deutschland sinkt 2022 auf 30-Jahres-Tiefstand

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Ofenbar griffen die Deutschen häufiger zum Veggie-Burger (Foto: CC0)

In Deutschland wird so wenig Fleisch gegessen wie seit 31 Jahren nicht mehr: Die Bundesbürger*innen verzehrten 2022 im Durchschnitt „nur“ noch 52 Kilogramm Fleisch pro Kopf und damit vier Kilo weniger als noch im Vorjahr und sogar 8 Kilo weniger als noch 2017. Das zeigen Berechnungen des Bundesinformationszentrums Landwirtschaft (BZL) für das Jahr 2022, die am 3. April veröffentlicht wurden und noch als vorläufig bezeichnet werden. Der bei der Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung (BLE) angesiedelte Informationsdienstleister vermeldet, dass es sich um einen historischen Tiefstand seit Einführung des Datensatzes mit der Wiedervereinigung 1989 handelt. Der Pro-Kopf-Verzehr hatte sich nach der Wende zwischen 60 bis 63 Kilogramm eingependelt, fiel 2019 erstmals unter die 60-Kilo-Marke und sinkt seither stetig. Als mögliche Ursache für den rückläufigen Fleischverzehr wird die anhaltende Tendenz zu einer pflanzenbasierten Ernährung genannt.

In der Bundesrepublik wurde 2022 Fleisch mit einem Schlachtgewicht von insgesamt rund 7,6 Millionen Tonnen erzeugt. Im Vergleich zu 2021, als sich die Nettoerzeugung noch auf 8,3 Millionen Tonnen belief, ist dies ein Rückgang um 8,3%. Deutschland führt deutlich mehr Fleisch, Fleischwaren und Konserven aus als importiert werden: 2022 standen Einfuhren in Höhe von 2,7 Millionen (+5,4% im Vergleich zum Vorjahr) Exporten von 3,8 Millionen Tonnen Fleisch- und Fleischwaren gegenüber (-3,3%). Die in einer Excel-Datei veröffentlichten Zahlen reichen zurück bis 1991. Während die Einfuhren seit 1991 um 45% stiegen und sich mit Beginn der 2000er-Jahre recht stabil zwischen 2,2 und 2,5 Millionen Tonnen einpendelten, haben sich die Fleischexporte im Vergleich zu 1,32 Millionen Tonnen in 1991 mittlerweile fast verdreifacht. Schweinefleisch ist der Exportschlager: Während Deutschland 1991 noch dreimal so viel Schwein einführte (822.000 Tonnen) wie ausführte (254.400 Tonnen), wuchs die Exportmenge seither kontinuierlich an, erreichte 2016 einen Höchststand von 2,5 Millionen Tonnen und hat sich in den letzten drei Jahrzehnten insgesamt fast verachtfacht.

2022 standen in Deutschland letztendlich 6,51 Millionen Tonnen Fleisch für den Verbrauch zur Verfügung. Das waren 77,5 Kilo pro Kopf und damit 4,2 Kilo weniger als noch 2021. In diesen Werten sind neben dem Nahrungsverbrauch auch die Anteile für Futter sowie industrielle Verwertung und Verluste (inklusive Knochen) enthalten. Der menschliche Verzehr, also das Schlachtgewicht ohne Verluste und industrielle Verwertung, lag letztes Jahr bei den eingangs genannten 52 Kilogramm. Schweinefleisch ist nach wie vor das beliebteste Fleisch der Deutschen: Rein rechnerisch verzehrte jeder immer noch 29 Kilo im Jahr, gefolgt von Geflügel mit 12,7 Kilo und Rindfleisch mit 8,7 Kilo. In den letzten drei Jahrzehnten zeigte sich jedoch eine deutliche Trendumkehr: Während der Hunger auf Schwein nachließ und seit 1991 um mehr als 10 Kilo pro Kopf zurückging, nahm der Konsum von Geflügelfleisch um 5,4 Kilogramm pro Bundesbürger*in zu. Laut den Zahlen für 2022 hat Deutschland bei Fleisch einen Selbstversorgungsgrad (SVG) von 116% und deckt durch die Produktion somit deutlich mehr als den inländischen Verbrauch ab. Im Vorjahr hatte der Wert noch bei 118% gelegen. Beim Schweinefleisch betrug der Selbstversorgungsgrad sogar 125,8% (2021: 132,4%). Bei Rind- und Kalbfleisch waren es 2022 hingegen 94,8% und bei Geflügelfleisch 97,4%. Gar keinen Appetit haben die Deutschen hingegen auf Innereien: Hier lag der SVG bei 439,5%. Was nicht zu Tierfutter verwurstet werden kann, wird exportiert. Das BZL kündigte in der Pressemitteilung zudem an, dieses Jahr noch die Methodik zur Berechnung der Versorgungsbilanz anzupassen. Die künftigen Zahlen werden somit nicht mehr mit den bisherigen Werten vergleichbar sein und die Datensätze der letzten zehn Jahre sollen daher basierend auf der neuen Methodik nachberechnet werden. (ab)

15.03.2023 |

Einspruch gegen KWS-Patent auf Mais aus konventioneller Züchtung

KWS
Protest gegen KWS-Patente im Dezember 2022 (Foto: Falk Heller)

Das Bündnis „Keine Patente auf Saatgut!“ hat Einspruch gegen ein Patent der Saatgut-Firma KWS auf Mais aus konventioneller Züchtung eingelegt. Das vom Europäischen Patentamt EPA im Juni 2022 erteilte Patent erstreckt sich auf Maispflanzen mit einer verbesserten Verdaulichkeit, deren Ernte und die daraus hergestellten Futtermittel. Doch diese Eigenschaft wurde nicht mithilfe von Gentechnik erzielt, sondern es handelt sich um zufällig veränderte Genvarianten, die entdeckt und von KWS mit konventionellen Züchtungsmethoden in die patentierten Sorten eingezüchtet wurden. Außerdem umfasst das Patent die Verwendung von natürlich vorkommenden Genvarianten für die konventionelle Züchtung. Das Bündnis, dem mehrere europäische Nichtregierungsorganisationen angehören, sieht dadurch die konventionelle Züchtung bedroht. „Patente auf Saatgut behindern den Zugang zur biologischen Vielfalt und beenden die Freiheit in der traditionellen Pflanzenzucht“, sagt Katherine Dolan vom österreichischen Verein Arche Noah. „Damit gefährden die Konzerne die Grundlagen der Nahrungsmittelsicherheit in Europa.“

Das Patent EP3560330 B1 trägt den Namen „Pflanzen mit verbesserter Verdaulichkeit und Markerhaplotypen“ und wurde am 15.06.2022 im Bulletin 2022/24 des EPA veröffentlicht. In der Einspruchsschrift merkt „Keine Patente auf Saatgut!“ an, dass die Beschreibung des Patents verschiedene Beispiele für Anwendungen mit und ohne Gentechnik beinhaltet. Es werde so der Eindruck erweckt, dass in erster Linie gentechnische Verfahren eingesetzt würden, die nach dem europäischen Patentrecht durchaus patentierbar sind. Doch KWS beansprucht auch die Nutzung der natürlicherweise vorkommenden Genvarianten zur Auswahl von Pflanzen im Rahmen der konventionellen Züchtung. Einige Ansprüche erstrecken sich auch auf Pflanzen, die mit diesen Verfahren ausgewählt werden. Zudem werden auch Pflanzen mit nach dem Zufallsprinzip mutierten Genen beansprucht. Das Bündnis kritisierte schon seit Langem die umstrittene Praxis des EPA, Patente auf konventionell gezüchtete Pflanzen und Tiere zu erteilen, obwohl im europäischen Patentrecht diese Patente auf „im Wesentlichen biologischen Verfahren zur Züchtung von Pflanzen oder Tieren“ untersagt sind. Im Juni 2017 hatte das EPA auf öffentlichen Druck hin ein Ende der Praxis angekündigt und 2020 wurde dies durch eine Entscheidung der großen Beschwerdekammer des EPA bestätigt (G3/19). Mit dem KWS-Maispatent erteilte das EPA jedoch auch nach Erlass der neuen Regel 28(2) im Europäischen Patentübereinkommen (EPÜ) erneut ein Patent auf konventionell gezüchtete Pflanzen. „Patentierbar sind nur technische Erfindungen, nicht aber die genetische Vielfalt und das Saatgut konventionell gezüchteter Pflanzen! sagt Christoph Then für Keine Patente auf Saatgut!. „Das Patentamt verstößt mit solchen Patenten auf Saatgut gegen seine eigenen Rechtsgrundlagen.“

Der Zankapfel sind Patente, die auf zufälligen genetischen Veränderungen basieren, wie sie etwa durch UV-Strahlung bzw. Sonnenlicht ausgelöst werden, und die als technische Erfindung beansprucht werden. Das EPA setzt diese zufälligen Mutationen offensichtlich mit gentechnischen Veränderungen gleich. Im Einspruch legt „Keine Patente auf Saatgut!“ dar, warum diese Auslegung als nichtzutreffend erachtet wird. Zuletzt hatte sich auch der Bundesverband der Pflanzenzüchter (BDP) gegen Patente auf natürlicherweise vorkommende Genvarianten ausgesprochen. In Österreich soll das nationale Patentrecht so geändert werden, dass zufällige Mutationen nicht länger als technische Erfindungen beansprucht werden können. „Keine Patente auf Saatgut!“ fordert nun, dass auch der EPA-Verwaltungsrat, in dem Vertreter*innen der 39 Mitgliedsländer sitzen, eine korrekte Auslegung des europäischen Patentrechts sicherstellt. Mit dem Einspruch hofft das Bündnis, eine Klärung der rechtlichen Lage erwirken zu können, um die Vergabe solcher Patente zu stoppen. Andernfalls befürchten die Mitglieder eine Blockade der traditionellen Züchtung, da konventionelle Pflanzenzüchter*innen nicht mehr alle auf dem Markt befindliche Sorten nutzen könnten, um Sorten zu verbessern und zu vermarkten. Das Bündnis befürchtet, dass Züchter*innen eine Patentlizenz benötigen würden, um ihre eigenen Sorten zu vermarkten. „Mittelständische Zuchtunternehmen geraten in neue Abhängigkeiten und werden mit großen rechtlichen Unsicherheiten und erheblichen Kosten konfrontiert“, bemängelt Georg Janßen, Bundesgeschäftsführer der Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft (AbL) e.V.. „Unter diesen Bedingungen können nur die großen Konzerne überleben, die dann bestimmen was angebaut und geerntet wird. Das würde auch für die bäuerlichen Betriebe in Europa und den Ländern des globalen Südens erhebliche Auswirkungen haben.“

Bereits Anfang Dezember hatte „Keine Patente auf Saatgut!“ anlässlich der Jahreshauptversammlung der Firma KWS in Einbeck (Niedersachsen) protestiert, da KWS in den letzten Jahren vermehrt Patente auf konventionell gezüchtete Pflanzen angemeldet hatte. Die beanspruchten Eigenschaften betreffen wichtige züchterische Merkmale wie Resistenzen gegen Pflanzenkrankheiten, Viren und Pilzbefall, gegen Schädlinge wie Nematoden oder Toleranz gegen Klimaextreme. In einem Bericht zu den Patenten von KWS zeigte das Bündnis auf, welche Risiken derartige Patente für die Pflanzenzucht bergen. Behandelt wird zum Beispiel ein Patentantrag auf Zuckerrüben mit Resistenz gegen die Blattfleckenkrankheit, die zwar auch mithilfe von CRISPR/Cas (neue Gentechnik) erzielt wurde, die aber eben auch durch zufällige Mutationen entstanden ist. „Damit werden die technischen und rechtlichen Unterschiede zwischen Gentechnik und konventioneller Zucht gezielt und systematisch verwischt“, so der Bericht. „Die KWS sollte auch aus eigenem Interesse ihre Patente zurückziehen oder diese strikt auf gentechnische Verfahren begrenzen“, fordern die Autor*innen. „Anstatt das Patentrecht auf Bereiche auszuweiten, für die es nie gedacht war, sollte sich die KWS auf ihre Verantwortung für die Zukunft der Pflanzenzucht besinnen und sich auch aus ihrer Verantwortung gegenüber Landwirtschaft und Lebensmittelerzeugung für wirksame Verbote im Patentrecht einsetzen.“ (ab)

24.02.2023 |

Synthetische Pestizide viel gefährlicher als natürliche Wirkstoffe

Salat
Was und wie viel landet auf dem Acker? (Foto: CC0)

Schon seit Längerem rücken Berichte und Studien zum Verlust der Artenvielfalt und dem Zusammenhang zu Landnutzung und Pestizideinsatz zunehmend in den Fokus einer breiteren Öffentlichkeit. Spätestens seit sich die EU mit dem Grünen Deal und ihrer „Farm to Fork“-Strategie die Ziele gesteckt hat, den Ökolandbau in der EU bis 2030 auf 25 % der Agrarfläche auszuweiten und den Einsatz und das Risiko von chemisch-synthetischen Pestiziden zu halbieren, hat die politische und gesellschaftliche Debatte über die Art und Zukunft der Landwirtschaft wieder an Fahrt aufgenommen. Die europäische Pestizidindustrie sieht ihre Felle bzw. heimischen Absatzmärkte davonschwimmen und behauptete, dass im Ökolandbau Wirkstoffe verwendet würden, die ähnlich giftig seien wie synthetische Pestizide. In einer Stellungnahme zur „Farm to Fork“-Strategie schrieb sie, dass mehr Ökolandbaus zum „Anstieg des Gesamtvolumens des Pestizideinsatzes in Europa“ führe, „da einige Produkte, die im Ökolandbau oft genutzt würden, in viel größeren Mengen ausgebracht werden müssen als sparsamere chemische Alternativen“. Diese Behauptung unterzog nun die österreichische Umweltschutzorganisation GLOBAL 2000 im Auftrag von „IFOAM Organics Europe“ einem Faktencheck. Gemeinsam mit Professor Dr. Johann Zaller von der Universität für Bodenkultur (BOKU) Wien führte sie einen systematisch toxikologischen Vergleich durch, der Ende Dezember im Wissenschaftsjournal „Toxics“ veröffentlicht wurde. Dieser kam zu dem Ergebnis, dass 55 % der in der konventionellen Landwirtschaft verwendeten Pestizide Hinweise auf Gesundheits- oder Umweltgefahren tragen, während es bei den im Ökolandbau zugelassenen natürlichen Wirkstoffen nur 3 % waren.

Untersucht wurden in der Studie 256 Wirkstoffe (Active Substances = AS), die in der konventionellen Landwirtschaft zugelassen sind, sowie 134 natürliche Wirkstoffen, die auch in der Biolandwirtschaft in Europa erlaubt sind. Gegenstand der Bewertung waren nur Wirkstoffe, die für die Verwendung auf landwirtschaftlichen Flächen bestimmt sind, während Stoffe, die in der Nacherntebehandlung oder -lagerung verwendet werden, nicht einflossen. Alle Wirkstoffe wurden hinsichtlich ihrer Gefahrenpotentiale und Risiken sowie der Häufigkeit ihrer Verwendung analysiert. Als Maßstab für den Vergleich dienten die von der Europäischen Chemikalienagentur (EChA) festgelegten Gefahrenklassifizierungen des Global Harmonisierten Systems (GHS) sowie die von der Europäischen Behörde für Ernährungssicherheit (EFSA) im Zulassungsverfahren festgelegten ernährungs- und arbeitsmedizinischen Richtwerte. Von den synthetischen Pestizidwirkstoffen trugen 55 % (140 der 256 Wirkstoffe) zwischen einem und neun Gefahrenhinweisen auf Gesundheits- oder Umweltgefahren. Bei den natürlichen Wirkstoffen waren es nur 3 % oder vier der 134 natürlichen Wirkstoffe. Insgesamt stehen 8 % der in der konventionellen Landwirtschaft zugelassenen Wirkstoffe im Verdacht, das ungeborene Kind zu schädigen und 7 % wird eine krebserzeugende Wirkung zugeschrieben. Weitere 7 % können Organschäden verursachen, 5 % sind beim Verschlucken giftig und 3 % sind beim Verschlucken tödlich. Keine der oben genannten Gefahrenklassifizierungen findet sich bei den derzeit zugelassenen natürlichen Wirkstoffen, die im Ökolandbau erlaubt sind. Des Weiteren wurden 40 % der synthetischen Pestizid-Wirkstoffe als sehr giftig für Wasserorganismen eingestuft, aber nur 1,5 % der natürlichen Wirkstoffe, nämlich die beiden Insektizide Pyrethrine und Spinosad. Was die chronische aquatische Toxizität betrifft, so waren 50 % oder 127 konventionelle Pestizide schädlich, giftig oder sehr giftig für Wasserlebewesen mit lang anhaltenden Wirkungen. Bei den natürlichen Wirkstoffen waren es nur 1,5 % oder zwei - wieder die Wirkstoffe Pyrethrine und Spinosad, welche die Übertragung von Nervenimpulsen hemmen.

Außerdem wurden die gesundheitlichen Richtwerte untersucht, die sich auf die annehmbare tägliche Aufnahmemenge (ADI) für die regelmäßige Aufnahme über die Nahrung, die akute Referenzdosis (ArfD) für den sicheren Verzehr einer Mahlzeit und die annehmbare Anwenderexposition (AOEL) für die sichere nicht-alltägliche Exposition gegenüber Pestiziden beziehen. Die Festlegung von ernährungs- und arbeitsmedizinischen Richtwerten hielt die EFSA bei 93 % der konventionellen, aber nur bei 7 % der natürlichen Wirkstoffe für angebracht. Bei den im Ökolandbau zugelassenen Wirkstoffen wurden für die Insektizide Spinosad, Pyrethrine und Azadirachtin sowie das Fungizid Thymol die niedrigsten annehmbaren Werte für die ernährungsbedingte und nicht-ernährungsbedingte Exposition festgestellt. Sie lagen im Bereich zwischen 0,1 und 0,01 mg/kg Körpergewicht. Die niedrigsten annehmbaren Expositionswerte bei den konventionellen Pestiziden waren deutlich niedriger (zwischen 0,001 und 0,0001 mg/kg Körpergewicht) und betrafen die synthetischen Herbizide Tembotrion, Sulcotrion, Fluometuron, Metam (ebenfalls ein Nematizid, Insektizid und Fungizid) und Diclofop, sowie die zwei Insektizide Emamectin und Oxamyl. „Die Unterschiede, die wir festgestellt haben, sind ebenso signifikant wie wenig überraschend, wenn man die Herkunft der jeweiligen Pestizidwirkstoffe genauer betrachtet“, erklärt Helmut Burtscher-Schaden, Biochemiker von GLOBAL 2000 und Erstautor der Studie: „Während rund 90 % der konventionellen Pestizide chemisch-synthetischen Ursprungs sind und Screening-Programme durchlaufen haben, um die Substanzen mit der höchsten Toxizität (und damit höchsten Wirksamkeit) gegenüber den Zielorganismen zu identifizieren, handelt es sich beim Großteil der natürlichen Wirkstoffe gar nicht um Stoffe im eigentlichen Sinn, sondern um lebende Mikroorganismen.“ Dazu gehören etwa Bakterien oder Pilze. „Diese machen 56 % der zugelassenen ‘Bio-Pestizide’ aus. Als natürliche Bodenbewohner haben sie keine gefährlichen Stoffeigenschaften“, fügt er hinzu. Weitere 19 % der Bio-Pestizide seien von vornherein als „Wirkstoffe mit geringem Risiko“ (z.B. Backpulver) eingestuft oder als Grundstoffe (z.B. Sonnenblumenöl, Essig, Milch) zugelassen.

„Es ist klar, dass die in der konventionellen Landwirtschaft zugelassenen synthetischen Wirkstoffe weitaus gefährlicher und problematischer sind als die in der Biolandwirtschaft zugelassenen natürlichen Wirkstoffe“, kommentierte Jan Plagge, Präsident von IFOAM Organics Europe, die Ergebnisse in der Pressemitteilung zur Studie. „Biobetriebe konzentrieren sich auf vorbeugende Maßnahmen wie die Verwendung robuster Sorten, sinnvolle Fruchtfolgen, die Erhaltung der Bodengesundheit und die Erhöhung der Artenvielfalt auf dem Feld, um den Einsatz von externen Betriebsmitteln zu vermeiden. Aus diesem Grund werden auf rund 90 % der landwirtschaftlichen Flächen (vor allem im Ackerbau) keinerlei Pestizide eingesetzt, auch keine natürlichen Stoffe.“ Dies gilt vor allem für Ackerkulturen wie Weizen, Mais, Roggen, Gerste usw, bei denen im konventionellen Ackerbau hingegen routinemäßig Herbizide, häufig Fungizide und je nach Kultur und Witterung auch Insektizide gespritzt würden. Wenn die Schädlinge im Ökolandbau dennoch überhand nehmen, sei der Einsatz von Nützlingen, Mikroorganismen, Pheromonen oder Abschreckungsmitteln die zweite Wahl der Biobäuer:innen. „Natürliche Pflanzenschutzmittel wie die Mineralien Kupfer oder Schwefel, Backpulver oder pflanzliche Öle sind der letzte Ausweg für Spezialkulturen wie Obst und Wein“, betont Plagge. (ab)

16.02.2023 |

Bioanbaufläche legt in Deutschland und weltweit zu

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Der Umsatz ging 2022 zurück (Foto: CC0)

Alljährlich, wenn das Branchentreffen BIOFACH in Nürnberg stattfindet, werden auch die neusten Zahlen rund um den Ökolandbau veröffentlicht. Am 14. Februar war es wieder soweit: Das Forschungsinstitut für biologischen Landbau FiBL und IFOAM – Organics International präsentierten ihren Bericht „The World of Organic Agriculture“ mit Zahlen zum Ökolandbau rund um den Globus sowie der Bund Ökologische Lebensmittelwirtschaft (BÖLW) seinen Branchenreport für Deutschland. Die ökologisch bewirtschaftete Fläche nimmt weiter zu, sowohl weltweit als auch in Deutschland, doch die neuen Zahlen zeigen auch, dass die Coronakrise und die Folgen des Kriegs in der Ukraine nicht ohne Auswirkungen auf die Umsatzentwicklung der Biobranche blieben. Laut dem FiBL/IFOAM-Jahrbuch, das sich auf das Jahr 2021 bezieht und Daten aus 191 Ländern zusammenführt, wurden weltweit rund 76,4 Millionen Hektar Land ökologisch bewirtschaftet – ein Anstieg um 1,3 Millionen Hektar oder 1,7 % im Vergleich zu 2020. Im Jahr betrug der Anstieg noch 4,1 %.

Das Länder-Ranking führt weiter Australien mit einer absoluten Biofläche von 35,7 Millionen Hektar an, wobei schätzungswiese 97 % dieser Fläche extensiv bewirtschaftetes Grünland sind. Auf Platz zwei steht Argentinien mit 4,1 Millionen Hektar Bioanbaufläche, während sich Frankreich mit 2,77 Millionen Hektar und einem Anstieg um 8,9 % im Vergleich zu 2020 auf Platz 3 vorarbeitete. Es folgen China mit 2,75 Mio. Hektar (+13,1 %) und Uruguay mit 2,74 Mio. Hektar. Deutschland schaffte es im globalen Vergleich 2021 auf Platz 10 mit 1,8 Millionen Hektar. Aufgrund des hohen Flächenanteils Australiens liegt fast die Hälfte der weltweiten ökologischen Anbaufläche in Ozeanien (36 Mio. ha). Europa bringt es auf eine Fläche von 17,8 Millionen Hektar oder 23 %, gefolgt von Lateinamerika mit 9,9 Millionen Hektar und 13 % der Gesamtfläche. In Europa war mit 747.924 Hektar das größte Plus in absoluten Zahlen zu verzeichnen (+4,4 %), während Afrika mit einem prozentualen Zuwachs von 17,3% führte. In Lateinamerika und Nordamerika hingegen ging die Biofläche zurück.

Der weltweite Anteil des Ökolandbaus an der landwirtschaftlichen Fläche ist mit 1,6 % weiterhin deutlich ausbaufähig, doch mittlerweile 20 Länder bringen es schon auf einen Anteil von über 10 %. Liechtenstein führte auch 2021 mit einem Bioanteil von 40,2 % an der Gesamtfläche. In Samoa wurden 29,1 % der Fläche ökologisch bestellt, während es in Österreich 26,5 %, in Estland 22,4 %, in Sao Tome und Principe 21,1 % und in Schweden 20,2 % waren. Weltweit gab es dem Bericht zufolge 2021 rund 3,7 Millionen Bioproduzenten – ein Anstieg um 4,9 % gegenüber 2020. Fast die Hälfte (48,6 %) der Bioproduzent*innen leben in Asien, während 30,6 % in Afrika und 12 % in Europa ackern. Die meisten Biobäuerinnen und -bauern sollen in Indien leben (1,6 Millionen), gefolgt von Uganda mit rund 400.00 und Äthiopien mit 218.000 Personen. Genaue Zahlen sind hier jedoch schwer zu ermitteln, da einige Länder nur die Anzahl der Unternehmen, Projekte oder Erzeugergemeinschaften melden, sodass die Gesamtzahl der Produzent*innen noch höher liegen könnte.

Mit einem Plus von 4 Milliarden Euro gegenüber dem Vorjahr verzeichnete der globale Markt für Bioprodukte 2021 einen Zuwachs, der aber deutlich niedriger ausfiel als im Vorjahr, als ein Umsatzplus von 14 Milliarden verbucht werden konnte. Der Biomarkt wurde für 2021 auf umgerechnet 125 Milliarden Euro geschätzt. Hier sind die USA führend mit einem Umsatz von 48,6 Milliarden Euro vor Deutschland und Frankreich mit 15,9 bzw. 12,7 Milliarden Euro sowie China mit 11,3 Milliarden Euro. Am stärksten legte der Biomarkt in Estland mit 21 % zu. Die Schweizer Verbraucher*innen gaben am meisten für Biolebensmittel aus (durchschnittlich 425 Euro pro Nase), während die Menschen in Dänemark 384 Euro und in Luxemburg 313 Euro für Bio locker machten. Dänemark weist mit 13 % den höchsten Biomarktanteil am gesamten Lebensmittelmarkt auf.

Der Bund Ökologische Lebensmittelwirtschaft (BÖLW) wartete für Deutschland mit ganz aktuellen Zahlen für das Jahr 2022 auf. Der Bio-Umsatz lag im Jahr 2022 bei 15,3 Milliarden Euro. Das sind 25 % mehr als im Vor-Corona-Jahr 2019, aber ein Rückgang um 3,5 % gegenüber 2021 „Bio kann das Umsatzplus aus der Coronazeit trotz der aktuellen, anspruchsvollen Herausforderungen weitgehend halten“, betont Peter Röhrig, geschäftsführender Vorstand des BÖLW. Doch das Einkaufsverhalten habe sich verändert. „Wir sehen, dass Verbraucherinnen und Verbraucher verstärkt zu günstigeren Waren bzw. Einstiegsprodukten innerhalb eines Sortimentes greifen. Auch bei Bio. So zum Beispiel zu günstigen Bio-Nudeln.“ Was die Produktionsseite anbelangt, so ist ein stetiger, wenn auch verlangsamter Aufwärtstrend zu beobachten: In Deutschland erhöhte sich die Öko-Fläche im letzten Jahr um 66.996 Hektar auf nun insgesamt 1.869.227 Hektar – ein Zuwachs von 3,7% gegenüber 2021. Der Bio-Anteil an der gesamten Landwirtschaftsfläche stieg so auf fast 11 %. Es gibt mittlerweile 36.548 Bio-Höfe in ganz Deutschland – 784 konventionelle Betriebe stellten 2022 neu auf Bio um. Mit 14% aller Betriebe wirtschaftet jeder siebte Betrieb ökologisch. Deutschland hat sich das Ziel gesetzt, bis 2030 dann 30% zu schaffen. „Die Transformation von Landwirtschaft und Ernährung mit Bio als zentralem Baustein kann jedoch nur gelingen, wenn alle Politikbereiche gemeinsam den Umbau hin zum 30 Prozent Bio-Ziel auf den Weg bringen“, betont der BÖLW. Das Wirtschaftsministerium müsse dies mit auf Nachhaltigkeit fokussierte Förderprogramme und Bio-Gründungsfonds tun, das Finanzministerium mit einer ökologischen Steuerreform, das BMBF mit gut ausgestatteten Öko-Forschungsprogrammen sowie mehr Bildung zu Bio, das Umweltministerium mit Konzepten, die das volle Umweltleistungspotenzial von Bio heben, und das Verteidigungsministerium etwa durch Bio-Verpflegung der Bundeswehr. Nicht zuletzt sei das Landwirtschaftsministerium gefragt, Bio in allen Gesetzgebungsverfahren – von der GAP bis zur Kennzeichnung – einzuplanen. (ab)

25.01.2023 |

Kritischer Agrarbericht: Landwirtschaft und Ernährung krisenfest machen

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Der Kritische Agrarbericht 2023 (Foto: CC0)

Alle Jahre wieder im Januar ist es soweit: Wenn die Grüne Woche in Berlin und die „Wir haben es satt-Demo“ im Kalender stehen, kommt auch eine neue Ausgabe des „Kritischen Agrarberichts“ frisch aus der Presse. Mit dem soeben erschienenen „KAB 2023“ ist es nun die 31. Ausgabe des Jahrbuches, das vom AgrarBündnis e.V., einem Zusammenschluss von derzeit 26 Organisationen aus Landwirtschaft, Umwelt-, Natur- und Tierschutz sowie Verbraucher- und Entwicklungspolitik, herausgegeben wird. Auf 352 Seiten liefert die Publikation, die auch kapitelweise online abrufbar ist, eine Bestandsaufnahme der aktuellen politischen Debatten rund um Landwirtschaft und Ernährung, eine gesalzene Kritik am derzeitigen Agrarsystem, aber auch gute und hoffnungsstiftende Konzepte, Ideen und gelungene Leuchtturmprojekte aus der Praxis, die zeigen, wie es besser laufen könnte. Im Fokus der diesjährigen Ausgabe steht das Thema „Landwirtschaft & Ernährung für eine Welt im Umbruch“. 29 der insgesamt 46 Beiträge sind diesem Schwerpunkt gewidmet, der sich mit den multiplen Krisen beschäftigt, mit der die Welt und die Landwirtschaft gerade zu kämpfen haben. „Klima, Corona, Krieg, Welthunger, Artensterben: Die Landwirtschaft und das gesamte Ernährungssystem müssen nicht nur nachhaltiger werden, sondern auch resilienter, krisenfester“, erklärt Frieder Thomas, Geschäftsführer des Bündnisses. „Agrarindustrielle Methoden mit ihren ökologischen Kollateralschäden, der hohen Abhängigkeit von fossilen Energien und globalen Lieferketten sind dabei eher ein Problem als Teil der Lösung. Gebraucht werden neue Strukturen – dezentral, regional, vielfältig –, aber auch das Wissen um nachhaltige Produktionsmethoden.“ Beides müsse politische Unterstützung finden.

Den Auftakt zum Themenfokus bildet Benny Haerlin, Leiter des Berliner Büros der Zukunftsstiftung Landwirtschaft und einst Mitglied im Aufsichtsrat des Weltagrarberichts, mit seinem einleitenden Kapitel „Die Party ist vorbei – Aufbruch ins Ungewisse“, einem Überblick zu Landwirtschaft und Ernährung in Zeiten von Krieg und Dauerkrise. „Die Krise als das neue Normal wird die Menschen, die gegenwärtig auf diesem Planeten leben, wohl für den Rest ihres Lebens begleiten: ein Dauerzustand der Instabilität des Ökosystems Erde und der globalen menschlichen Gesellschaften“, so seine wenig rosige Prognose. „Die Welt ist aus den Fugen geraten und wir können nicht vorhersagen, auf welches neue Gleichgewicht sie zustrebt – falls ‚Gleichgewicht‘ dafür noch der passende Begriff ist.“ Die Menschheit habe in mehreren Bereichen „den ökologischen Gleichgewichtskorridor, den safe operating space des Holozäns, bereits überschritten“, wie schon Rockström und Co 2009 in einem wegweisenden Artikel in „Nature“ verkündeten. Die Dauerkrise sei vielschichtig: ökologisch, geopolitisch, wirtschaftlich, kulturell und erkenntnistheoretisch. Die Frage sei nicht mehr, „ob sie kommt, sondern wie zivilisiert wir als Gesellschaften mit ihr umgehen werden“, konstatiert Haerlin. Sein „Kleines Krisen-Panoptikum“ listet eine Krisen-Top-Ten und führt sie im Artikel weiter aus. Die industrielle wie die bäuerliche Landwirtschaft, inklusive der kleinbäuerlichen Subsistenzlandwirtschaft, gehe denkbar schlecht gerüstet in die aufziehenden Krisengewitter. „Während ein Teil der Menschheit mit einer absurden Mischung aus fossiler und technologischer Übersteuerung und Abhängigkeit zu viel vom Falschen produziert und konsumiert, kann ein anderer sich nur schwer selbst ernähren, weil es an Frieden, Sicherheit, Menschenrechten, besonders für Frauen, sowie an minimaler Ausbildung, Technik und regionalen Marktzugängen fehlt.“ Haerlin endet dennoch mit einem Lichtblick: „Langfristig wegweisend für neue und innovative Trampelpfade durch die Dauerkrisen sind Gemeinden, die ihre Energie schon heute gemeinsam vor Ort erzeugen und verteilen und daran gemeinschaftlich verdienen.“ Ähnliches scheine in vielen Varianten auch machbar bei Gesundheit, Pflege und Altenversorgung sowie bei der lokalen und regionalen Erzeugung und Versorgung mit Lebensmitteln, z.B. in Form von solidarischer Landwirtschaft, Mikrofarmen oder Erzeuger-Verbraucher- Genossenschaften. „Was in akuter Not und Katastrophen an praktischer Solidarität, Gemeinsamkeit und Zusammenhalt möglich ist, haben wir in den letzten Jahren immer wieder eindrucksvoll bewiesen. Das Prinzip ‚Freiwillige Feuerwehr‘ funktioniert.“

Im Anschluss folgt ein bunter Strauß lesenswerter Artikel, die 11 Oberkapiteln zugeordnet sind. Das erste und umfangreichste davon widmet sich der „Agrarpolitik und sozialen Lage“. Daniela Wannemacher, Leiterin Team Landnutzung beim BUND, und Phillip Brändle, Referent für Agrarpolitik bei der Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft, blicken auf die Gemeinsame Europäische Agrarpolitik (GAP) und kritisieren, dass die EU-Agrarreform den ökologischen und sozialen Herausforderungen nicht gerecht werde. Am 1. Januar begann eine neue Förderperiode und bis 2027 sollen alleine in Deutschland rund 30 Mrd. € EU-Fördermittel in die Landwirtschaft gesteckt werden. Neu eingeführt wurde etwa das Instrument der Öko-Regelungen (Eco Schemes), womit rund 25 % der Gelder aus der Ersten Säule an konkrete Leistungen, v.a. im Bereich des Biodiversitätsschutzes, gebunden sind. „Zur Umsetzung der Brüsseler Vorgaben haben die EU-Mitgliedstaaten nationale Strategiepläne erarbeitet, so auch Deutschland“, erklärt Brändle in der Pressemitteilung des AgrarBündnis. Doch diese Reform und ihre nationale Umsetzung reichten nicht aus, um die Ziele im Bereich des Umwelt-, Klima- und Tierschutzes zu erreichen und für eine gerechte Verteilung der Gelder zu sorgen. Zudem funkte der Krieg Russlands gegen die Ukraine dazwischen. „Minister Özdemir gab in der Folgezeit, gemeinsam mit den Bundesländern, dem Druck der Agrar- und Ernährungsindustrie nach und weichte die GAP zugunsten der ‚Ernährungssicherung‘ auf. So wurde die Fruchtfolgeregelung auf 2024 vertagt und die Verpflichtung zur Stilllegung von mindesten 4 % der Ackerfläche unter Berücksichtigung von Landschaftselementen im Zuge der Konditionalität ebenfalls 2023 ausgesetzt, sodass statt Brachflächen bestimmte Kulturen angebaut werden konnten, obwohl von wissenschaftlicher Seite mehrfach deutlich gemacht worden sei, dass der zu erwartende Effekt für die Produktion von Lebensmitteln marginal sei, schreiben die beiden Autor*innen. Brändle kritisierte, dass Özdemir die Chance, die GAP deutlich gerechter und ökologischer zu machen, bisher nicht genutzt habe. „Damit muss 2023 Schluss sein.“ Özdemir müsse baldigst einen praxistauglichen Fahrplan vorlegen, wie und in welchem Zeitraum die Bundesregierung aus den pauschalen Flächenprämien aussteigen werde. „Spätestens ab 2027 muss die GAP vollständig auf ein System zur Honorierung von Umwelt- und Tierwohlleistungen umgestellt werden, welches sich betriebswirtschaftlich lohnt und zudem die Fördergelder zwischen den Betrieben gerecht aufteilt.“ Das 1. Oberkapitel enthält u.a. auch eine Analyse der Carbon-Farming-Initiative der EU-Kommission, widmet sich der zunehmenden Bedeutung der Nebenerwerbslandwirtschaft für die agrarstrukturelle Entwicklung in Deutschland und beleuchtet das Tabu-Thema Physische Erkrankungen, Burnout und Depression in der Landwirtschaft und die Folgen.

Im 2. Kapitel „Welthandel und -ernährung“ zieht Stig Tanzmann, Referent für Landwirtschaft bei Brot für die Welt, die traurige Bilanz, dass eine Welt ohne Hunger in weite Ferne rückt und die Ziele der Agenda 2030 nicht mehr zu erreichen sind. Zwar habe der “Angriff Russlands auf die Ukraine und seine Folgen für das Welternährungssystem die Hungerthematik sprichwörtlich mit aller Gewalt zurück ins Zentrum der politischen und medialen Aufmerksamkeit gebracht“, da Russland ganz gezielt von Beginn an Hunger und Getreide als Waffe nutzte. Es werde nun endlich darüber berichtet, dass bis zu 828 Millionen Menschen hungern, doch Politik und Medien beschränkten sich dem Autor zufolge in ihrer Analyse der Lage allzu häufig auf den Krieg und seine Folgen. Dabei gerate aus den Augen, dass Hunger und Mangelernährung komplexe, gewachsene globale Probleme sind und schon vor Kriegsbeginn bis zu 811 Millionen hungerten. Die Corona-Pandemie habe bereits die Anfälligkeit internationaler Lieferketten offenbart, doch als Antwort habe man vor allem die Wiederherstellung der langen, von multinationalen Konzernen dominierten Agrarwertschöpfungsketten angestrebt. „Nicht im Fokus stand aber die Stärkung der Ernährungssouveränität und der Unterstützung lokaler Produzent:innen“, bemängelt Tanzmann. Das Recht auf Nahrung habe in der Debatte keine Rolle gespielt. Der Krieg sei nun „eine weitere Krisenschicht, die sich drastisch verschärfend auf ein sich seit Längerem bereits in der Krise befindendes Welternährungssystem“ lege. Auf internationaler und UN-Ebene habe es eher Rückschritte gegeben, als die „dringend notwendige Transformation des Agrar- und Ernährungssystems einzuleiten“ – angefangen mit dem UN Food Systems Summit (UNFSS) im Herbst 2021, der mit seinem diffusen Multistakeholder-Ansatz das Recht auf Nahrung geschwächt und „zur Fragmentierung der Welternährungsarchitektur“ beigetragen habe, indem er den UN-Ausschuss für Welternährung (CFS) in seiner Bedeutung herabgesetzt habe. Im Weiteren skizziert Tanzmann die aktuellen Entwicklungen und Reaktionen, internationale Konferenzen und Ereignisse seit Kriegsbeginn und benennt Versäumnisse bei der Lösung des Welthungerproblems. Die Lösung der Krise liege hingegen auf dem ‚Acker um die Ecke‘ und „in der Solidarität zwischen der ländlichen und urbanen Bevölkerung.“ Die anderen beiden Artikel in Kapitel 2 beschäftigen sich damit, wie Klimaschutz in der Landwirtschaft die Ernährungssicherheit fördern kann und wie die Abhängigkeit von synthetischen Düngemitteln diese und andere globale Ernährungskrisen anheizte.

Zahlreiche weitere spannende Artikel verbergen sich in den restlichen neun Kapiteln, die den Themen Ökologischer Landbau; Produktion und Markt; Regionalentwicklung; Natur und Umwelt; Wald; Tierschutz und Tierhaltung; Gentechnik; Agrarkultur sowie Verbraucherschutz und Ernährungskultur gewidmet sind. Wer nicht zwischen den Artikeln hin- und herklicken möchte, kann sich beim AbL-Verlag ein gedrucktes Exemplar des Kritischen Agrarberichts bestellen. Die Autor:innen der zehn Jahresrückblicke (Entwicklungen & Trends) im Bericht haben zudem für das jeweilige Politikfeld je fünf Kernforderungen an die Bundesregierung, aber auch an andere politische Entscheidungsträger:innen sowie Akteur:innen der Zivilgesellschaft, formuliert, die zudem als separates Dokument „10 x 5 Kernforderungen an die Politik“ zum Download bereitstehen. So fordern die Autor*innen des Jahresrückblicks in Kapitel 3 etwa eine Stärkung des Ökolandbaus, denn dieser beweise gerade in Krisenzeiten seine Stärken: Durch geringere Abhängigkeit von externen Betriebsmitteln, die Schaffung besserer Bedingungen für die Artenvielfalt und in der Regel einen Schwerpunkt auf Regionalität trage er zu Resilienz und Nachhaltigkeit unseres Ernährungssystems bei. Die Bundesregierung müsse erstens Bio in der Außer-Haus-Verpflegung stärken mit mindestens 50 % Bio in öffentlichen Kantinen, Mensen und Klinikküchen. Zweitens brauche es, um einen Ökoflächenanteil von 30 % zu erreichen, auch eine staatliche Informationskampagne für Verbraucher:innen. Drittens bedarf es des Ausbaus von Forschung, Aus- und Weiterbildung im Ökolandbau sowie viertens der Einbindung aller Ministerien im Rahmen der neuen Bio-Strategie, zum Beispiel des Wirtschaftsministeriums mit auf Nachhaltigkeit fokussierten Förderprogrammen. Fünftens müsse die Wahlfreiheit für Essen ohne Gentechnik durch ein starkes EU-Gentechnikrecht weiterhin abgesichert bleiben. Antje Kölling von Demeter weist darauf hin, dass 2023 ein entscheidendes Jahr für alle sei, die auch künftig Lebensmittel ohne Gentechnik anbauen und essen wollen, da die EU-Kommission an einem Gesetzesentwurf zu neuen Gentechnikverfahren (NGT) in der Landwirtschaft arbeite. „Es darf jedoch keine Gentechnik durch die Hintertür geben“, fordert Kölling. „Wahlfreiheit und Vorsorgeprinzip müssen weiterhin auch für neue Gentechnikverfahren gelten!“ (ab)

18.01.2023 |

Superreiche sahnen zwei Drittel des Vermögensplus seit 2020 ab

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Arm und Reich Seite an Seite (Foto: CC0)

Erstmals seit 25 Jahren haben extreme Armut und extremer Reichtum gleichzeitig zugenommen. Mit der Corona-Pandemie sind die Superreichen noch viel reicher geworden und die Ungleichheit hat sich weiter verschärft. Seit 2020 gab es weltweit einen Vermögenszuwachs von 42 Billionen US-Dollar, wovon sich das reichste Prozent der Weltbevölkerung 63 % unter den Nagel riss, während sich die übrigen 99% den Rest teilten. Das sind nur einige der niederschmetternden Botschaften des Berichts „Survival of the Richest”, den die Nothilfe- und Entwicklungsorganisation Oxfam am 16. Januar zum Auftakt des Weltwirtschaftsforums in Davos veröffentlichte. 828 Millionen Menschen hungern und damit etwa jede*r zehnte auf der Erde. Zugleich haben die weltweit größten Lebensmittel- und Energieunternehmen 2022 ihre Gewinne mehr als verdoppelt im Vergleich zum Mittel der Jahre 2018-2021 und sie schütteten 257 Milliarden US-Dollar und damit 84 % ihrer Übergewinne an ihre Aktionär*innen aus. „Während Millionen Menschen nicht wissen, wie sie Lebensmittel und Energie bezahlen sollen, bringen die Krisen unserer Zeit gigantische Vermögenszuwächse für Milliardär*innen“, betonte Manuel Schmitt, Referent für soziale Ungleichheit bei Oxfam Deutschland. Der Bericht zeigt, dass das Gesamtvermögen aller Milliardär*innen im Schnitt täglich um 2,7 Milliarden US-Dollar anwuchs, während gleichzeitig 1,7 Milliarden Arbeitnehmer*innen in Ländern leben, in denen die Lohnentwicklung mit der Inflation nicht Schritt hält.

Im Fokus des Berichts steht die Frage, wie durch Besteuerung der Reichen die derzeitigen Krisen und die stark zunehmende Ungleichheit bekämpft werden könnten. Die Berechnungen von Oxfam International basieren auf aktuellen Daten: Die Zahlen zu den reichsten Menschen der Welt stammen aus der World‘s Billionaires List 2022 von Forbes, während sich Vermögensdaten auf den Global Wealth Report 2022 der Credit Suisse und andere Quellen wie die Weltbank stützen. Eindrücklich legt der Bericht zunächst dar, wie die Superreichen in Zeiten von Pandemie und steigenden Lebensmittel- und Energiepreisen ihren Reichtum vermehren konnten. Zwischen Dezember 2019 und 2021 erhöhte sich das weltweite Vermögen von 421,5 auf 463,5 Billionen US-Dollar. Davon flossen 26 Billionen oder zwei Drittel in die Taschen des reichsten 1 Prozents der Menschheit, während 99% sich 16 Billionen teilen mussten. Bereits im letzten Jahrzehnt hatten sich die Zahl und das Vermögen der Milliardäre verdoppelt. Zwischen 2012 und 2021 wurde neues Vermögen im Wert von 127,5 Billionen geschaffen. Auf die oberen 1 % entfielen 69 Billionen bzw. 54 %, was zeigt, dass ihr Anteil am Kuchen seit Beginn der Pandemie deutlich größer geworden ist. Der Oxfam-Vergleich der Forbes-Listen der Milliardäre 2020 und 2022, für den Oxfam alle Zahlen anhand des US-Verbraucherpreisindex an den Stand Oktober 2022 angepasst hat, um die Inflation einzubeziehen und die Zahlen vergleichbar zu machen, zeigt, dass das Vermögen der Milliardäre real um 2,63 Billionen Dollar gestiegen ist. Zwischen den Daten der beiden Listen liegen 987 Tage, sodass das Vermögen der Superreichen jeden Tag um 2,7 Milliarden Dollar zunahm. In Deutschland profitierten die Reichsten noch stärker: Vom gesamten Vermögenszuwachs, der zwischen 2020 und 2021 hierzulande erwirtschaftet wurde, ginge 81 % an das reichste Prozent, während die restlichen 99 % nur 19% des Vermögenszuwachses verbuchten.

Versorgungsengpässe und unterbrochene Lieferketten, die durch die Pandemie und den Krieg in der Ukraine, das Verhalten der Unternehmen und den Klimawandel verursacht wurden, haben dazu geführt, dass die globalen Lebensmittelpreise 2022 im Vergleich zu 2021 um 18 % und die Energiepreise um 59 % gestiegen sind. Das hat vor allem ärmeren Menschen einen heftigen Schlag versetzt und viele in Armut gestürzt. Das Vermögen der Reichen und vieler Unternehmen hingegen ist mit den steigenden Lebensmittel- und Energiepreisen weiter gewachsen. Oxfam untersuchte die Gewinne von 95 großen Lebensmittel- und Energieunternehmen und stellte fest, dass sich ihre Gewinne im Jahr 2022 um mehr als das Zweieinhalbfache (256 %) im Vergleich zum Durchschnitt der Jahre 2018-2021 erhöhten. Sie erzielten insgesamt 306 Milliarden US-Dollar an Übergewinnen (definiert als 10 % über dem durchschnittlichen Nettogewinn 2018-2021) und schütteten 257 Milliarden und damit 84 % der Übergewinne an ihre Aktionär*innen aus. Steigende Gewinne für Unternehmen machen meist die Reichen reicher, da der Aktienbesitz sich vor allem in einkommensstärkeren Gruppen konzentriert. In den USA zum Beispiel befinden sich 53 % der Aktien im Besitz des reichsten 1 %. Die Walton-Dynastie, der die Hälfte von Walmart gehört, erhielt im vergangenen Jahr 8,5 Milliarden Dollar an Dividenden und Aktienrückkäufen. Der indische Milliardär Gautam Adani, Eigentümer großer Energiekonzerne, hat allein 2022 einen Vermögenszuwachs von 42 Milliarden Dollar (46 %) erzielt. Währenddessen haben viele Otto Normalverbraucher damit zu kämpfen, dass die Inflation die Preise in die Höhe treibt, ihre Löhne aber nicht mitziehen. Studien haben gezeigt, dass in den USA 54 % und in Großbritannien 59 % der Inflation auf gestiegene Unternehmensgewinne zurückzuführen sind. Die Weltbank spricht von der größten Zunahme der weltweiten Ungleichheit und dem größten Rückschlag bei der Armut seit dem 2. Weltkrieg und macht keinen Hehl daraus, dass die Welt ihr Ziel, die extreme Armut bis 2030 zu beenden, verfehlen wird. Das Gleiche gilt für das Hungerziel: Über 820 Millionen Menschen sind derzeit unterernährt.

Oxfam fordert daher eine systematische und umfangreiche Besteuerung der Reichen, vor allem des reichsten Prozents, das 45,6 Prozent des weltweiten Vermögens besitzt. „Jahrzehntelange Steuersenkungen für die Reichsten und Unternehmen auf Kosten der Allgemeinheit haben die Ungleichheit verschärft und dazu geführt, dass die Ärmsten in vielen Ländern höhere Steuersätze zahlen als Milliardär*innen“, sagt Manuel Schmitt. So zahlte Elon Musk zwischen 2014 und 2018 einen „wahren Steuersatz“ von etwa 3 %. Oxfam verglich dies mit einer Mehlverkäuferin in Uganda, die 80 Dollar im Monat verdient und von der lokalen Regierung erhobene Marktgebühren in Höhe von 40 % ihres Gewinns zahlt. Die Autor*innen argumentieren, dass in der jüngeren Geschichte die Reichsten weitaus höher besteuert wurden. „In den letzten vierzig Jahren haben die Regierungen weltweit die Einkommenssteuersätze für die Reichsten gesenkt. Gleichzeitig haben sie die Steuern auf Waren und Dienstleistungen erhöht, was die Ärmsten unverhältnismäßig stark belastet und die Ungleichheit zwischen den Geschlechtern noch verschärft“, heißt es im Bericht. Von jedem US-Dollar, den Staaten aus Steuern einnehmen, stammen aktuell nur vier Cent aus Steuern auf Vermögen. Die Hälfte aller Milliardär*innen lebt heute in Ländern ohne eine Erbschaftssteuer, was bedeutet, dass sie 5 Billionen US-Dollar steuerfrei an ihre Nachkommen weitergegeben können. Das ist mehr als das gesamte Bruttoinlandsprodukt des afrikanischen Kontinents. Das Einkommen der Superreichen stammt oft aus den Erträgen ihres Vermögens, doch die Steuersätze auf Kapitalerträge liegen in mehr als 100 Ländern im Durchschnitt bei nur 18 % – etwas weniger als die Hälfte des durchschnittlichen Spitzensteuersatzes in den OECD-Ländern. „Unser Bericht zeigt erneut: Dass von Steuersenkung für die Reichsten alle profitieren, ist ein Mythos. Konzerne und ihre superreichen Haupteigentümer*innen müssen endlich ihren fairen Beitrag zum Gemeinwohl leisten“, betont Schmitt.

Oxfam fordert die Regierungen auf, exzessive Übergewinne und hohe Vermögen stark zu besteuern und mit den Einnahmen in den Ausbau von sozialer Sicherung, Bildung und Gesundheit zu investieren. Gemeinsam mit anderen Institutionen hat Oxfam International errechnet, dass eine Steuer von bis zu 5 Prozent auf das Vermögen der Multimillionär*innen und Milliardär*innen der Welt 1,7 Billionen US-Dollar pro Jahr einbringen könnte. Dies würde u.a. ausreichen, um zwei Milliarden Menschen über die erweiterte Armutsgrenze der Weltbank von 6,85 US-Dollar pro Tag zu heben und universelle Gesundheitsversorgung und soziale Sicherung für die 3,6 Milliarden Menschen in Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen bereitzustellen. „Die Besteuerung der Superreichen ist die strategische Voraussetzung für den Abbau der Ungleichheit und die Wiederbelebung der Demokratie“, so Gabriela Bucher von Oxfam International. „Wir brauchen das für Innovation. Für stärkere öffentliche Dienstleistungen. Für eine glücklichere und gesündere Gesellschaft. Und für die Bewältigung der Klimakrise, indem wir in Lösungen investieren, die den irrsinnigen Emissionen der Reichsten entgegenwirken.“ Oxfam Deutschland fordert von der Bundesregierung ebenfalls eine systematische und weitreichende Besteuerung von Krisengewinnen und eine höhere Besteuerung reicher Menschen. Durch eine Übergewinnsteuer müssten exzessive Krisengewinne von Konzernen abschöpft werden. Die Vermögenssteuer müsse wieder eingeführt werden und es brauche angesichts der aktuellen Krisensituation eine einmalige Abgabe auf sehr hohe Vermögen. In Deutschland wird Vermögen im internationalen Vergleich bislang unterdurchschnittlich besteuert. (ab)

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