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30.11.2022 |

Brasilien: Sojaanbau für die EU heizt Entwaldung im Cerrado an

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Typische Cerrado-Landschaft bei Mato Grosso: Soja, soweit das Auge reicht (Foto: Jeff Belmonte, bit.ly/CerJeff bit.ly/4_CC_BY_2-0)

Der Sojaanbau im brasilianischen Cerrado – unter anderem auch für die Fütterung deutscher Masttiere – hat in den letzten 20 Jahren zur Zerstörung von 4,2 Millionen Hektar Land geführt. Darauf weist ein neuer Bericht hin, den die Deutsche Umwelthilfe (DUH) am 29. November gemeinsam mit der brasilianischen Recherche-NGO Repórter Brasil veröffentlichte. Das Papier belegt die dramatischen Auswirkungen des Sojaanbaus auf das Biom, das sich über knapp 25% des brasilianischen Staatsgebiets in elf Bundesstaaten erstreckt und eine zentrale Rolle als „Wasserspeicher“ für das Land ausübt, da dort Flüsse entspringen und drei wichtige Grundwasserspeicher liegen. „Der brasilianische Cerrado ist nicht nur die artenreichste Savanne der Welt. Mittlerweile zählt sie längst zu einem Hotspot für den Sojaanbau in Brasilien und wurde bereits zu großen Teilen zerstört. Und wofür? Für billiges Futtermittel und die deutsche Massentierhaltung“, kritisiert Sascha Müller-Kraenner, Bundesgeschäftsführer der DUH. Die Veröffentlichung des Berichts ist nicht zufällig gewählt: Anfang Dezember entscheiden die EU-Kommission, Rat und Parlament abschließend über eine EU-Verordnung gegen Entwaldung und über entwaldungsfreie Produkte. Doch die DUH befürchtet, der Cerrado könne hier nicht ausreichend berücksichtigt werden und fordert daher die Bundesregierung auf, sich für eine starke EU-Verordnung einzusetzen und den Cerrado darin aufzunehmen.

Gegenwärtig entfallen 52% der gesamten Sojaanbaufläche Brasiliens auf den Cerrado und dort insbesondere auf die Region Matopiba, dem neuen landwirtschaftlichen Grenzgebiet Brasiliens, das Gebiete in Maranhão, Piauí, Bahia sowie das gesamte Gebiet von Tocantins umfasst, heißt es in der Einleitung des Berichts. Die Sojaanbaufläche im Cerrado nahm von 7,5 Millionen Hektar in der Erntesaison 2000/2001 auf 20 Millionen Hektar im Jahr 2020/2021 zu – ein Anstieg von fast 170%. Im selben Zeitraum stieg die Anbaufläche für Soja in Matopiba von 970.000 Hektar auf 4,7 Millionen Hektar und somit fast auf das Fünffache. Die Geschichte der Besiedlung der Cerrado-Region zeigt, „dass die Ausweitung des Sojaanbaus für den globalen Rohstoffhandel nicht ohne Abholzung der einheimischen Vegetation, Ausbeutung von Wasserressourcen und Konflikte mit traditionellen Gemeinschaften vonstattenging“, schreiben die Autor*innen. Dies lässt sich nun auch in der Matopiba ablesen, wo die Expansion der Agrarindustrie zu einer enormen Belebung des Immobilienmarkts und einer intensiven Suche nach Land geführt, das schnell in landwirtschaftliche Flächen umgewandelt werden kann. „Unermessliche Flächen einheimischen Waldes wurden – und werden – eingezäunt, abgeholzt und in Plantagen umgewandelt, und es gibt deutliche Anzeichen für illegale Landnahme“, so der Bericht, der anhand von drei Fallstudien darstellt, wie einige der größten derzeit im Cerrado tätigen Handelsunternehmen Geschäftsbeziehungen zu Sojaproduzenten unterhalten, die in Landkonflikte und Fälle von Entwaldung verwickelt sind.

In dem Bericht werden Zahlen zur Abholzung zusammengetragen. Demnach war Soja zwischen 2000 und 2016 für 9% der Abholzung von Urwäldern in Südamerika verantwortlich. In diesem Zeitraum wurde fast die Hälfte (44%) der neuen Anbauflächen auf dem Kontinent im Cerrado erschlossen. Laut einem vom Brasilianischen Verband der Pflanzenölindustrie (ABIOVE, Associação Brasileira das Indústrias de Óleos Vegetais) finanzierten Bericht wird im Cerrado Soja auf 4,19 Millionen Hektar Flächen angebaut, die in den letzten 20 Jahren abgeholzt wurden – eine Fläche doppelt so groß wie Hessen. Das entspricht 14,4% der gesamten Entwaldung im Cerrado, doch die Hauptursache für die Abholzung dort bleibt nach wie vor die Viehzucht: 67% der Fläche wird als Weideland genutzt.

Als Reaktion auf öffentlichen Druck hin haben einige der größten in den Sojahandel involvierten Agrarkonzerne vor kurzem Pläne angekündigt, in ihren Lieferketten „Nullentwaldung“ zu erreichen. Cargill und ADM wollen dieses Ziel bis 2030 erreichen, wobei alle Biome einbezogen werden sollen, während Bunge und LDC für 2025 ähnliche Ziele angekündigt haben. „Theoretisch gibt es die „Nullentwaldung“ im brasilianischen Amazonasgebiet bereits seit über einem Jahrzehnt. Im Rahmen des Sojamoratoriums haben sich die größten Handelsunternehmen des Sektors verpflichtet, nach 2008 kein Soja mehr zu erwerben, das in entwaldeten Gebieten der Region angebaut wurde“, so die Autor*innen. Die Übertragung ähnlicher Kriterien auf den Cerrado ist nun erneut ein Zankapfel zwischen den verschiedenen Interessengruppen und es bestehen erhebliche Zweifel daran, dass sich die wichtigsten Agrarunternehmen im Cerrado daran halten werden. Zudem lässt sich dem Bericht zufolge der tatsächliche Ursprung von Soja durch Fälschung von Dokumenten durch die Farmer leicht verschleiern oder wenn Soja von Erzeugern bezogen wird, die nachweislich Sojabohnen aus illegal entwaldeten Gebieten angebaut haben, bleiben Sanktionen oft aus. Die Misserfolge bei der Überwachung des Sojamoratoriums im Amazonasgebiet sind ein Warnsignal auch für künftige Initiativen im Cerrado, so das Fazit des Berichts, der fordert, daraus Lehren für den Cerrado zu ziehen.

Die EU ist hier in der Verantwortung. 2021 exportierte Brasilien 86,1 Millionen Tonnen Sojabohnen, wobei China mit 70% der wichtigste Handelspartner war, gefolgt von der EU mit 8,4 Millionen Tonnen. Beim Sojaschrot (Gesamtexport 17,1 Millionen Tonnen) ist die EU der Hauptabnehmer. Die Niederlande waren mit 2 Millionen Tonnen der größte Importeur innerhalb der EU, gefolgt von Frankreich (1,3 Mio. Tonnen) und Deutschland (1 Mio. Tonnen). Schätzungsweise 20% der Sojaexporte aus dem Cerrado und dem Amazonasgebiet in die EU könnten Soja umfassen, die durch illegale Entwaldung gewonnen wurde, wie eine Studie brasilianischer Wissenschaftler im Fachjournal Science besagt. Laut der non-profit Transparenzinitiative Trase konzentriert sich ein Großteil des Entwaldungsrisikos durch den Import von Sojafuttermitteln in die EU auf den Cerrado. Die 4,6 Mio. Tonnen Soja, die 2018 direkt von dort in die EU exportiert wurden, stehen laut Trase in Verbindung mit einem Entwaldungsrisiko von knapp 26.000 Hektar. Somit konzentrieren sich fast zwei Drittel (65%) der durch Sojaimporte in die EU verursachten Entwaldung auf den Cerrado. Trotz illegaler Entwaldung und Landraubs soll der Cerrado womöglich nicht im Anfang Dezember stattfindenden finalen Trilog zur EU-Verordnung aufgenommen werden, wie die DUH befürchtet. Grund sei, dass der Europäische Rat sich mehrheitlich auf klassische Wälder wie den Amazonas-Regenwald beschränken möchte. Laut einer FAO-Definition wird die Savanne nur zu geringen Teilen als Wald und zu über 70% als sogenanntes „other wooded land“ eingestuft. Sollte sich der EU-Rat auf die Definition der FAO stützen, wären nur knapp 26% des Cerrado geschützt. Damit würde ein Großteil der durch die EU verursachten Entwaldung jedoch außer Acht gelassen, bemängelt der Umweltschutzverband. „Sollten sich die Hardliner im EU-Rat durchsetzen, besteht die Gefahr, dass Soja aus Landraub und Entwaldung weiter zu uns gelangt. Damit das nicht passiert, muss die Bundesregierung jetzt ihr politisches Gewicht in die Waagschale werfen, denn wir dürfen diese historische Chance nicht verpassen“, so Müller-Kraenner. Die DUH fordert daher die Bundesregierung auf, sich für die Aufnahme von Buschland und Trockenwäldern in die EU-Verordnung einzusetzen. (ab)

11.11.2022 |

IPES-Food: COP27 soll auf Agrarökologie statt nebulöse Konzepte setzen

Nebel
Nebulöse Konzepte bei COP27? (Foto: CC0)

Bevor die Weltklimakonferenz (COP27) in Ägypten überhaupt erst ihre Pforten öffnete, wurden erhebliche Zweifel daran laut, dass in Scharm el-Scheich der große Wurf im Kampf gegen den Klimawandel gelingen werde. Stattdessen mehrten sich Greenwashing-Vorwürfe – sei es gegen den UN-Gipfel, dessen Hauptsponsor Coca-Cola ist, als auch gegen dort vertretene Staaten, Konzerne und sonstige Akteure. Die Klimaaktivistin Greta Thunberg hatte ihre Teilnahme im Vorfeld abgesagt, da sie unter anderem zu geringe Beteiligungsmöglichkeiten für die Zivilgesellschaft beklagte. „Die Klimakonferenzen sind vor allem eine Bühne für Staats- und Regierungschefs und Menschen in Machtpositionen, um Aufmerksamkeit zu erhalten, indem sie viele verschiedene Arten des Greenwashing betreiben“, sagte sie dem Guardian. Vertreter*innen der NGOs Powershift Africa, Greenpeace und Climate Action Networks kritisierten, es seien viele Gas-Lobbyisten auf der Konferenz vertreten und sie drohe, zu einem „Greenwashing“-Festival zu verkommen. Auch UN-Generalsekretär António Guterres richtete scharfe Worte gegen die Öl- und Kohleindustrie, da manche Konzerne ihre üblen Klimabilanzen bewusst mit falschen Null-Emissions-Versprechen schönzureden versuchten. Dieses „toxische“ Greenwashing müsse aufhören. Am 12. November stehen nun die Landwirtschaft, die von ihr verursachten Emissionen und ihr möglicher Beitrag im Kampf gegen den Klimawandel beim „Adaptation and Agriculture Day“ im Fokus. Vor Gipfelbeginn wartete eine Arbeitsgruppe der Sustainable Markets Initiative (SMI), der Konzerne wie Mars, McDonald’s, Bayer und Yara angehören, mit einem Aktionsplan auf, in dem sie die Ausweitung der regenerativen Landwirtschaft fordern. Andere sprechen von klimasmarter Landwirtschaft, wieder andere fordern mehr Gelder für „naturbasierte Lösungen. Doch was ist damit genau gemeint?

Zu diesen Begriffen meldete sich Ende Oktober das International Panel of Experts on Sustainable Food (IPES-Food) mit einem neuen Papier zu Wort. Dessen Fazit lautet, dass auf internationalen Klima-, Biodiversitäts- und Ernährungsgipfeln immer mehr „grüne Schlagworte“ verwendet werden, die die Transformation der Ernährungssysteme eher behindern als sie zu beschleunigen. Das Expertengremium unter dem gemeinsamen Vorsitz von Olivier De Schutter, UN-Sonderberichterstatter für extreme Armut und Menschenrechte und einst für das Recht auf Nahrung, sowie Maryam Rahmanian, einer unabhängigen Expertin für Agrar- und Ernährungssysteme, ist der Ansicht, dass sich Agrar- und Lebensmittelkonzerne, internationale Wohltätigkeitsorganisationen und einige Regierungen derzeit verstärkt des Begriffs „naturbasierte Lösungen“ bedienen, um in der Diskussion um Agrar- und Ernährungssysteme die Nachhaltigkeitsagenda zu „kapern“. Oft hätten sie dabei problematische „Carbon Farming“-Programme zur Kohlenstoffspeicherung in Böden oder Kompensationsmechanismen („Carbon Offsetting“) im Gepäck, die in Partnerschaft mit großen Naturschutzverbänden durchgeführt werden. IPES-Food, dem auch mehrere einst am Weltagrarbericht beteiligte Wissenschaftler*innen angehören, nahm daher im Vorfeld von COP27 genauer unter die Lupe, wie die konkurrierenden Begriffe „Agrarökologie“, „naturbasierte Lösungen“ und „regenerative Landwirtschaft“ auf internationalen Konferenzen in letzter Zeit verwendet wurden und tauschte sich mit Forscher*innen des Institute of Development Studies (IDS) dazu aus. „Es herrscht ein Meinungsstreit über die Zukunft der Lebensmittelsysteme. Auf internationalen Gipfeltreffen wird mit sehr vagen Begriffen wie ‚naturbasierte Lösungen‘ um sich geworfen, die keine klare Definition aufweisen und die für jegliche Agenda eingespannt werden können“, sagte Melissa Leach, Expertin von IPES-Food und Direktorin des IDS. Schlimmstenfalls seien sie ein Deckmantel für ‚green grabs“, bei denen unter dem Vorwand von Klima- und Umweltschutz die Rechte von Menschen untergraben werden sowie eine Aneignung von Land und Ressourcen stattfindet, von denen diese abhängig sind. „COP27 muss sehr vorsichtig bei der Verwendung dieser mehrdeutigen Begriffe sein und Lösungen ablehnen, die nicht klar definiert sind“, betonte sie.

Laut dem IPES-Papier (Smoke & Mirrors: Examining competing framings of food system sustainability) herrscht breiter Konsens über die Notwendigkeit, Ernährungssysteme nachhaltiger zu machen, aber es besteht Uneinigkeit darüber, auf welche Art und Weise dieses Ziel verfolgt werden soll. In den letzten Jahren hätten Begriffe wie „regenerative Landwirtschaft“ und „naturbasierte Lösungen“ auf dem internationalen Parkett, in der Entwicklungspolitik und bei Agrar- und Lebensmittelkonzernen an Popularität gewonnen. Diese Begriffe reihen sich ein in eine wachsende Sammlung von Konzepten und Ideen, die oft als Schlagworte für nachhaltige Entwicklung verwendet werden, wenn über die Zukunft von Ernährungssystemen debattiert wird. Dazu gehören z.B. ‚nachhaltige Landwirtschaft‘, ‚klimasmarte Landwirtschaft‘, ‚naturverträgliche Lebensmittelproduktion‘, ‚nachhaltige Intensivierung‘, ‚konservierende Landwirtschaft‘ und so weiter. Das Papier konzentriert sich auf drei Konzepte: Agrarökologie, naturbasierte Lösungen und die regenerative Landwirtschaft und betrachtet ihre Ursprünge, Entwicklung und Verwendung in Diskussionen über die Zukunft von Landwirtschaft und Ernährung. Die Autor*innen analysieren, wie diese Begriffe vor, während und im Nachgang zu drei wichtigen Konferenzen im Jahr 2021 verwendet wurden: dem UN Food Systems Summit (UNFSS), der UN-Klimakonferenz in Glasgow (COP26) und der UN-Biodiversitätskonferenz (CBD COP15). Zudem schauten sie sich auch deren Verwendung in anderen Bereichen an, z.B. bei Nachhaltigkeitspläne von Unternehmen, Entwicklungsinitiativen und Stiftungen.

IPES-Food beobachtet, dass die umstrittene Idee der „naturbasierten Lösungen“ auf internationalen Gipfeltreffen rasch an Boden gewinnt. Der Begriff war auf dem UNFSS-Gipfel sehr präsent, wurde bei einigen COP26-Verhandlungen kontrovers diskutiert und bei Verhandlungen zum „Übereinkommen über die biologische Vielfalt“ (CBD) für die Zeit nach 2020 von einigen Parteien stark gepusht, während andere es vehement ablehnten. Beim UNFSS wurde in früheren Phasen der Begriff ‚naturverträglich‘ (nature-positive) bevorzugt. In den Dokumenten und Prozessen zum Gipfel wurden ‚naturbasiert‘ und ‚naturverträglich‘ allen möglichen Substantiven vorangestellt, von naturbasierter Landwirtschaft bis hin zu naturverträglichen Ernährungssystemen, Ansätzen, Praktiken und Lösungen. Das deutet den Autor*innen zufolge darauf hin, dass die Begriffe auf eine unpräzise Weise verwendet werden, die möglicherweise dazu diene, die genauen und eventuell umstrittenen Ansätze dahinter (z. B. Kohlenstoffausgleich), die von Befürwortern naturbasierter Lösungen vorangebracht werden wollen, zu verschleiern. Der UNFSS war um fünf Themenschwerpunkte (action tracks) herum organisiert und Track 3 widmete sich einer „naturverträglichen Produktion“. IPES-Food beklagt, dass dem Konzept der naturbasierten Lösungen keine allgemein anerkannte Definition und keine auf Transformation ausgerichtete Vision zugrunde liege und es genutzt werde, um das Weiter-wie-bisher der Agrarindustrie fortzuschreiben. Es sei ein „entpolitisiertes Konzept, das Macht- und Wohlstandsgefälle außer Acht lasse, die bedingen, dass Ernährungssysteme nicht nachhaltig sind“. Daher sei das Konzept ungeeignet, um den tiefgreifenden, strukturellen Wandel anzustoßen, der nötig ist, um Ernährungssysteme zu schaffen, die wirklich nachhaltig in allen drei Dimensionen sind: ökologisch, sozial und wirtschaftlich. Zudem sei der Begriff oft mit riskanten Programmen zur CO2-Kompensation verknüpft, deren Nutzen nicht belegt sei, die aber die Macht der Agrarindustrie festigen. Eine Transformation der Ernährungssysteme würde so verwässert.

Im Gegensatz dazu ist Agrarökologie – das zweite Konzept im Fokus – durch demokratische und inklusive Governance-Prozesse definiert worden und wird durch jahrelange wissenschaftliche Forschung und soziale Bewegungen unterstützt. Auf internationalen Gipfeltreffen dagegen wird sie recht selten erwähnt. Den Autor*innen zufolge stellt die Agrarökologie einen inklusiveren und umfassenderen Weg hin zur Transformation unserer Lebensmittelsysteme dar, weil sie soziale und ökologische Aspekte der Nachhaltigkeit miteinander verbindet, das gesamte Ernährungssystem in den Blickt nimmt, Machtungleichheiten berücksichtigt und aus einer Breite an Wissen schöpft, wobei marginalisierte Stimmen gehört werden. „Die Agrarökologie ist das einzige der drei Konzepte, das in einem langen Prozess umfassender und internationaler Beratungen Klarheit und konzeptionelle Reife erlangt hat“, heißt es in dem Papier. 2018 legte die Welternährungsorganisation FAO nach einem vierjährigen Beratungsprozess die ‚10 Elemente der Agrarökologie‘ fest. Dieser Rahmen markierte einen Meilenstein auf dem Weg, die Agrarökologie in die allgemeine politische Debatte einzubringen und eine ganzheitliche Version davon zu etablieren, die auch Komponenten der sozialen Gerechtigkeit umfasst. Das Konzept reifte 2019 weiter, als das Hochrangige Expertengremium (HLPE) des UN-Ausschusses für Welternährungssicherheit (CFS) diese 10 Elemente in 13 Handlungsgrundsätze überführte, die als Leitschnur für die agrarökologische Transformation des Lebensmittelsystems dienen sollten. Beim UNFSS wurde die Agrarökologie als eine ‚naturbasierte Lösung‘ unter Track 3 erwähnt, die sich als „bahnbrechende Lösung“ abzeichne. IPES-Food kommt jedoch zu dem Schluss, dass die Agrarökologie bei COP, CBD und UNFSS nicht als übergeordneter Rahmen verwendet wird. Die fehlende Einbeziehung von Agrarökologie und Ernährungssouveränität war einer der Gründe, warum Hunderte zivilgesellschaftlicher Gruppen den Welternährungsgipfel boykottierten. Seine Ergebnisse bleiben nach wie vor heftig umstritten. Auch beim Klimagipfel in Glasgow wurde die Agrarökologie stiefmütterlich behandelt und in dem bisher konkretesten Ergebnis der CBD, der Erklärung von Kunming, findet sie keine Erwähnung.

Die „regenerative Landwirtschaft“ als drittes Konzept ist in der internationalen Politik weniger präsent, besagt das Kurzdossier. Geprägt wurde er vom „Rodale Institute“, einer US-Organisation, die sich für die Erforschung des ökologischen Landbaus einsetzt und seit über 40 Jahren einen Systemvergleich zwischen Bio- und konventioneller Landwirtschaft durchführt. Akteure, die sich für nachhaltige Lebensmittelsysteme einsetzen, verwenden den Begriff, um sich auf die Regeneration natürlicher Ressourcen und vor allem von Böden zu beziehen. Aber auch Agrar- und Lebensmittelkonzerne (darunter Walmart, Pepsi und Cargill) berufen sich auf das Konzept in ihren Nachhaltigkeitsstrategien, oft in Verbindung mit Programmen zur CO2-Kompensation, bei denen die Dimension der sozialen Gerechtigkeit keine Rolle spielt - oder wie zuletzt der SIM-Aktionsplan. „Regenerative Landwirtschaft ist ein Begriff am Scheideweg. Die Hervorhebung der Prinzipien, die er mit der Agrarökologie teilt (...), kann dazu beitragen, die regenerative Landwirtschaft der Vereinnahmung durch Unternehmen wieder zu entziehen und sie mit konzeptioneller Klarheit zu füllen“, betonen die Autor*innen.

Das Papier enthält auch eine Reihe von Empfehlungen für jene politischen Akteure und Beobachter, die sich mit Ernährung, Klima und Umwelt befassen, inklusive staatliche Vertreter*innen auf internationaler Ebene. IPES-Food ruft sie dazu auf, Lösungen abzulehnen, denen es an klaren Definitionen mangelt, die Mehrdeutigkeit ausnutzen und ein Weiter-wie-bisher der Agrarindustrie verschleiern. Es reiche nicht, Ernährungssysteme auf die Agenda zu setzen. Sichergestellt werden müssen inklusive globale Prozesse, die auf einem gemeinsamen Verständnis bezüglich der Transformation der Ernährungssysteme beruhen, sowie eine umfassende sozial und ökologisch nachhaltige Vision für das Ernährungssystem. Business as usual durch naturbasierte Lösungen, wie sie beim UNFSS zum Ausdruck kamen, sollten auf der Klimakonferenz in Ägypten abgelehnt werden. „COP27 steht vor wichtigen Entscheidungen zur Landwirtschaft. Ein rascher Übergang zu nachhaltigeren und widerstandsfähigeren Ernährungssystemen ist unerlässlich, wenn wir die globale Erwärmung begrenzen und massive Ernteausfälle verhindern wollen“, sagte IPES-Food-Expertin Molly Anderson, die am Middlebury College lehrt. Undefinierte Begriffe wie ‚naturbasierte Lösungen‘ würden international verwendet werden, um den Fokus auf vage Bestrebungen zu lenken und dies sei nur eine weitere Form des Greenwashing. Echte Lösungen für Ernährungssysteme entstünden durch globale, beratende und demokratische Prozesse und die Agrarökologie erfülle diese Kriterien am besten. (ab)

14.10.2022 |

WHI 2022: Krisen verschärfen weltweite Hungersituation

Tansania
Zugang zu Nahrung: ein oft verwehrtes Menschenrecht (Foto: CC0)

Die weltweite Hungersituation hat sich aufgrund mehrfacher Krisen und Konflikte dramatisch zugespitzt und die Bemühungen, den Welthunger bis 2030 zu beseitigen, geraten immer weiter ins Stocken. Das ist die Kernaussage des Welthunger-Index (WHI) 2022, der am 13. Oktober im Vorfeld des Welternährungstages von der Welthungerhilfe und Concern Worldwide veröffentlicht wurde. Sie deckt sich mit den Botschaften vieler anderer Berichte von UN-Organisationen und NGOs, die in den letzten Monaten vor einer sich anbahnenden Hungerkrise warnen. Der aktuelle Welthunger-Index zeigt, dass sich die aktuellen Krisen gegenseitig verstärken: „Durch die toxische Mischung aus bewaffneten Konflikten, Klimakrise und Covid-19 Pandemie waren bereits vor dem Krieg in der Ukraine Millionen Menschen mit enormen Preissteigerungen bei Nahrungsmitteln konfrontiert gewesen. Der Krieg in der Ukraine hat dies verschärft und so werden aus den weltweiten Hungerkrisen zunehmend Katastrophen“, sagte Marlehn Thieme, Präsidentin der Welthungerhilfe. Im Jahr 2021 mussten bis zu 828 Millionen Menschen hungern. Besonders besorgniserregend ist die Lage am Horn von Afrika, wo die schlimmste Dürre seit 40 Jahren herrscht. In Somalia erleben Menschen in einigen Regionen bereits eine lebensbedrohliche Hungersnot. Die Weltgemeinschaft wird den Hunger in der Welt bis 2030 nicht einmal ansatzweise beseitigen können, wenn wir so weitermachen wie bisher, lautet die traurige Prognose des Berichts, die sich damit kaum von denen der letzten Ausgaben unterscheidet.

Der Welthunger-Index wird jedes Jahr von der Welthungerhilfe und der irischen Hilfsorganisation Concern Worldwide herausgegeben. Die diesjährige Ausgabe wertete Daten zur Ernährungslage von 136 Ländern aus. In den Index fließen vier Indikatoren ein: Der Anteil der Unterernährten an der Bevölkerung gemessen an der Deckung des Kalorienbedarfs, den Anteil von Kindern unter fünf Jahren, die an Auszehrung leiden (zu niedriges Gewicht im Verhältnis zur Körpergröße) oder die wachstumsverzögert sind (zu geringe Körpergröße im Verhältnis zum Alter, ein Anzeichen für chronische Unterernährung) sowie die Sterblichkeitsrate von Kindern unter fünf. Darauf basierend wird der WHI-Wert auf einer 100-Punkte-Skala ermittelt, wobei 100 der schlechteste Wert ist. Die Lage jedes Landes wird als niedrig, mäßig, ernst, sehr ernst oder gravierend eingestuft. Für 121 Länder lagen 2022 verlässliche Daten zu allen Indikatoren vor, während 15 Länder eine unvollständige Datenlage aufwiesen, sodass kein WHI-Wert berechnet werden konnte. Für acht dieser Länder reichte die Datenlage zumindest für eine vorläufige Einstufung des Hunger-Schweregrads. Demnach ist in 44 Ländern die Hungersituation nach wie vor ernst oder sehr ernst. Sehr ernst ist sei in neun Ländern: der Zentralafrikanischen Republik, Tschad, der Demokratischen Republik Kongo, Madagaskar und Jemen. Auch Burundi, Somalia, Südsudan und Syrien wurden dieser Kategorie vorläufig zugeordnet, auch wenn Datengrundlage unsicher ist. „Vor allem für Teile Somalias ist eine dramatische Entwicklung zu befürchten: Bis Juli 2023 könnten etwa 1,8 Millionen Kinder unter fünf Jahren (54,5 Prozent aller Kinder des Landes) von akuter Fehlernährung betroffen sein“, heißt es in dem Bericht. Der Jemen ist das Land mit dem höchsten WHI-Wert. Gewaltkonflikte und die Abhängigkeit von Nahrungsmittelimporten beeinträchtigen die Ernährungssicherheit der Menschen massiv. Die Zentralafrikanische Republik verzeichnet den zweithöchsten WHI-Wert. Dort sind Gewalt und Vertreibung Hauptursachen für den Hunger.

Bei 20 Ländern, die den Kategorien mäßiger, ernster oder sehr ernster Hunger zugeordnet sind, lagen die WHI-Werte 2022 höher als im Jahr 2014, dem ersten Referenzjahr des Berichts. Betrachtet man den globalen Durchschnittswert, gab es in den letzten Jahren bei der Bekämpfung des Hungers kaum noch Fortschritte. Der globale WHI-Wert lag 2022 bei 18,2 und damit einem mäßigen Hungerniveau. 2014 lag er nur geringfügig höher bei 19,1. Positiv zu verbuchen seien zwar leichte Fortschritte in 32 Ländern, in denen sich die WHI-Werte seit dem Jahr 2000 mindestens halbiert haben. Diese Fortschritte entwickeln sich jedoch zu langsam. Ohne einen grundlegenden Richtungswechsel werden schätzungsweise 46 Länder bis 2030 kein niedriges Hungerniveau erzielen können. Doch allein die Tatsache, dass ein Land oder eine Region „nur“ einen niedrigen oder mäßigen Schweregrad an Hunger aufweist, heißt nicht, dass die Lage dort nicht allzu verheerend ist. Dem Bericht zufolge zeigt einer der vier WHI-Indikatoren – die Verbreitung von Unterernährung – auf, dass der Anteil der Menschen ohne regelmäßigen Zugang zu ausreichend Kalorien zunimmt. So ist die Unterernährungsrate in Westasien und Nordafrika in den letzten Jahren gestiegen und zwar von 6,1 % im Jahr 2010 auf 8,6 % im Jahr 2021, den höchsten Wert seit 2001. Auch in der Region Lateinamerika/Karibik ist der Trend problematisch: Zwar gilt hier ein noch niedriges Hungerniveau, aber die Unterernährungsquote ist seit 2014 (5,3 %) auf 8,6 % im Jahr 2021 geklettert.

Der Schwerpunkt des diesjährigen Berichts weist darauf hin, wie wichtig neben kurzfristigen Nothilfemaßnahmen die Schaffung von gerechten, nachhaltigen und krisenfesten Ernährungssystemen ist. Die Mitbestimmung lokaler Akteure bei der nationalen Ernährungspolitik spielt dabei eine Schlüsselrolle. Danielle Resnick, die für Brookings Institution und das International Food Policy Research Institute arbeitet, hat hierzu als Gastautorin ein Kapitel beigesteuert. „Angesichts eines globalen Ernährungssystems, das ungeeignet ist, Armut und Hunger nachhaltig zu beenden, finden Bürger*innen innovative Wege, die Ernährungspolitik auf lokaler Ebene zu verbessern und Entscheidungsträger*innen im Kampf gegen Ernährungsunsicherheit und Hunger zur Verantwortung zu ziehen“, schreibt sie. Durch aktuelle Entwicklungen zur Dezentralisierung von Regierungsfunktionen hätten Lokalregierungen in einer Reihe von Ländern mehr Autonomie und Autorität gewonnen, auch in Bezug auf entscheidende Funktionen der Ernährungssysteme. Doch in anderen Ländern werden zivilgesellschaftliche Räume zunehmend eingeschränkt, was die Bürger*innen daran hindert, ihr Recht auf angemessene Nahrung einzufordern und zu verwirklichen. „Das Recht auf Nahrung muss bei der Transformation der Ernährungssysteme im Mittelpunkt stehen. Dabei ist es von zentraler Bedeutung, dass die Zivilgesellschaft vor Ort Möglichkeiten hat, die jeweiligen staatlichen Strukturen zu überprüfen und Verbesserungen einklagen zu können“, betont daher auch Mathias Mogge, Generalsekretär der Welthungerhilfe. „Nur wenn die Gemeinschaften und Bäuerinnen und Bauern mit ihrem lokalen Wissen und ihren konkreten Bedürfnissen mitbestimmen, können nachhaltige Lösungen für die Beseitigung des Hungers gefunden werden.“

Der Bericht enthält zudem eine Reihe an Handlungsempfehlungen. Das Recht auf Nahrung sollte in nationalem Recht verankert und durch Beschwerdemechanismen gestützt werden. Regierungen sollen auf allen Ebenen eine inklusive Koordinierung ernährungsbezogener Strategien fördern. Planungs- und Haushaltsverfahren sollten Machtungleichgewichte und die Stimmen der vulnerabelsten Gruppen vorrangig berücksichtigen. Dies erfordert ein klares Verständnis der Bürger*innen ihrer Rechte, der relevanten Prozesse in Ernährungssystemen sowie Zugang zu Daten und Informationen. Zuständigkeiten für die Ernährungssicherung sollten auf untere Verwaltungsebenen übertragen und vermehrt lokale Ressourcen bereitgestellt werden. Mehr Geld müsse auch die internationale Gemeinschaft definitiv in die Hand nehmen, um Erfolge zu erzielen: „Wir müssen schnell auf die humanitären Notlagen reagieren und sowohl flexible und höhere Mittel zur Verfügung stellen und zugleich größere Investitionen für die Transformation der Ernährungssysteme bereitstellen“, fordert Marlehn Thieme. Je länger wir warten, desto geringer die Erfolgsaussichten. „Prävention zahlt sich aus. Investitionen, die heute getätigt werden, können künftige Krisen abwenden, die noch teurer und tragischer sein könnten“, schreiben Mathias Mogge und Dominic MacSorley, Vorstandsvorsitzender von Concern Worldwide, in ihrem Vorwort zum Bericht. „Die Verantwortung für die Beendigung des Hungers und die Sicherstellung des Rechts auf Nahrung für alle dürfen wir nicht der nächsten Generation zuschieben. Es ist unsere Pflicht, jetzt zu handeln.“ (ab)

12.10.2022 |

Rote Liste: 37% der Schwebfliegenarten in Europa könnten schwinden

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Eine Schwebfliegenart (Foto: CC0)

Wenn vom Insektensterben die Rede ist, stehen häufig Bienen, Hummeln und Schmetterlinge im Fokus. Die Schwebfliege fristet dagegen ihr Dasein fernab des Rampenlichts, auch wenn sie nach den Bienen die zweitwichtigsten Bestäuber in der Landwirtschaft sind. Nun schlägt jedoch der Weltnaturschutzverband IUCN Alarm, der die Rote Liste der bedrohten Arten herausgibt: Rund 37% aller Schwebfliegenarten in Europa sind vom Aussterben bedroht. Dies geht aus einer Auswertung der Roten Liste für Europa hervor, die von der EU-Kommission in Auftrag gegeben und finanziert wurde. Vor allem der Klimawandel, Pestizide und eine nicht nachhaltige Land- und Forstwirtschaft machen den Schwebfliegen zu schaffen. „Diese erste Auswertung der Europäische Roten Liste in Bezug auf Schwebfliegen unterstreicht ihre immense Vielfalt und ihre zentrale Rolle in unseren Agrar- und Ernährungssystemen. Genau diese Systeme sind jedoch eine der Hauptursachen für den Rückgang der Schwebfliegen“, beklagt Dr. Bruno Oberle, Generaldirektor der IUCN.

Die Einteilung der IUCN umfasst mehrere Kategorien, die von „unzureichende Datengrundlage“ über „nicht“ und „potentiell gefährdet“ sowie drei Gefährdungsstufen bis hin zu ausgestorben reichen. Die Auswertung der Roten Liste für Europa ergab, dass 314 von 890 Schwebfliegenarten in Europa den hohen Gefährdungskategorien „gefährdet“, „stark gefährdet“ oder „vom Aussterben bedroht“ zuzuordnen sind. Schwebfliegen (Syrphidae) werden auch Schwirrfliegen genannt und gehören zu der Familie der Zweiflügler. Sie bringen es auf bis zu 300 Flügelschläge in der Sekunde und können daher wie auch der Kolibri längere Zeit an einer Stelle in der Luft „schweben“. Um sich Vögel und weitere Fressfeinde vom Leibe zu halten, versuchen viele Schwebfliegen, mit einer schwarz-gelben Farbzeichnung des Hinterleibs gefährlich auszusehen, aber sie stechen nicht. Ausgewachsene Schwebfliegen ernähren sich von Nektar und Pollen und sind daher neben Bienen die zweitwichtigste Bestäubergruppe. Sie spielen auch eine wichtige Rolle in der „Schädlingsbekämpfung“, da viele heimische Arten mit Vorliebe Blattläuse auf dem Speiseplan stehen haben. Sie kontrollieren z.B. auf natürliche Weise die Grüne Pfirsichblattlaus, die im Pfirsichanbau gerne Schäden verursacht.

Die intensive Landwirtschaft ist die größte Bedrohung für Schwebfliegen in Europa und betrifft mehr als die Hälfte (475) aller 890 Arten, teilt der IUCN mit. Zu den nicht nachhaltigen landwirtschaftlichen Praktiken, die den Schwebfliegen das Leben schwer machen, gehören die Umwandlung von geeignetem Lebensraum, die Verschlechterung ihrer Habitate durch Überweidung sowie die Fragmentierung von natürlichen Lebensräumen. Außerdem sind mindestens 55 Arten in Europa durch den Einsatz von Pestiziden bedroht. „Um etwas am Schicksal der Schwebfliegen zu ändern, müssen wir dringend alle Sektoren unserer Wirtschaft und insbesondere die Landwirtschaft so umgestalten, dass sie sich positiv auf die Natur auswirken und nachhaltig sind“, sagte Dr. Bruno Oberle. Weitere Gefahren für die Schwebfliegen gehen von dem grundsätzlichen Verlust oder der Verschlechterung ihrer Lebensräume aus, vor allem dem Verschwinden von alten Bäumen, unter anderem durch kommerzielle Forstwirtschaft, Stadtentwicklung und Klimawandel. Bei mehr als einem Viertel (244) der untersuchten Arten wurde ermittelt, dass sich ihre Lebensräume infolge des Klimawandels und der damit verbundenen größeren Häufigkeit von Bränden verschlechtern, verlagern und verändern. Da Waldbrände besonders Totholz und alte Bäume und damit einen Lebensraum von Schwebfliegen vernichten, müssen Schwebfliegen in neue Gebiete ausweichen.

Der IUCN betont, dass eine Transformation der Landwirtschaft notwendig sei, um die Lebensräume vieler Schwebfliegenarten zu schützen und sie vorm Aussterben zu bewahren. Es seien gezielte gebietsbezogene Erhaltungsmaßnahmen erforderlich, um gerade Feuchtgebiete, alte Wälder mit alten Bäumen und naturnahe Lebensräume außerhalb von formell geschützten Gebieten zu bewahren. „Die wichtigste Maßnahme, um den Rückgang der Schwebfliegenpopulationen aufzuhalten, ist der Schutz ihrer Lebensräume und die Vernetzung von Lebensräumen in der Landschaft. Am vordringlichsten ist es, alte Bäume mit Stammhöhlen, Baumlöchern, Saftrinnen, herabgefallenen Ästen und Baumstümpfe zu schützen – die Mikrohabitate, in denen sich die Larven einer Vielzahl von Arten ernähren, darunter auch viele bedrohte Arten“, erklärt Dr. Francis Gilbert, Ko-Vorsitzender einer IUCN-Expertengruppe für Schwebfliegen. Aber auch Blühstreifen mit Wildblumen am Ackerrand oder die Wiederherstellung von Hecken in der Agrarlandschaft können Schwebfliegen helfen. Neben der Wiederherstellung von Ökosystemen ist die Reduzierung von Treibhausgasemissionen, um den Klimawandel abzumildern, ein wichtiger Beitrag zur Rettung der Schwebfliegen und damit zu unserer Ernährungssicherheit. (ab)

22.09.2022 |

Oxfam: Akuter Hunger in „Klima-Hotspots“ nimmt stark zu

Vertrocknet
Klimawandel und Hunger gehen Hand in Hand (Foto: CC0)

In den zehn weltweit am stärksten von extremen Wetterereignissen betroffenen „Klima-Krisenherden“ ist die Zahl der Menschen, die an akutem Hunger leiden, in den letzten Jahren enorm angestiegen. Darauf macht eine neue Publikation von Oxfam International aufmerksam, die am 16. September erschienen ist. Demnach hat sich der akute Hunger in diesen Ländern während der letzten sechs Jahre mehr als verdoppelt. Laut der Organisation ist der Zusammenhang zwischen wetterbedingten Krisen und dem Anstieg des Hungers in diesen und anderen Ländern „eindeutig und unbestreitbar“. In dem Kurzbericht „Hunger in a heating world“ heißt es: „Die Klimakrise verstärkt zunehmend Bedrohungen und verbündet sich so mit anderen Hauptursachen von Hunger, wie Konflikten, wirtschaftlichen Schocks, Vertreibung, Armut und wachsender Ungleichheit.“ Der Klimawandel erhöhe den Druck auf die Ernährungssysteme, untergrabe die Ernährungssicherheit und erhöhe Sicherheitsrisiken. „Klimawandel ist nicht länger nur eine tickende Zeitbombe, sondern eine, die gerade vor unseren Augen explodiert“, betont Gabriela Bucher, die Generaldirektorin von Oxfam International. „Die Klimakrise bringt mehr und mehr extreme Wetterverhältnisse wie Dürren, Wirbelstürme und Überschwemmungen mit sich – diese haben sich in den letzten 50 Jahren verfünffacht, treten immer öfter auf und fordern immer mehr Todesopfer.“

Oxfam nahm jene zehn Länder genauer unter die Lupe, für die es von den Vereinten Nationen seit dem Jahr 2000 die meisten humanitären Hilfsaufrufe in Reaktion auf extreme Wetterereignisse gegeben hatte. Das waren Somalia, Haiti, Dschibuti, Kenia, Niger, Afghanistan, Guatemala, Madagaskar, Burkina Faso und Simbabwe. Für Somalia und Haiti etwa zählte Oxfam in den letzten zwei Jahrzehnten 16 bzw. 12 UN-Hilfsaufrufe. Die Berechnungen zu den von akutem Hunger betroffenen Menschen basieren auf dem „Global Report on Food Crises“ (GRFC), einem UN-Bericht, der seit 2016 jährlich vom Food Security Information Network veröffentlicht wird. Der GRFC verwendet eine Skala (IPC), die das Ausmaß der Ernährungsunsicherheit in fünf Phasen (minimal, angespannt, Krise, Notfall und Katastrophe/Hungersnot) einteilt. Aktuell leiden 47,5 Millionen Menschen in den zehn untersuchten Ländern an akutem Hunger (IPC-Phase 3+), gegenüber 21,3 Millionen im Jahr 2016. Das ist ein Anstieg um 123 %. Fast 18 Millionen Menschen in diesen zehn Ländern stehen derzeit am Rande des Hungertodes (Gesamtzahl der Menschen, die im Jahr 2021 in die IPC-Phase 4 und 5 eingestuft wurden). „Millionen von Menschen, die bereits unter anhaltenden Konflikten, grassierender Ungleichheit und Wirtschaftskrisen leiden, verlieren nun durch Unwetterkatastrophen, Klima-Extreme und die schleichenden Veränderungen ihre Lebensgrundlagen“, beklagt Bucher. „Die Zunahme solcher Ereignisse ist so extrem, dass Menschen mit niedrigem Einkommen die Folgen immer weniger abfangen können und schließlich hungern müssen.“

Unter den zehn Ländern hat Burkina Faso mit einem Plus von 1350 % seit 2016 die höchste Zunahme akuten Hungers zu verzeichnen. Mit Stand Juni 2022 litten mehr als 3,4 Millionen Menschen dort aufgrund bewaffneter Konflikte und der zunehmenden Versteppung von Acker- und Weideland unter extremem Hunger. Im Landwirtschaftsjahr 2021/22 ging die Getreideproduktion in Burkina Faso im Vergleich zum Vorjahr um 10 % zurück. Bei einer globalen Erwärmung von mehr als 2°C könnten die Erträge von Getreide wie Hirse und Sorghum in Ländern wie Burkina Faso und Niger um 15-25 % zurückgehen. In Niger sind heute 2,6 Millionen Menschen von akutem Hunger betroffen (ein Anstieg um 767 % gegenüber 2016). Die Getreideproduktion ist um fast 40 % eingebrochen, da häufige Klimaschocks und anhaltende Konflikte die Ernte zunehmend erschweren. Auch in Lateinamerika nimmt der Hunger zu, obwohl es dort viele Länder mit mittlerem Einkommen gibt. In El Salvador, Guatemala, Honduras und Nicaragua hat sich die Zahl der Hungernden in den letzten zwei Jahren fast vervierfacht von 2,2 Millionen Menschen im Jahr 2018 auf fast 8 Millionen Menschen im Jahr 2021 – eine Folge von Extremwetterereignissen in den letzten Jahren und der durch COVID-19 verursachten Wirtschaftskrise. Guatemala befindet sich auch in der traurigen Top Ten mit 6 UN-Aufrufen, die Wetterextreme als Hauptursache hatten. Das Land verzeichnete zwischen 2016 und 2021 einen Anstieg des akuten Hungers (IPC3+) um 147 %. Eine schwere Dürre hat zuletzt zum Verlust von fast 80 % der Maisernte beigetragen und Kaffeeplantagen verwüstet. „Wir hatten fast acht Tage lang kaum etwas zu essen“, wird Mariana López, die mit ihren Kindern in Naranjo im Trockenkorridor Guatemalas lebt, von Oxfam zitiert. Die anhaltende Dürre zwang sie, ihr Land zu verkaufen.

Der durch die Klimakrise verursachte Hunger ist auch eine Folge der globalen Ungleichheit, erklärt Oxfam. Die Länder, die am wenigsten für den Klimawandel verantwortlich sind, leiden am meisten unter seinen Auswirkungen und haben zugleich die geringsten Ressourcen, um ihn zu bewältigen. Dem Kurzbericht zufolge belief sich der CO2-Ausstoßes der 10 als Klimakrisenherde eingestuften Länder im Jahr 2020 auf insgesamt 0,002 Billionen Tonnen – das sind gerade einmal 0,13% der weltweiten Emissionen. Die Kohlenstoffemissionen der G20-Länder – die zusammen über 80 % der Weltwirtschaft kontrollieren und für über drei Viertel des globalen CO2-Ausstoßes verantwortlich sind – sind 650 Mal höher als die Emissionen dieser zehn Länder. Die Wohltätigkeitsorganisation prangert an, dass die Staats- und Regierungschefs der reichen Länder weiterhin milliardenschwere Unternehmen unterstützen, die Umwelt und Klima schädigen, weil diese oft ihre Partei und ihren Wahlkampf fördern. „Die täglichen Profite der fossilen Energiekonzerne lagen in den vergangenen 50 Jahren im Durchschnitt bei 2,8 Milliarden Dollar. Die Profite von nicht einmal ganz 18 Tagen könnten die 49 Milliarden Dollar decken, die laut der UN gebraucht werden, um den gesamten Bedarf an humanitärer Hilfe im Jahr 2022 zu decken“, rechnet Oxfam vor. „Wir können die Klimakrise nicht bewältigen, solange wir die grundlegenden Ungleichheiten in unseren Ernährungs- und Energiesystemen nicht bewältigen“, führt Bucher aus. „Die Kosten dafür können leicht gedeckt werden, indem umweltverschmutzende Unternehmen stärker besteuert würden. Ein einziges Prozent des durchschnittlichen Jahresprofits der fossilen Energiekonzerne würde 10 Milliarden Dollar freisetzen. Damit wäre der größte Teil der Finanzierungslücke für den UN-Aufruf zur Ernährungssicherung geschlossen.“ (ab)

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