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13.01.2022 |

Pestizidatlas fordert Reduzierung des Einsatzes von Ackergiften

Grafik
Pestizideinsatz in Tonnen (Grafik: Pestizidatlas 2022 Eimermacher/Puchalla, CC-BY-4.0)

Weltweit werden immer mehr hochgiftige Pestizide in der Landwirtschaft eingesetzt, obwohl die Folgen für die Biodiversität und die Gesundheit von Pflanzen, Tieren und Menschen gravierend sind. Auch in der EU bleibt der Einsatz auf einem hohen Niveau und es werden dazu noch Pestizide exportiert, die auf europäischen Äckern schon längst verboten sind – häufig in Länder des globalen Südens, wo viele Menschen ihnen oft schutzlos ausgeliefert sind. Das prangert der Pestizidatlas 2022 an, der am 12. Januar von der Heinrich-Böll-Stiftung, dem Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND) und dem Pestizid Aktions-Netzwerk (PAN Germany) veröffentlicht wurde. Die Publikation liefert auf über 50 Seiten und in über 80 Grafiken zahlreiche Daten und Fakten zu Ackergiften in Deutschland und weltweit, analysiert die profitablen Geschäfte der Agrarchemiekonzerne und zeigt Alternativen zur Pestizidnutzung auf. Mit Blick auf Deutschland rufen die Herausgeber die Bundesregierung dazu auf, den Einsatz von Pestiziden konsequent zu reduzieren, besonders toxische Pestizide zu verbieten sowie dem Export von hier verbotenen Pestiziden einen Riegel vorzuschieben.

Dem Pestizidatlas zufolge ist die Menge der rund um den Globus eingesetzten Pestizide seit 1990 um 80% gestiegen. „Heute liegt die jährlich ausgebrachte Pestizidmenge bei circa 4 Millionen Tonnen weltweit. Fast die Hälfte davon sind Herbizide, die gegen Unkräuter verwendet werden; knapp 30 Prozent sind Insektizide, die gegen schädliche Insekten wirken und etwa 17 Prozent sind Fungizide gegen Pilzbefall“, heißt es dort. Marktanalysen bezifferten den Wert des globalen Pestizid-Marktes im Jahr 2019 auf fast 84,5 Milliarden US-Dollar. Seit 2015 gab es ein jährliches Plus von mehr als 4 Prozent. „Bis 2023 wird eine Wachstumsrate von 11,5 Prozent und damit ein Anstieg auf fast 130,7 Milliarden US-Dollar Marktwert prognostiziert“, schreiben die Autor*innen. Hier sind also enorme Profite zu verbuchen und die fahren vor allem die großen Player ein: Die vier Konzerne Syngenta Group, Bayer, Corteva und BASF teilten sich 2018 etwa 70% des Weltmarktes für Pestizide. 1994 hatte der Marktanteil der vier größten Anbieter noch 29% und 2009 immerhin „nur“ 53% betragen – die Konzentration der Marktmacht schreitet rasant voran. Die Zunahme beim Pestizideinsatz ist in einigen Regionen der Welt besonders stark ausgeprägt: In Südamerika wurden 2019 rund 767.443 Tonnen Pestizide eingesetzt – ein Anstieg von 143,5% gegenüber 1999. Pro Hektar Anbaufläche kamen 2019 mehr als 5 Kilogramm Pestizidwirkstoffe in Südamerika zur Anwendung – mehr als in allen anderen Regionen weltweit. „Vor allem in Ländern mit großer Artenvielfalt wie Brasilien, Argentinien und Paraguay ist der Herbizideinsatz insbesondere seit der großflächigen Einführung von gentechnisch verändertem, pestizidresistenten Soja, das als billiges Futtermittel für die Tiermast eingesetzt wird, dramatisch gestiegen“, beklagt Barbara Unmüßig, Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung. „Damit wurde auch das zentrale Versprechen der Agro-Gentechnik, Ackergifte mit Hilfe von Gentechnik deutlich zu reduzieren, auf groteske Weise konterkariert.“

Der Einsatz von Pestiziden führt zu anhaltenden Belastungen von Mensch, Natur und Umwelt. „So lassen sich an Luftmessstellen Pestizide nachweisen, die bis zu 1000 Kilometer weit entfernt ausgebracht wurden. Auch in Naturschutzgebieten finden sich Pestizidrückstände. Insbesondere Gewässer in der Nähe landwirtschaftlich genutzter Gebiete weisen hohe Pestizidbelastungen auf. Meeressäuger an deutschen Küsten sind bis heute mit Pestiziden belastet, die seit 40 Jahren verboten sind“, schreiben die Autor*innen des Atlas. Für die menschliche Gesundheit birgt der Pestizideinsatz große Gefahren durch Vergiftungen, vor allem im Globalen Süden, wo Arbeiter*innen oftmals nicht ausreichend geschützt sind. Konservativen Berechnungen zufolge sei in Asien von jährlich rund 255 Millionen Vergiftungsunfällen auszugehen, in Afrika von knapp über 100 Millionen und in Europa von rund 1,6 Millionen. „Mit dem massiven Pestizideinsatz weltweit vergiften wir Menschen und Natur. 385 Millionen jährliche Pestizidvergiftungen weltweit sind ein Skandal“, empört sich Doris Günther, Vorstand von PAN Germany. „Pestizidkonzerne haben längst den Globalen Süden als neuen Wachstumsmarkt für ihre Produkte ausgemacht. Auch deutsche Firmen exportieren hochgefährliche Pestizide nach Afrika, Asien und Lateinamerika, die bei uns zum Schutze der Bevölkerung und der Umwelt verboten wurden.“ Die deutsche und europäische Politik müsse dies beenden und konsequent den Export verbotener Pestizide gesetzlich untersagen.

Besonders gravierend sind die Folgen des steigenden Pestizideinsatzes für die Artenvielfalt. „Konventionell bewirtschaftete Äcker weisen nur drei Prozent der floristischen Artenvielfalt auf, die auf Äckern zu finden ist, die noch nie mit Pestiziden behandelt wurden. Auf biologisch bewirtschafteten Äckern liegt die Vielfalt mit 53 Prozent erheblich höher“, zitieren die Herausgeber aus Studien. „Ein Umdenken ist dringend notwendig, denn der hohe Pestizideinsatz schadet der Biodiversität. Er trägt zum Verlust zahlreicher Nützlinge bei, ohne die wiederum noch mehr Pestizide notwendig sind. Der damit verbundene Rückgang bestimmter Wildpflanzenarten führt zum Verlust von Lebensraum und Nahrung für spezialisierte Insekten. Zudem führt der Einsatz von in geringen Mengen hochwirksamen Neonikotinoiden zum Sterben von Wildbienen“, fasst BUND-Vorsitzender Olaf Bandt zusammen. „Der Verlust der Artenvielfalt weltweit, aber auch in Deutschland ist dramatisch und kann nur gestoppt werden, wenn der Einsatz von Ackergiften deutlich reduziert wird.“ Von der neuen Bundesregierung erwartet Bandt gesetzgeberisches Handeln. Dabei müsse die Gesamtmenge der Pestizide um die Hälfte gesenkt und besonders gefährliche Pestizide verboten werden. „Es müssen innerhalb der jetzigen Legislaturperiode konkrete Maßnahmen umgesetzt werden, um die Erfolge der Pestizidreduktion zu kontrollieren. Entscheidend dabei ist, dass die landwirtschaftlichen Betriebe dabei unterstützt werden mit weniger Pestiziden wirtschaftlich tragfähig zu arbeiten. Weniger Pestizide und mehr biologische Vielfalt auf dem Acker soll sich für alle Betriebe lohnen“, so Bandt.

Der Atlas zeigt auch Lösungen auf. Als Bestandteil einer ambitionierten Strategie der Bundesregierung zur Pestizidreduktion bringt er eine Pestizidabgabe ins Spiel. „Erkenntnisse aus Dänemark zeigen, dass die Einführung einer Pestizidabgabe ein geeignetes Instrument sein kann, um finanzielle Anreize für eine geringere Pestizidnutzung zu schaffen“, schreiben die Autor*innen. „Eine solche an den Risiken der Pestizide ausgerichtete Abgabe – je schädlicher das Pestizid, desto höher die Steuer – trägt dazu bei, besonders toxische Pestizide zu verteuern und Betriebe stärker zu motivieren, auf weniger schädliche Wirkstoffe umzusteigen.“ Allerdings müsse die Abgabe hoch genug sein, um Wirkung zu entfalten. So könnten Einnahmen generiert werden, die sich für die Förderung nicht-chemischer Pflanzenschutzverfahren einsetzen ließen. Eine Trendwende ist nicht unmöglich. Der Atlas liefert auch Beispiele aus der ganzen Welt, die zeigen, dass immer mehr Städte, Staaten und Regionen versuchen, weniger Pestizide auf ihren Feldern und Flächen auszubringen – oder gar komplett darauf zu verzichten. In Indien haben mehrere Bundesstaaten begonnen, ihre Landwirtschaft auf biologischen Anbau umzustellen und den Einsatz von Pestiziden zu verbieten: „Der kleine Bundesstaat Sikkim wird die erste Region weltweit sein, die wirklich zu 100 Prozent ökologisch produziert. Dieser Schritt stellt einen enormen Paradigmenwechsel dar in einem Land, das jahrzehntelang auf den hohen Einsatz von synthetischen Düngemitteln und Pestiziden gesetzt hatte“, heißt es im Atlas. Auch der Bundesstaat Andhra Pradesh kündigte 2018 an, dass die rund sechs Millionen Bäuerinnen und Bauern des Staates spätestens ab 2024 ohne chemisch-synthetische Pestizide arbeiten werden. Mexiko hat auf Druck der Zivilgesellschaft den Einsatz von Glyphosat ab 2024 verboten. Kirgistan plant sogar, komplett aus der Pestizidnutzung auszusteigen. 2018 wurde beschlossen, die gesamte Landwirtschaft innerhalb der nächsten 10 Jahre auf ökologischen Produktion umzustellen. „Für eine ökologische Trendwende braucht es Umdenken in der Landwirtschaft – und politischen Willen“, schreiben die drei Herausgeber im Vorwort. Es bleibt abzuwarten, ob dieser bei der neuen Bundesregierung vorhanden ist. (ab)

28.12.2021 |

Insekten in deutschen Naturschutzgebieten sind stark mit Pestiziden belastet

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Insekten sind pestizidbelastet (Foto: CC0)

Insekten in deutschen Naturschutzgebieten sind stark mit Pestiziden belastet. Das zeigt eine neue Studie, die am 16. Dezember im Fachjournal „Scientific reports“ erschien und an der unter anderem die Universität Koblenz-Landau und der Entomologische Verein Krefeld beteiligt waren. Keine einzige der Insektenproben, die von Forscher*innen in den untersuchten Schutzgebieten mithilfe sogenannter Malaisefallen entnommen wurden, war unbelastet. Im Schnitt ließen sich bei Insekten in von Agrarlandschaft umgebenen Schutzgebieten mehr als 16 verschiedene Pestizide nachweisen. „Unsere Daten zeigen deutlich, dass Insekten in Naturschutzgebieten mit einem Cocktail aus Pestiziden belastet sind“, betont Dr. Carsten Brühl vom Institut für Umweltwissenschaften der Universität Koblenz-Landau. „Wenn man bedenkt, dass die Risikobewertung im Rahmen der Zulassungsverfahren von Pestiziden davon ausgeht, dass Insekten mit nur einem Pestizid in Kontakt kommen, liegt auf der Hand, wie realitätsfern diese Bewertungspraxis ist“, so Brühl.

Im Rahmen des vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderten Projekts DINA (Diversity of Insects in Nature protected Areas) unter Leitung des Naturschutzbundes Deutschland (NABU) untersuchten neun Projektpartner über zwei Jahre hinweg die Insektenvielfalt in deutschen Naturschutzgebieten. Die 21 Gebiete umfassen verschiedene Habitate im ganzen Bundesgebiet von den Lütjenholmer Heidedünen hoch im Norden bis hin zur Mühlhauser Halde im Schwarzwald. Es handelt sich um „streng geschützte Lebensräume“ im Natura2000-Programm der Europäischen Union, darunter orchideenreiche Kalkmagerrasen oder seltene Silikatmagerrasen. Alle Gebiete liegen in der Agrarlandschaft und sind von konventionell genutzten Flächen umgeben. Die in den Malaisefallen gefangenen Insekten wurden direkt in Alkohol konserviert. Da der Alkohol in der Fangflasche auch als Lösungsmittel für viele Chemikalien dient, die sich außen oder innen an den Insektenkörpern befinden, konnten die Wissenschaftler*innen direkt ermitteln, welche Pestizide an den Tieren hafteten. Bisherige Studien befassten sich dagegen mit der Belastung von Luft und Boden. „Mit unserer Methode können 92 aktuell in Deutschland zugelassene Pestizide gleichzeitig in geringen Mengen analysiert werden“, erklärt Nikita Bakanov von der Landauer Forschungsgruppe.

Die Ergebnisse der Studie sind erschreckend: Auf den Insekten konnten 47 der 92 zugelassenen Pestizide festgestellt werden. Dabei handelte es sich um 13 Herbizide, 28 Fungizide und 6 Insektizide. Im Schnitt waren die Insektenproben mit 16,7 Pestiziden belastet. In einem Schutzgebiet waren die Insekten sogar mit 27 verschiedenen Stoffen belastet. Die geringste Belastung lag in einem der Gebiete bei sieben Pestiziden. Die Forscher*innen wiesen sogar das Neonicotinoid Thiacloprid, das seit August 2020 in der EU im Freiland verboten ist, da es unter anderem als besonders gefährlich für Bienen gilt, in 16 der 21 Naturschutzgebiete nach. Die Aufbrauchfrist für Thiacloprid endete erst im Februar 2021. „Das hohe Vorkommen von Thiacloprid in unseren Proben an vielen Standorten in Deutschland könnte daher auch die letzte Gelegenheit für Landwirte widerspiegeln, ihre verbleibenden Bestände zu nutzen“, schreiben die Autor*innen. Sie verweisen auf die paradoxe Situation, dass ein Verbot zu einer stärkeren Belastung des Ökosystems führen kann, wenn es zugleich zu Anwendungen des Pestizids in großem Umfang kommt. „Daher erscheint es ratsam, bei potenten Pestiziden, die vom Markt genommen werden, keine Schonfristen mehr zu gewähren und Restbestände zu vernichten, statt sie trotz des Wissens um die hohen Umweltrisiken in die Umwelt zu bringen“, raten die Forscher*innen.

Die Wissenschaftler*innen kombinierten die Studienergebnisse mit einer Raumanalyse. „Wir wollten herausfinden, wo die Insekten die Pestizide aufnehmen“, erklärt Lisa Eichler vom Leibniz-Institut für ökologische Raumentwicklung in Dresden. Die Analyse zeigte, dass die Insekten die Pestizide auf Anbauflächen in einem Umkreis von zwei Kilometern aufgenommen hatten. Das Problem besteht darin, dass die Naturschutzgebiete in Deutschland in der Regel recht klein seien, erläutern die Autor*innen der Studie. Im Durchschnitt hätten sie eine Größe von unter 300 Hektar, 60% seien sogar kleiner als 50 Hektar. Der Flugradius vieler Insekten ist aber weitaus größer und da die Gebiete meist von konventionell bewirtschafteten Ackerflächen umgeben sind, gelangen die Insekten so in Kontakt zu den Pestiziden. Politik, Wissenschaft und Landschaftsplanung müssen daher Pufferzonen einplanen, betonen die Koautoren vom Entomologischen Verein Krefeld, Thomas Hörren und Dr. Martin Sorg. Sie fordern eine vernünftige, wissenschaftsbasierte Raum- und Landschaftsplanung, denn bis heute sei ein „biodiversitätsfördernder Ackerbau ohne Pestizideinsätze sowohl innerhalb als auch am direkten Rand neben wertvollsten Schutzgebieten eine Ausnahmeerscheinung. Um von dieser Ausnahme zum notwendigen Regelfall zu werden, bedarf es allerdings geeigneter, heute nicht ausreichend existierender Konzepte und Förderprogramme für die angepasste, landwirtschaftliche Bewirtschaftung.“

Diese Forderung nach Pufferzonen um Naturschutzgebiete, in denen keine synthetischen Pestizide eingesetzt werden dürfen und die ökologisch bewirtschaftet werden, unterstreicht auch Dr. Brühl. Die Landschaftsplanung sollte in Puffergürteln von zwei Kilometern Breite um die Naturschutzgebiete prioritär Ökolandbau fördern. Den Berechnungen des Forschungsteams zufolge würde ein solcher Schutzraum für alle Naturschutzgebiete in Deutschland etwa 30% der Agrarfläche betreffen. „Diese Zahl mag auf den ersten Blick groß erscheinen“, so Brühl, aber entspreche der Forderung der EU nach 25% und der neuen Ampelkoalition nach 30% an Bio-Landwirtschaft bis 2030. Die Politik habe noch neun Jahre Zeit. „Das politische Ziel ist da, getragen wird es auch durch die Nachfrage der Verbraucher nach Bio-Lebensmitteln. Wichtig ist nun die gezielte Umsetzung“, mahnt Brühl. Auch die Krefelder Autoren fordern entschlossene Schutzmaßnahmen. „Mit dem einfachen, allseits beliebten Gießkannenprinzip kann man nicht auf den dringend notwendigen Schutz der Artenvielfalt in den bedeutendsten Schutzgebieten fokussieren“, betonen Hörren und Sorg. Vielmehr toleriere man damit fortschreitende, regionale Artenverluste. „Denn es sind die Schutzgebiete in denen sich im Regelfall die Populationen der regional oder bundesweit vom Aussterben bedrohten Insektenarten befinden. Dies sind daher die Schauplätze der Biodiversitätsschäden, die wir als Aussterbeereignisse im wahrsten Sinne des Wortes „nachhaltig“ den kommenden Generationen vererben, wenn kein wirksamer Schutz etabliert wird.“ (ab)

03.12.2021 |

FAO: Lebensmittel sind so teuer wie seit 10 Jahren nicht mehr

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Getreide ist 23,2% teurer als vor einem Jahr (Foto: CC0)

Die monatlich erscheinenden Pressemitteilungen der Welternährungsorganisation FAO zur Entwicklung der globalen Lebensmittelpreise warteten dieses Jahr nicht mit guten Nachrichten auf. Sie zeigten nur einen Trend – und der ging steil bergauf. Nun verkündete die FAO am Donnerstag mit den neusten Zahlen für November erneut einen traurigen Rekord: Die Weltmarktpreise für die wichtigsten Agrarerzeugnisse waren im letzten Monat so hoch wie schon seit mehr als 10 Jahren nicht mehr. Der FAO Food Price Index, der die Preise von international gehandelten Agrarrohstoffen und Nahrungsmitteln gebündelt in 5 Warengruppen abbildet, erreichte im November 134,4 Punkte. So hoch war der Wert seit Juni 2011 nicht mehr, als der Index bei 135 Punkten lag, und er ist nicht mehr weit entfernt vom bisherigen Höchststand mit 137,6 Punkten im Februar 2011. Damit liegt der aktuelle Wert auch deutlich über den 132,5 Punkten im Juni 2008, als die Welt gerade den Höhepunkt der Lebensmittelpreiskrise mit Protesten und Hungerrevolten erlebt hatte. Die Preise für landwirtschaftliche Erzeugnisse lagen im November um 1,2% über dem Niveau des Vormonates. Seit Anfang des Jahres haben die Preise insgesamt um 32,5 % angezogen.

Das Preishoch im November ist der FAO zufolge vor allem einer höheren Nachfrage nach Weizen und Milchprodukten geschuldet. Der Teilindex für Milchprodukte legte im Vergleich zu Oktober um 3,4% zu. Das führen die Expert*innen vor allem auf eine starke Importnachfrage nach Butter und Milchpulver zurück sowie schwindende Lagerbestände in einigen wichtigen Erzeugerländern in Westeuropa. Der Getreidepreisindex kletterte seit Oktober um 3,1 Prozentpunkte und lag 23,2% höher als im November letzten Jahres. Weizen war so teuer wie seit Mai 2011 nicht mehr, da eine starke Nachfrage einer verknappten Verfügbarkeit gegenübersteht. Das hat unter anderem auch mit schlechten Ernteaussichten in Australien zu tun, da Regenfälle den Landwirten einen Strich durch die Rechnung machten. Der Index für Zucker notierte 1,4% höher als im Oktober und lag 40% über dem Wert von November 2020. Der Index für Pflanzenöl hingegen sank leicht um 0,3%, war aber auch schon im Oktober auf einem Höchststand. Und auch der Index für Fleisch ließ leicht um 0,9 Prozentpunkte nach.

Die FAO veröffentlichte zudem die neusten Prognosen für die diesjährige Getreideproduktion: Insgesamt 2,791 Milliarden Tonnen Getreide werden voraussichtlich 2021 weltweit geerntet werden, ein neuer Rekordwert und ein Plus von 0,7 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Allerdings schätzen die Expert*innen, dass auch die Verwendung von Getreide deutlich anziehen wird mit 2,81 Milliarden Tonnen. Dadurch werden die Lagerbestände um 0,9% abnehmen, doch die FAO spricht noch von einer „insgesamt komfortablen Verfügbarkeitslage“. Besorgniserregender ist allerdings die Ernährungslage in vielen Ländern der Welt. Konflikte und Dürren verschärfen die Situation in Ländern, die ohnehin schon von Ernährungsunsicherheit gebeutelt sind, vor allem in Ost- und Westafrika. Die FAO gibt an, dass aktuell 44 Länder weltweit auf externe Hilfe und Lebensmittellieferungen angewiesen sind. Davon liegen 33 in Afrika und 9 in Asien. (ab)

23.11.2021 |

Export bienenschädlicher Neonicotinoide aus der EU boomt

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Die EU exportiert Bienengifte (Foto: CC0)

Insektizide auf Basis sogenannter Neonicotinoide gelten als gefährlich für Bienen und Bestäuber. Obwohl die Ausbringung der drei „Bienenkiller“ Imidacloprid, Thiamethoxam und Clothianidin in der EU im Freiland seit 2018 verboten ist, stellten Agrochemiekonzerne wie Syngenta und Bayer weiterhin große Mengen dieser Insektizide in der EU her und exportieren diese – vor allem in Länder mit schwächeren Vorschriften, wie Brasilien, die eigentlich entscheidend für die Bewahrung der Biodiversität wären. Das zeigt eine Recherche der Schweizer Nichtregierungsorganisation „Public Eye“ und von Unearthed, dem Investigativ-Team von Greenpeace Großbritannien.

Allein in den letzten vier Monaten des Jahres 2020 meldeten Agrochemiekonzerne die Ausfuhr von fast 3.900 Tonnen Neonicotinoiden, darunter über 700 Tonnen mit den in der EU verbotenen Wirkstoffen Imidacloprid von Bayer, Thiamethoxam von Syngenta und Clothianidin von Bayer bzw. BASF. Diese Menge würde zur Behandlung von etwa 20 Millionen Hektar Ackerland ausreichen, also der gesamten Agrarfläche Frankreichs, betonen die Organisationen. Sie kritisieren, dass die EU trotz des Verbots auf den eigenen Feldern den massenhaften Export genau jener Substanzen weiterhin toleriert. „Die Entscheidung der EU war eine Weltpremiere und spiegelte den breiten wissenschaftlichen und politischen Konsens wider, den Schutz von Bienen und anderen Bestäubern markant zu verstärken, von denen ein Drittel der weltweiten Nahrungsmittelproduktion abhängt“, schreiben sie in der Pressemitteilung. Von der EU fordern sie nun entschlossenes Handeln.

Public Eye und Unearthed analysierten vertrauliche Ausfuhrdaten, die sie gestützt auf das Öffentlichkeitsgesetz von der Europäischen Chemikalienagentur (ECHA) eingefordert hatten. Seit September 2020 müssen alle Exporte von in der EU verbotenen Chemikalien im Rahmen internationaler Richtlinien gemeldet werden. Die Recherche zeigt, dass das große Geschäft mit den für Bienen und Bestäuber gefährlichen Stoffen weitergeht und nun eben in anderen Teilen der Welt die Umwelt und die Biodiversität gefährdet. Die Auswertung ergab, dass die europäischen Behörden allein von September bis Dezember 2020 den Export von fast 3.900 Tonnen auf der Basis von Neonicotinoiden hergestellten Insektiziden genehmigten. Größter Exporteur aus Europa ist der Agrochemie-Konzern Syngenta, dessen EU-Tochtergesellschaften davon allein die Ausfuhr von 3.426 Tonnen Insektiziden meldeten. Von der Gesamtausfuhrmenge von 3.900 Tonnen machen 702 Tonnen die drei in der EU verbotenen Wirkstoffe aus, wovon der Löwenanteil mit 551 Tonnen (78,6%) auf Thiamethoxam von Syngenta entfiel. An zweiter Stelle steht Bayer mit Pestizidexporten von insgesamt 138 Tonnen, inklusive 60 Tonnen Imidacloprid und Clothianidin. BASF verkaufte laut den NGO-Recherchen 43,6 Tonnen des in der EU verbotenen Wirkstoffes Clothianidin. Produziert wurden die drei in der EU verbotenen Wirkstoffe in neun Mitgliedsstaaten: Belgien ist das wichtigste Exportland mit 310 Tonnen, gefolgt von Frankreich mit 157 Tonnen Wirkstoff und Deutschland mit 97 Tonnen.

Wichtigster Importeur von in der EU verbotenen Neonicotinoiden ist Brasilien. 318 Tonnen Wirkstoff oder 45,4% Prozent der Gesamtmenge wurden in das südamerikanische Land exportiert, das bis zu 20% der verbleibenden Biodiversität unseres Planeten beherbergt. Es folgen Russland (95 Tonnen), die Ukraine (44 Tonnen) und Argentinien (35 Tonnen). Was die Gesamtmenge an exportierten Neonicotinoiden anbelangt so ist Brasilien mit 2241 Tonnen Pestiziden auf der Basis von Neonicotinoiden der größte Absatzmarkt. Vor allem Syngenta generiert dort ordentliche Gewinne. Für die riesigen Sojaplantagen in Brasilien exportierte der Schweizer Konzern rund 2,2 Millionen Liter seines Hauptprodukts Engeo Pleno S. Der Verkaufsschlager enthält neben Thiamethoxam auch Lambda-Cyhalothrin, ein für Bienen ebenfalls hochgiftiger Stoff. Das Insektizid wird von Belgien aus nach Brasilien exportiert und die Menge dieses Produktes allein würde den NGOs zufolge ausreichen, um eine Fläche damit zu besprühen, die drei Mal so groß wie Belgien ist. Der Großteil der aus der EU exportierten Neonicotinoide oder 90% gehen in Länder mit niedrigem oder mittlerem Einkommen, wo die Anwendungsregelungen für Pestizide häufig weniger streng sind als in der EU. Weitere wichtige Importeure sind hier neben Brasilien auch Indonesien, Südafrika oder Ghana. Auch Marcos Orellana, der UN-Sonderberichterstatter für giftige Stoffe und Menschenrechte, forderte unlängst die EU auf, die „Externalisierung der Gesundheits- und Umweltkosten auf die Schwächsten“ zu beenden. (ab)

02.11.2021 |

Studie: Klimawandel wirkt sich schon 2030 erkennbar auf Erträge aus

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Die Maiserträge werden sinken (Foto: CC0)

Der Klimawandel wird schneller als erwartet die Erträge wichtiger Nutzpflanzen beeinflussen und vor allem Landwirt*innen im globalen Süden vor große Herausforderungen stellen. Bereits bis zum Ende dieses Jahrhunderts könnten die Maiserträge im weltweiten Durchschnitt um etwa 24% einbrechen, während beim Weizen hingegen deutliche Ertragszuwächse möglich sind. Das sind die Ergebnisse einer neuen Studie von NASA und Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK), die am 1. November im Fachjournal „Nature Food“ veröffentlicht wurde. „Wir stellen fest, dass die neuen Klimabedingungen die Ernteerträge in immer mehr Regionen erheblich beeinflussen. Die menschengemachten Treibhausgasemissionen führen zu höheren Temperaturen, veränderten Niederschlagsmustern und mehr Kohlendioxid in der Luft. Das hat Folgen für das Pflanzenwachstum“, erklärt der Hauptautor der Studie, Klimawissenschaftler Jonas Jägermeyr, der am Goddard Institute for Space Studies (GISS) der NASA, am Earth Institute der Columbia University in New York City und am PIK arbeitet. Den aktuellen Prognosen zufolge werden sich die Auswirkungen des Klimawandels auf die Landwirtschaft viel früher zeigen als bisher vermutet und damit kaum mehr Zeit für Gegenmaßnahmen lassen. „Selbst unter optimistischen Klimaszenarien, bei denen alle sich heftig ins Zeug legen, um den globalen Temperaturanstieg zu begrenzen, wird sich die globale Landwirtschaft einer neuen Klimarealität stellen müssen“, so Jägermeyr.

Für die Studie kombinierte das internationale Team eine Reihe neuer Klimaprojektionen des Klimamodell-Vergleichs CMIP6 sowie verschiedene aktualisierte Nutzpflanzen-Modelle im Rahmen des Agricultural Model Intercomparison and Improvement Project (AgMIP). Letztere simulieren, wie Pflanzen wachsen und auf Umweltbedingungen wie Temperatur, Regenfälle und die Konzentration von Kohlendioxid in der Atmosphäre reagieren. Die Daten hierzu bezog das Forscherteam aus den Klimamodellen. „Wir haben Nutzpflanzen-Simulationen durchgeführt, bei denen quasi mithilfe eines Supercomputers Tag für Tag virtuell Pflanzen angebaut werden und dann haben wir die Veränderungen von Jahr zu Jahr und Jahrzehnt zu Jahrzehnt in allen Teilen der Welt betrachtet“, sagt Alex Ruane, Co-Direktor der GISS Climate Impacts Group und Mitautor der Studie. Die Studie befasst sich nur mit den Folgen des Klimawandels, wenn sich aktuelle Trends fortsetzen, und bezieht keine Gegenmaßnahmen, wie wirtschaftliche Anreize, sich verändernde landwirtschaftliche Praktiken oder die Züchtung neuer Pflanzensorten. Das Team schaute sich Veränderungen bei den langfristigen durchschnittlichen Ernteerträgen an und prognostizierte, wann die Auswirkungen des Klimawandels als „erkennbares Signal“ auftreten werden im Gegensatz zu üblichen und in der Vergangenheit auch schon vorgekommenen Schwankungen bei den Erträgen. Sie stellten fest, dass es schon sehr bald und in sehr vielen wichtigen Anbauregionen zu erheblichen Veränderungen kommen wird. „Wir sehen, dass in vielen wichtigen Kornkammern der Welt anormale Jahre schon innerhalb des nächsten Jahrzehnts oder kurz danach zu normalen Jahren werden. Für uns ist das der Zeitpunkt, an dem das Klimawandel-Signal klar alles historische Rauschen übertönt“, so Jägermeyr.

Die Prognosen für Soja und Reis zeigten einen Rückgang in einigen Regionen, aber auf globaler Ebene sind sich die verschiedenen Modelle immer noch nicht einig über die Gesamtauswirkungen des Klimawandels. Bei Mais und Weizen hingegen war der Klimaeffekt viel deutlicher. Bis Ende 2100 könnten global die Mais-Erträge um bis zu 24% zurückgehen. Denn Mais wird gerade auch in subtropischen und tropischen Ländern angebaut, die von steigenden Temperaturen heftiger betroffen sein werden als kühlere Regionen der hohen Breiten. „Bei Weizen hingegen, der am besten in gemäßigten Klimazonen gedeiht, könnte die Produktivität in den derzeitigen Anbauregionen unter dem Klimawandel steigen, so etwa in den nördlichen Vereinigten Staaten und Kanada sowie in China“, schreibt das PIK in seiner Pressemitteilung zur Studie. Die Weizenerträge könnten je nach Szenario um bis zu 17,5% zunehmen. Doch Mitte des Jahrhunderts könnte auch hier einem der Modelle zufolge Schluss mit dem Ertragsplus sein. Die Forscher waren überrascht, wie bald sich der Klimawandel schon auf die Erträge niederschlagen wird. „ Wir haben nicht erwartet, solch eine grundlegende Änderung festzustellen im Vergleich zu Ertragsprognosen mit der vorigen Generation von Klima- und Nutzpflanzenmodellen, die wir 2014 vorgenommen haben“, sagte Jägermeyr. „Das bedeutet, dass sich die Landwirte viel schneller anpassen müssen, indem sie zum Beispiel den Zeitpunkt der Aussaat verändern oder andere Pflanzensorten verwenden.“

Die prognostizierten Ertragseinbußen drohen, bestehende Ungleichheiten noch weiter zu verstärken. „Insgesamt zeigen unsere Ergebnisse, dass in den niedrigeren Breitengraden die größten Verluste für alle Kulturpflanzen zu erwarten sind, während in den höheren Breitengraden potenzielle Gewinne zu verzeichnen sind“, schreiben die Autor*innen. Obwohl sich mehr als 90% des Mais- und Weizenanbaus derzeit in den gemäßigten und subtropischen Klimazonen abspiele, könnten erhebliche Ertragseinbußen die Lebensgrundlage und Ernährungssicherheit vieler Kleinbauern in den Tropen beeinträchtigen. „Unsere Daten zeigen deutlich, dass ärmere Länder wahrscheinlich die stärksten Rückgänge bei den Erträgen ihrer wichtigsten Grundnahrungsmittel verzeichnen werden“, betont Christoph Müller, Mitautor und ebenfalls Forscher am PIK. „Das verschärft die bereits bestehenden Unterschiede in der Ernährungssicherheit und im Wohlstand“. Denn den armen Ländern und natürlich den betroffenen Kleinbauern selbst fehle es oft an den Mitteln, sich ihre Nahrungsmittel auf dem Weltmarkt zu beschaffen. Im globalen Süden werde dies zu einem Risiko für die Ernährungssicherheit.

Die Modelle beziehen übrigens nicht nur die Temperatur als Faktor ein, um die Folgen des Klimawandels für Nutzpflanzen zu untersuchen. Auch der Kohlendioxidgehalt in der Atmosphäre wirkt sich aus. Ein höherer Gehalt beeinflusst zwar zunächst positiv das Pflanzenwachstum, gerade bei Weizen. Allerdings kann sich dadurch auch der Nährwert der Pflanzen verringern. Steigende globale Temperaturen stehen auch in Verbindung mit veränderten Niederschlagsmustern und der Häufigkeit und Dauer von Hitzewellen und Dürren, die die Gesundheit und Produktivität der Pflanzen gefährden. Sie beeinflussen auch die Dauer der Anbauperiode und beschleunigen den Reifeprozess. „Man kann sich Pflanzen so vorstellen, dass sie im Laufe der Vegetationsperiode Sonnenlicht sammeln“, illustriert Ruane. „Sie sammeln diese Energie und stecken sie dann in die Pflanze und die Körner. Wenn sie also durch die Wachstumsphasen eilen, haben sie bis zum Ende der Saison nicht so viel Energie gesammelt.“ Daher produziert die Pflanze insgesamt weniger Körner als bei einer längeren Entwicklungszeit. „Durch das schnellere Wachstum sinkt der Ertrag letztlich.“ (ab)

14.10.2021 |

Welthungerindex offenbart Rückschritte bei der Hungerbekämpfung

WHI Karte
Welthunger-Index 2021 © Welthungerhilfe

Die weltweite Ernährungslage ist besorgniserregend und beim Kampf gegen den Hunger sind herbe Rückschläge zu verzeichnen. Das zeigt der Welthunger-Index (WHI) 2021, der am Donnerstag von der Welthungerhilfe präsentiert wurde. Langwierige gewaltsame Konflikte, die Auswirkungen des Klimawandels und die Corona-Pandemie haben dazu beigetragen, dass die Welt bei der Hungerbekämpfung deutlich vom Kurs abgekommen ist und das Ziel, den Hunger bis 2030 weltweit zu beseitigen, voraussichtlich verfehlen wird. Weltweit hungern nach UN-Angaben etwa 811 Millionen Menschen und 41 Millionen leben am Rande einer Hungersnot. „Unsere Befürchtungen im letzten Jahr haben sich leider bestätigt. Hungersnöte sind zurück und multiple Krisen lassen die Zahl der Hungernden immer weiter steigen. Die Corona-Pandemie hat die angespannte Ernährungslage in vielen Ländern des Südens noch einmal verschärft und Millionen Familien haben ihre Existenzgrundlage verloren. Die größten Hungertreiber bleiben aber Konflikte und der Klimawandel. Die Ärmsten und Schwächsten werden von den Folgen des Klimawandels besonders hart getroffen, obwohl sie am wenigsten dazu beitragen“, sagte Marlehn Thieme, Präsidentin der Welthungerhilfe.

Der Welthunger-Index wird jedes Jahr von der Welthungerhilfe und Concern Worldwide herausgegeben. Die diesjährige Ausgabe wertete Daten zur Ernährungslage von 135 Ländern aus und fasst im Index vier Indikatoren zusammen: Der Anteil der Unterernährten an der Bevölkerung gemessen an der Deckung des Kalorienbedarfs, den Anteil von Kindern unter fünf Jahren, die an Auszehrung leiden (zu niedriges Gewicht im Verhältnis zur Körpergröße) oder die wachstumsverzögert sind (zu geringe Körpergröße im Verhältnis zum Alter, ein Anzeichen für chronische Unterernährung) sowie die Sterblichkeitsrate von Kindern unter fünf. Darauf basierend wird der WHI-Wert auf einer 100-Punkte-Skala ermittelt, wobei 100 der schlechteste Wert ist. Die Lage jedes Landes wird als niedrig, mäßig, ernst, sehr ernst oder gravierend eingestuft. Für 116 Länder lagen 2021 verlässliche Daten zu allen Indikatoren vor, während 19 Länder eine unvollständige Datenlage aufwiesen, sodass kein WHI-Wert berechnet werden konnte. Demnach ist in fast 50 Ländern die Hungersituation nach wie vor ernst, sehr ernst oder gravierend. In Somalia herrscht eine gravierende Hungersituation. In den fünf Ländern Zentralafrikanische Republik, Tschad, Demokratische Republik Kongo, Madagaskar und Jemen ist die Hungersituation sehr ernst und wird in vier weiteren Ländern – Burundi, Komoren, Südsudan und Syrien – vorläufig als sehr ernst bewertet. Für 31 Länder wird das Ausmaß an Hunger als ernst und für weitere sechs Länder vorläufig als ernst eingestuft.

Doch die Welthungerhilfe zeichnet auch ein düsteres Bild für die nächsten Jahre. Wenn sich die aktuellen Trends fortsetzen, wird die Weltgemeinschaft das Agenda 2030-Ziel, den Hunger in der Welt bis 2030 vollständig zu besiegen, nicht erreichen können. Für 47 Länder ist demnach ausgeschlossen, dass sie bis 2030 ein niedriges Hungerniveau erzielen werden. Davon befinden sich 28 in Afrika südlich der Sahara, während die übrigen Länder in Südasien, Westasien, Nordafrika, Ost- und Südostasien, Lateinamerika und der Karibik liegen. Zwar zeigen die WHI-Werte eine Verbesserung der globalen Hungerlage seit 2000, doch die Fortschritte verlangsamen sich. Während der globale WHI-Wert zwischen 2006 und 2012 um 4,7 Punkte von 25,1 auf 20,4 sank, fiel er seither nur noch um 2,5 Punkte. „Nach Jahrzehnten des Rückgangs steigt die weltweite Verbreitung von Unterernährung, einem der vier Indikatoren des WHI. Diese Entwicklung könnte ein Vorzeichen dafür sein, dass sich auch andere Hungerindikatoren umkehren“, heißt es im Bericht. Die aktuellsten Prognosen der UN-Landwirtschaftsorganisation FAO stützen die negativen Prognose bezüglich des Erreichens des 2. UN-Nachhaltigkeitsziels: Unter Berücksichtigung der Auswirkungen der Covid-19-Pandemie werden voraussichtlich 657 Millionen Menschen (fast 8% der Weltbevölkerung) im Jahr 2030 unterernährt sein – etwa 30 Millionen mehr als ohne die Pandemie.

Im Fokus des diesjährigen Berichts steht die fatale Wechselwirkung von Konflikten und Hunger. Die Anzahl der gewaltsamen Konflikte hat in den letzten Jahren wieder zugenommen. In acht von zehn Ländern mit einer sehr ernsten oder gravierenden Hungersituation tragen Konflikte maßgeblich zum Hunger bei. „Mehr als die Hälfte aller unterernährten Menschen lebt in Ländern, die von Gewalt, Konflikt und Fragilität geprägt sind. Wo Krieg herrscht, werden Ernten, Felder und wichtige Infrastruktur zerstört. Die Menschen verlassen ihre Dörfer aus Angst vor Kämpfen und Übergriffen und sind auf humanitäre Hilfe zum Überleben angewiesen. Wo Hunger und Armut herrschen, nehmen aber auch Konflikte zu“, erklärt Thieme. Sie fordert tragfähige politische Konfliktlösungen und eine Stärkung des Rechts auf Nahrung: „Der Einsatz von Hunger als Kriegswaffe muss endlich konsequent sanktioniert werden.“ Doch auch der Klimawandel ist ein Hungertreiber. „Bereits jetzt verschärft der Klimawandel die Ernährungsunsicherheit durch höhere Temperaturen, veränderte Niederschlagsmuster und häufigere Extremwetterereignisse; und die Auswirkungen sind weitverbreitet, rasant und intensivieren sich“, schreiben die Autoren des Berichts. Die Hungersituation ist in jenen Ländern deutlich schlechter, die besonders anfällig für typische Klimafolgen wie Regen- und Temperaturextreme sind, insbesondere in stark von der Landwirtschaft abhängigen Volkswirtschaften. „Die Klimakrise ist eine Frage der Gerechtigkeit. Daher brauchen wir auf der anstehenden Klimakonferenz im November in Glasgow klare und verbindliche Ziele für die Reduzierung des CO² Ausstoß sowie finanzielle Unterstützung für die Förderung von Klimaresilienz“, fordert Thieme.

Auch Entwicklungsminister Gerd Müller fordert im Vorfeld des Welternährungstags am 16. Oktober ein entschlossenes Vorgehen im Kampf gegen den Hunger und den Klimawandel. „Wo Menschen ihre Lebensgrundlagen verlieren und nichts mehr zu essen haben, verlassen sie ihre Heimat und es kommt zu Verteilungskonflikten. Und vor allem in Konfliktgebieten breitet sich der Hunger aus“, sagte er der Augsburger Allgemeinen. Dieser Teufelskreis drehe sich etwa im Jemen, in der Sahel-Region oder im Krisenbogen um Syrien immer weiter. „Wir müssen Hunger- und Armutsbekämpfung endlich als vorausschauende Friedenspolitik verstehen und ganz oben auf die Agenda der Weltpolitik setzen“, so der scheidende Minister. Schon vor Jahren sagte der Schweizer Soziologe und einstige UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung, Jean Ziegler: „Ein Kind, das heute an Hunger stirbt, wird ermordet“. Müller wählt in seinem Appell ähnliche Worte: „Über 800 Millionen Menschen leiden Hunger. Am Welternährungstag verhungern 15.000 Kinder, so wie an jedem anderen Tag. Das ist ein unglaublicher Skandal. Die Erde verfügt über genug Ressourcen, alle zu ernähren. Hunger ist Mord. Denn wir haben das Wissen und die Technologie, alle Menschen satt zu machen.“ (ab)

28.09.2021 |

Ernährungsgipfel gescheitert: Zwei Jahre Energie und Ressourcen in die falschen Bahnen gelenkt

UNFSS
Der UN-Generalsekretär eröffnet den 2021 United Nations Food Systems Summit (Credit: UN Photo/Eskinder Debebe)

Erste Stellungnahme der Mitglieder des Arbeitskreises Landwirtschaft und Ernährung (AGLE) des Forums Umwelt und Entwicklung (FUE) zum Welternährungsgipfel des UN-Generalsekretärs

Seit dem Ausbruch der Covid-19-Pandemie im Winter 2019 ist die Anzahl der Hungernden weltweit drastisch angestiegen. Umweltkatastrophen häufen sich, die Klimakrise spitzt sich weiter zu, es gibt immer mehr bewaffnete Konflikte und Kriege. Zusammen führen sie zu vermehrten Hungerkatastrophen in der Zivilbevölkerung. Die UN hätte längst die überfällige Trendwende einleiten müssen, doch der am 23. September 2021 ausgerichtete Welternährungsgipfel des UN-Generalsekretärs António Guterres (UN Food Systems Summit, UNFSS) in New York hat dieses Ziel deutlich verfehlt.

Der Gipfel hat weder das Recht auf Nahrung aller Menschen ins Zentrum gestellt noch gezielt die von Hunger und Armut betroffen Gruppen angehört. Entscheidungen mit den Menschen zu treffen hätte bedeutet, alle Energie in die globale Koordinierung der Bewältigung der Covid-19-Pandemie und ihrer Folgen zu stecken – etwa durch die Hilfe für 120 Millionen Menschen, die seit dem Jahr 2020 zusätzlich an chronischem Hunger leiden. Mit den Menschen Entscheidungen zu treffen hätte auch bedeutet, denen eine prominente und kritische Stimme zu geben, die von Umweltkatastrophen, der Klimakrise sowie von Konflikten und Kriegen aktiv bedroht sind und von der internationalen Staatengemeinschaft viel zu lange im Stich gelassen wurden und nun weiter werden.

Stattdessen hat der Gipfel noch mehr Platz für die profitorientierten Interessen von Konzernen und Banken geschaffen und philanthropische Organisationen in erster Reihe die Agenda mitbestimmen lassen. Dabei sind sie häufig genau die Akteure, die ein intensives industrielles Landwirtschaftsmodell und eine wachsende Konzernmacht fördern und verantworten – und damit gleichzeitig zu den Hauptverursachern der globalen Ernährungs- und Klimakrise zählen.

Wir, Mitglieder der Arbeitsgruppe Landwirtschaft und Ernährung (AGLE) des Forums Umwelt und Entwicklung (FUE) kritisieren die Struktur, Leitung, Gestaltung und Durchführung des Gipfels sowie die geplante Fortführung der Gipfelagenda und -strukturen, sowohl in der UN wie auch auf regionalen und nationalen Ebenen. Als Teil des internationalen Zivilgesellschaftsmechanismus (CSM) haben wir die Bundesregierung über zwei Jahre hinweg kontinuierlich dazu aufgefordert, sich gegen den Ausbau einer Multi-Stakeholder-Struktur stark zu machen und sich für den Erhalt einer inklusiven, menschenrechtsbasierten Steuerung der UN-Ernährungs- und Nahrungsmittelpolitik durch den Welternährungsausschuss (CFS) einzusetzen – vergeblich.

Basierend auf unseren Beobachtungen, der offiziellen Abschlusserklärung des UN-Generalsekretärs sowie den verschiedenen Absichtserklärungen im Rahmen des UN FSS kommen wir zu folgenden ersten Bewertungen:

• Der Gipfel war der erste UN-Ernährungsgipfel, der ohne Mandat der UN-Vollversammlung stattgefunden hat. Seine Ergebnisse haben damit keine normative Verbindlichkeit und sollten dementsprechend als Empfehlungen des UN-Generalsekretärs – nicht mehr und nicht weniger – bewertet werden.

• Der Gipfel hat die starken Machtgefälle zwischen den unterschiedlichen Akteuren im vorherrschenden industriellen Ernährungssystem und die Ursachen dafür missachtet. Es wurde versäumt, Maßnahmen zu deren Überwindung – wie die Regulierung von Konzernmacht und eine grundlegende Umgestaltung des unfairen Handelssystems – zu thematisieren.

• Stattdessen liegt der Fokus auf Produktionssteigerungen und Investitionsmöglichkeiten. Das soll mittels konzerngeprägter digitaler Technologien und Innovationen sowie der sogenannten nature-based production – also Intensivlandwirtschaft mit einem Nachhaltigkeitslabel – geschehen. Deren Finanzierung könnte strukturelle Probleme wie die Sicherung geistiger Eigentumsrechte an Saatgut und Wissen, Daten- und Landraub, insbesondere im globalen Süden, noch weiter verschärfen.

• Der Gipfel hat es insbesondere autokratischen Staaten einfach gemacht, sich hinter den Multi-Stakeholder-Strukturen zu verstecken, um sich ihrer Verantwortung für die Umsetzung des Rechts auf Nahrung zu entziehen. Dies gilt auch für die nationalen Dialoge.

• Die Organisator*innen des Gipfels beabsichtigen, die Multi-Stakeholder-Struktur des Gipfels durch einen Folgeprozess in der UN weiter auszubauen. Damit schwächen sie die Rolle der Staaten als gegenüber der Öffentlichkeit rechenschaftspflichtige Institutionen und entlassen sie aus deren primärer Verantwortung, die kaum thematisiert wird. Stattdessen werden private Akteure, die im kommerziellen Interesse handeln und Einfluss auf öffentliche Politiken nehmen, als Teil der Lösung anerkannt. Es wird missachtet, dass sie großenteils die Verantwortlichen für zentrale globale Probleme sind, wie die Klimakrise und Machtungleichgewichte. Damit verbundene, offensichtliche Interessenskonflikte werden nicht thematisiert.

• In der Abschlusserklärung des Generalsekretärs ist vorgesehen, eine Koordinierungsstelle (hub) für die Umsetzung der Konferenzergebnisse bei den in Rom ansässigen UN-Organisationen (FAO, IFAD, WFP) einzurichten. Zusätzlich soll diese Koordinierungsstelle auch noch von einer intransparenten Champions-Gruppe beraten werden, was eine Fortsetzung der intransparenten und willkürlichen Gipfelstrukturen bedeutet. Solch eine Koordinierungsstelle (hub) steht in direkter Konkurrenz zum erfolgreich arbeitenden UN-Welternährungskomitee (CFS) – dem inklusivsten UN-Gremium, welches für die Koordinierung von Ernährungsfragen in der UN zuständig ist. Denn das CFS ermöglicht durch die darin selbstorganisierte Zivilgesellschaft (CSM), wie Bäuer*innen Fischer*innen, Indigene, ärmere Gemeinschaften und weitere Rechtsträger*innen aus Betroffenengruppen, ein Mitspracherecht über die Inhalte zu Ernährungsproblemen und zum Menschenrecht auf Nahrung. Die Errichtung eines parallelen Gremiums würde dieses Mitspracherecht stark untergraben.

• Außerdem wird aktuell im CFS über die Errichtung einer internen Arbeitsgruppe diskutiert, die Antworten auf die Vorschläge und Ergebnisse im UNFSS geben soll. Diese würde bereits eine Weiterführung des Gipfels in der UN darstellen.

Die Rolle der Bundesregierung

• Die deutsche Bundesregierung hat es bedauerlicherweise verpasst, sich auf dem Gipfel für den Erhalt und die Stärkung des CFS auszusprechen. Im Gegenteil scheint sie die Bildung neuer, mit dem CFS konkurrierender Parallelstrukturen zu unterstützen. Auch das Menschenrecht auf Nahrung, wichtige Grundlage des CFS, wurde von der Bundesregierung beim Gipfel nicht als Handlungsgrundlage genannt.

• Gleichzeitig beteiligt sie sich – inhaltlich und finanziell – an sogenannten Aktionsbündnissen, die im Laufe der Gipfelvorbereitungen entstanden sind. Diese äußerst undurchsichtigen Multi-Stakeholder-Bündnisse beruhen auf einem willkürlichen Zusammenschluss verschiedener Akteure und sollen die Regierungen zu bestimmten Gipfelthemen im geplanten Folgeprozess des UNFSS beraten. Jedoch entstammt weder die Wahl der Gipfelthemen noch die Entstehung dieser Aktionsbündnisse einem legitimen und transparenten Prozess. Diese Aktionsbündnisse sind kontrovers und untereinander widersprüchlich. Ein Beispiel hierfür ist das von der USA vorgeschlagene Aktionsbündnis, Sustainable Productivity Growth for Food Security and Resource Conservation, welches sich aktiv gegen die von der EU im UNFSS beworbene Farm-to-Fork-Strategie der EU richtet[1]. Darüber hinaus sind wichtige Verfahrensfragen der Aktionsbündnisse unklar, etwa wie sie von Selbstverpflichtungen zu Handlungen kommen wollen und wie die Rechenschaftslegung funktioniert.

[1] Den USA und vielen an der Allianz beteiligten Staaten, insbesondere aus Nord- und Südamerika, gehen die Nachhaltigkeitsziele der Farm-to-Fork-Strategie (für die USA zu viel Ökolandbau und Pestizidreduzierung) – die allein von der EU beschlossen wurden, aber global durchgesetzt werden sollen – zu weit. Sie sehen ihre Exportinteressen bedroht. Gleichzeitig verfolgt auch die Farm-to-Fork-Strategie einen Multi-Stakeholder-Ansatz, der stark nach den Interessen der europäischen Agrar- und Ernährungskonzerne ausgerichtet ist. Dies trägt auch dazu bei, das insbesondere für die Zivilgesellschaft wichtige Konzept der Agrarökologie zu verwässern. Grundsätzlich ist auch zu hinterfragen, auf welcher Basis die EU interne Beschlüsse zum globalen Standard erheben will.

Die Mitglieder der AGLE – wie auch zahlreiche soziale Bewegungen und zivilgesellschaftliche Organisationen auf der ganzen Welt – sprechen sich bereits seit Jahren für eine grundlegende Transformation der bestehenden Ernährungssysteme aus, die auf agrarökologischen und menschenrechtsbasierten Prinzipien beruht.

Wir erwarten daher von der Bundesregierung, dass sie sich im Folgeprozess des Gipfels und auch in der nächsten CFS-Plenarsitzung vom 11. – 14. Oktober 2021 gegen die Finanzierung und Weiterführung der Aktionsbündnisse des UNFSS sowie gegen die Etablierung von neuen und parallelen Organisationstrukturen in Rom wie auch einer möglichen Arbeitsgruppe innerhalb des CFS zum UNFSS ausspricht. Dagegen soll sich die Bundesregierung für eine gestärkte Rolle und verbesserte Finanzierung des CFS sowie einem Arbeitsstrang zum Umgang mit den Folgen der Covid-19-Pandemie einsetzen.

Lena Bassermann, INKOTA-Netzwerk

Mireille Remesch, Agrarkoordination

Paula Gioia, Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft

Benedikt Härlin, Save our Seeds

Roman Herre, FIAN Deutschland

Stig Tanzmann, Brot für die Welt

06.09.2021 |

UN-Experte: UNFSS setzt auf Konzerne statt Beteiligung der Zivilgesellschaft

Michael Fakhri
Michael Fakhri (Photo: Michael Fakhri/OHCHR)

Der anstehende UN-Welternährungsgipfel (UNFSS) schließt kleinbäuerliche und zivilgesellschaftliche Gruppen aus, verkennt die Ursachen von Hunger und Mangelernährung und befördert die Machtkonzentration von Unternehmen in Ernährungssystemen, anstatt diese anzugehen. Menschenrechte und Rechenschaftspflichten fehlen auf der Agenda des Gipfels gänzlich. Das kritisiert der UN-Sonderberichterstatter für das Menschenrecht auf Nahrung, Michael Fakhri, in einem kürzlich erschienenen Positionspapier. Der Termin für den Gipfel steht nun: Am 23. September wird in New York im Rahmen der UN-Generalversammlung über die Zukunft der Ernährungssysteme, notwendige Veränderungen und darüber diskutiert, wie die UN-Nachhaltigkeitsziele bis 2030 noch erreicht werden sollen. Ende Juli fand in Rom bereits ein dreitägiger Vorbereitungsgipfel statt. Schon vorab hagelte es seitens der Zivilgesellschaft massive Kritik, da der UNFSS durch eine Partnerschaft zwischen UN und Weltwirtschaftsforum initiiert wurde, dem die größten Unternehmen weltweit angehören, und Dr. Agnes Kalibata, die Präsidentin der umstrittenen Allianz für eine Grüne Revolution in Afrika (AGRA), zur UN-Sondergesandten für den Gipfel ernannt wurde. Aber auch die fehlende Einbeziehung der Zivilgesellschaft (abgesehen von einigen handverlesenen Organisationen) und derer, die eine zentrale Rolle für Lebensmittelproduktion und Ernährung spielen, führte dazu, dass hunderte NGOs den Prozess nun boykottieren. „The People’s Summit has arrived!”, prangt jetzt zwar auf der Webseite des Gipfels. Doch UN-Sonderberichterstatter Fakhri wirft dem UNFSS vor, eben nicht dieser Gipfel der Zivilgesellschaft und der Völker zu sein. „Letzte Chance, um den Welternährungsgipfel zu einem wahren People’s Summit zu machen“ lautet daher der Titel seines Papiers, in dem er seine eigenen Beobachtungen zum Prozess und Rückmeldungen von NGOs und UN-Mitgliedsstaaten zusammenfasst und Empfehlungen für den Gipfel und dessen Nachbereitung gibt.

Der Sonderberichterstatter will mit dem Papier den Mitgliedstaaten Anregungen liefern, wie es gelingen kann, dass der Gipfel erfolgreich dazu beiträgt, dass Lebensmittelsysteme den Menschen und dem Planeten dienen und Herausforderungen wie Hunger, Ungerechtigkeit und die COVID-19-Pandemie überwunden werden, und ein „wirklich transformatives, rechtebasiertes und multilaterales Ereignis“ abgehalten wird. Das Dokument wurde am 19. August fertiggestellt, aber mittlerweile scheint Fakhri eher pessimistisch, dass dies noch passieren wird. „Als ich das Papier schrieb, dachte ich, es gäbe noch eine letzte Chance, den Gipfel zu retten. Es ist nun klar, dass dies KEIN Gipfel der Völker ist“, twitterte er jedoch am 4. September. In dem Kurzdossier benennt er vier zentrale Kritikpunkte: Erstens spiele die COVID-19-Pandemie in den Beratungen kaum eine Rolle. „Der Gipfel wurde unmittelbar vor dem Ausbruch von COVID-19 angekündigt. Als sich daraus eine Pandemie entwickelte und die Auswirkungen auf die globalen Ernährungssysteme und die Ernährungssicherheit deutlich wurden, wurden die Ziele des Gipfels nicht an die neue Realität angepasst“, schreibt Fakhri. Er kritisiert, dass der Vorgipfel trotz der verheerenden Folgen der Pandemie nicht einmal eine Veranstaltung dem Thema widmete. Dabei seien multilaterale Maßnahmen nötig, um die Auswirkungen von COVID-19 auf das Recht auf Nahrung aller Menschen anzugehen, gerade der ärmsten, verletzlichsten und am stärksten marginalisierten Personen.

Zweitens hat der UNFSS es Fakhri zufolge versäumt, die eigentlichen Ursachen von Hunger und Mangelernährung zu berücksichtigen. Hunger, Unterernährung und Hungersnöte würden durch politisches Versagen und schlechte Regierungsführung verursacht und nicht durch die Knappheit von Nahrungsmitteln. Der Schwerpunkt des Gipfels liege jedoch darauf, wie die Produktion durch neue Technologien nachhaltig gesteigert werden könne. „Die Herausforderungen, vor denen unsere Ernährungssysteme stehen, liegen jedoch darin, einen besseren und gerechteren Zugang zu gewährleisten: Es geht um die Frage, wie und von wem Lebensmittel produziert werden und wer den größten Nutzen aus ihrer Verarbeitung und ihrem Handel zieht. Selbst auf dem Höhepunkt der Pandemie bestand die größte Bedrohung für die Ernährungssicherheit und die Ernährung nicht darin, dass keine Lebensmittel zur Verfügung standen“, erklärt Fakhri. „Die Menschen hatten weniger Zugang zu angemessenen Nahrungsmitteln, weil sie ihre Arbeit, ihre Lebensgrundlage oder ihr Zuhause verloren hatten“. Zudem schenke der Gipfel jüngsten Fortschritten im Bereich Agrarökologie und territoriale Märkte nicht genügend Aufmerksamkeit, bemängelt Fakhri.

Als drittes Problem nennt der Sonderberichterstatter die Machtkonzentration von Unternehmen, die beim Gipfel der „Elefant im Raum“ bleibt. Transnationale Konzerne beherrschen „den Weltmarkt vom Saatgut bis hin zum Supermarkt“, schreibt er, doch der UNFSS versäume es, „die Rolle und Verantwortung des Unternehmenssektors in den Lebensmittelsystemen anzusprechen“. Denn durch Machtungleichgewicht und -konzentration profitieren transnationale Konzerne, während die Besitzverhältnisse, Menschenrechte und Lebensräume lokaler Gemeinschaften gefährdet sind. Der UN-Experte teilt zudem die von vielen geäußerten Bedenken, dass technologiegetriebene Innovationen und der Fokus auf ein gewisses Wissenschaftsmodell, das auf dem Gipfel promotet wird, die Gefahr bergen, die Bedürfnisse von Kleinbauern weiter zu marginalisieren. „Dieser Ansatz ignoriert die Tatsache, dass Kleinbauern etwa 70% der Lebensmittel produzieren und gleichzeitig die Agrobiodiversität bewahren und für Widerstandsfähigkeit gegenüber dem Klimawandel sorgen.“ Er ignoriere auch, dass indigene Völker auf ihrem Land 80% der Artenvielfalt des Planeten bewahren. Bäuerinnen und Bauern, Landarbeiter und indigene Völker rund um den Globus sind der Gnade der Konzerne ausgeliefert, und es ist kein Zufall, dass sie unter Hunger, Unterernährung und Rechtsverletzungen leiden“, heißt es in dem Positionspapier.

Viertens kritisiert Fakhri, dass der Multi-Stakeholder-Ansatz des Gipfels eine Nebelkerze sei, um Partizipation zu verhindern. „Der so genannte Multi-Stakeholder-Ansatz des Gipfels ist weder transparent, noch hat er den betroffenen Gemeinschaften und der Zivilgesellschaft sinnvolle Möglichkeiten zur Beteiligung geboten. Der Entscheidungsfindungsprozess war von oben nach unten und undurchsichtig. Der von Agrarkonzernen, Denkfabriken und Philanthropen beeinflusste Gipfel spiegelte nicht die reiche Geschichte der Partizipation und Inklusivität bei multilateralen UN-Foren wider“, schreibt Fakhri. Bei der Vorbereitung habe eine interaktive und sinnvolle Beteiligung von Basisbewegungen, indigenen Völkern, Kleinbauern, Hirten, Fischern und Menschenrechtsgruppen gefehlt. Darum hätten Millionen Menschen beschlossen, den Gipfel über den Mechanismus für die Zivilgesellschaft und indigene Völker (CSM) des UN-Welternährungsausschusses (CFS) zu boykottieren. Ende Juli wurde ein Alternativgipfel zum offiziellen Pre-Summit veranstaltet.

Der Sonderberichterstatter hat auch Empfehlungen zur Verbesserung des UNFSS-Prozesses parat. Fakhri zufolge sollte die UN-Mitgliedsstaaten weiter mobilisieren und den Gipfel mithilfe eines menschenrechtsbasierten Ansatzes bewerten, der sich auf die sieben Prinzipien Partizipation, Rechenschaftspflicht, Nicht-Diskriminierung, Transparenz, Menschenwürde, Empowerment und Rechtsstaatlichkeit stützt. Er riet davon ab, im Nachgang des UNFSS neue Institutionen zu schaffen. Stattdessen solle das Follow-Up zum Gipfel in den bestehenden multilateralen UN-Foren erfolgen. „Der UN-Welternährungsausschuss sollte der Ort sein, an dem die Ergebnisse des Gipfels letztendlich diskutiert und bewertet werden, indem seine inklusiven Beteiligungsmechanismen genutzt werden.“ Schließlich empfiehlt Fakhri, die Ergebnisse des Gipfels anhand eines Menschenrechtsrahmens zu bewerten. Dazu gehöre das Stellen der Frage, welchen Beitrag die Ergebnisse und alle Folgemaßnahmen und Überprüfungen des Gipfels zur Verwirklichung des Rechts aller auf Nahrung und der Menschenrechte im Allgemeinen leisten. Dazu nennt Fakhri vier Fragen, mit denen überprüft werden kann, ob die Probleme in den vier kritisierten Bereichen angegangen wurden. Zum Thema Unternehmenskonzentration z.B. sei zu beantworten, wie die Ergebnisse des Gipfels auf die Ursachen des Problems eingehen und sicherstellen, dass Unternehmen und andere Akteure für Menschenrechtsverletzungen zur Rechenschaft gezogen werden. Was die Partizipation anbelangt, seien die Ergebnisse daran zu messen, inwiefern sie auf einem Verständnis von Handlungsfähigkeit beruhen, das die Kontrolle der Ernährungssysteme in die Hände der Menschen in ihrer Eigenschaft als Träger*innen von Rechten legt. (ab)

09.08.2021 |

IPCC: Folgen des menschengemachten Klimawandels teils schon unumkehrbar

Duere
Dürren werden zunehmen (Foto: CC0)

Der Klimawandel ist eindeutig vom Menschen verursacht, er schreitet rasant voran und Veränderungen wie der Eisverlust in der Arktis oder der Anstieg des Meeresspiegels werden für Jahrhunderte oder gar Jahrtausende unumkehrbar sein. Es drohen wegen der steigenden Temperaturen deutlich mehr extreme Wetterereignisse wie Überschwemmungen und Hitzewellen und bereits in den nächsten 20 Jahren könnte sich die Erde im Vergleich zum vorindustriellen Zeitalter um 1,5 Grad erwärmt haben. Das sind nur einige der düsteren Fakten und Prognosen, die der Weltklimarat (IPCC) in seinem neusten Bericht zusammengetragen hat. Der am 9. August veröffentlichte Beitrag der Arbeitsgruppe I zum Sechsten IPCC-Sachstandsbericht (AR6-WGI) befasst sich mit den naturwissenschaftlichen Grundlagen des Klimawandels. 234 Wissenschaftler*innen aus 66 Ländern haben dafür in den letzten Jahren über 14.000 Studien ausgewertet, mehr als 78.000 Kommentare von Expert*innen und Regierungen gesichtet und auf fast 4.000 Seiten den aktuellsten Wissensstand zusammengefasst. Vom 26. Juli bis 6. August diskutierten dann die Delegierten der 195 IPCC-Mitgliedsländer das Ergebnis auf einer Online-Sitzung und stimmten die Zusammenfassung für politische Entscheidungsträger (SPM) Zeile für Zeile in einem mühseligen Prozess ab.

Der am Montag der Öffentlichkeit präsentierte Bericht lässt keinen Zweifel an den Verursachern des Klimawandels: „Es ist eindeutig, dass der Einfluss des Menschen die Atmosphäre, den Ozean und die Landflächen erwärmt hat. Es haben weitverbreitete und schnelle Veränderungen in der Atmosphäre, dem Ozean, der Kryosphäre und der Biosphäre stattgefunden“, lautet eine der Hauptaussagen des Berichts. Das Ausmaß der jüngsten Veränderungen im gesamten Klimasystem sei „beispiellos“ und viele Veränderungen seien mittlerweile für Jahrzehnte, wenn nicht gar Jahrhunderte so gut wie unumkehrbar. So werden die Gletscher Grönlands in diesem Jahrhundert so gut wie sicher weiter schrumpfen, und auch das Sommereis der Arktis wird weiter schwinden. „Wir haben bisher immer gesagt, wir können den eisfreien Zustand der Arktis noch verhindern. Jetzt haben wir zum ersten Mal den Fall, dass es dafür voraussichtlich zu spät ist, und wir nur noch die Häufigkeit von eisfreien Sommern begrenzen können“, erklärt Dirk Notz vom Max-Planck-Institut für Meteorologie (MPI-M), Leitautor des Kapitels über Ozean, Kryosphäre und Meeresspiegel. „Für mich ist das ein Zeichen, wie weit der Klimawandel fortgeschritten ist“, betont Notz.

Bei allen betrachteten Emissionsszenarien wird die globale Oberflächentemperatur bis mindestens Mitte des Jahrhunderts weiter ansteigen. Eine globale Erwärmung von 1,5 °C und 2 °C werde im Laufe des 21. Jahrhunderts überschritten werden, außer es erfolgten in den kommenden Jahrzehnten drastische Reduktionen der CO2- und anderer Treibhausgasemissionen. Eigentlich hatte sich die Weltgemeinschaft im Pariser Klimaschutzabkommen von 2015 das Ziel gesetzt, die Erderwärmung im Vergleich zum vorindustriellen Niveau (1850-1900) auf deutlich unter 2 Grad zu begrenzen, möglichst aber auf 1,5 Grad. Doch bereits jetzt beträgt die Erwärmung laut IPCC im globalen Schnitt rund 1,1 Grad. Zwar besteht immer noch die Chance, den Klimawandel zu begrenzen, aber das würde entschlossenes und schnelles Handeln erfordern: „Die einzige Chance, das eine oder das andere Ziel zu erreichen, ist, wenn wir schnell die Emissionen herunterfahren. Das muss praktisch in diesem Jahrzehnt passieren“, sagt Jochem Marotzke, Direktor am MPI-M und koodinierender Leitautor des Kapitels über die Zukunft des globalen Klimas. „Wir müssen, um die Begrenzung auf 1,5 Grad Erwärmung zu erreichen, bis Mitte des Jahrhunderts die CO2-Emissionen auf Netto-Null reduziert haben.“ Um 2 Grad nicht zu überschreiten, müsste der CO2-Ausstoß bis 2070 auf Netto-Null sinken.

Der Bericht betont auch, dass es auf jedes Zehntel Grad ankommt, denn je wärmer es wird desto heftiger fallen die Folgen und Extremwetterereignisse aus. „Mit jedem zusätzlichen Anstieg der globalen Erwärmung werden die Veränderungen bei den Extremen stärker ausfallen“, heißt es in der Zusammenfassung. „Zum Beispiel wird jede zusätzliche Erhöhung der Erderwärmung um 0,5 °C zu einer deutlich erkennbaren Zunahme der Intensität und Häufigkeit von Hitzeextremen, einschließlich Hitzewellen (sehr wahrscheinlich) und Starkniederschlägen (hohes Vertrauen), sowie zu landwirtschaftlichen und ökologischen Dürren in einigen Regionen (hohes Vertrauen) führen. Bei mehr als zwei Grad dürften extreme Wetterereignisse kritische Toleranzschwellen für die Landwirtschaft und die menschliche Gesundheit überschreiten. „Wir sind dem Klimawandel nicht passiv ausgeliefert, wir steuern ihn. Wir haben nach wie vor die Wahl, in welchem Szenario wir landen werden“, mahnt Notz. Beim UN-Klimagipfel (COP26) in Glasgow im November bietet sich für die Staatengemeinschaft wieder die Möglichkeit, gemeinsam zu handeln. „Das Pariser Abkommen gibt uns den Weg vor, der UN-Klimagipfel in Glasgow in drei Monaten ist der entscheidende Moment, in dem die Weltgemeinschaft liefern muss“, sagte Bundesumweltministerin Svenja Schulze anlässlich der Vorstellung des IPCC-Berichts am Montag in Berlin. „Wir brauchen von möglichst vielen weiteren Staaten ambitionierte Klimaziele und bei den offenen Verhandlungspunkten absoluten Einigungswillen.“ Noch sei es nicht zu spät dafür: „Wie wir den Treibhausgasausstoß senken können, wissen wir.“ Das Wissen über das Ausmaß des Klimawandels und Maßnahmen zu seiner Begrenzung sind nicht erst seit diesem Bericht des Weltklimarates vorhanden – doch noch nie haben es die Wissenschaftler*innen so deutlich zu Papier gebracht, welches Unheil droht, wenn die Chance zum Handeln erneut nicht ergriffen wird. (ab)

29.07.2021 |

Erdüberlastungstag: Natürliche Ressourcen für 2021 sind „verbraucht“

Ressourcen
Die Belastungsgrenze ist erreicht (Foto: CC0)

Nur sieben Monate hat die Menschheit gebraucht, um das Kontingent der Erde an nachhaltig nutzbaren Ressourcen für das gesamte Jahr auszuschöpfen. Am 29. Juli ist daher „Earth Overshoot Day“ und den Rest des Jahres leben wir wieder auf Pump und strapazieren das Ressourcenbudget der Natur über das regenerierbare Maß hinaus. Das zeigen Berechnungen der internationalen Nachhaltigkeitsorganisation „Global Footprint Network“, die den Erdüberlastungstag jährlich neu berechnet. 2020 hatte die Corona-Pandemie das Datum auf den 22. August nach hinten rücken lassen im Kalender, doch mit der Verlangsamung des Raubbaus an der Natur ist nun wieder Schluss, die Wirtschaft erholt sich und der Ressourcenhunger wächst erneut. „Falls Sie daran erinnert werden müssten, dass wir uns in einer klimatischen und ökologischen Notsituation befinden, dann tut dies der Earth Overshoot Day“, sagte Susan Aitken, die Bürgermeisterin von Glasgow, wo im Herbst die UN-Klimakonferenz COP26 stattfinden wird. Steffen Vogel von der deutschen Umwelt- und Entwicklungsorganisation Germanwatch kommentierte: „Wir erleben nun den befürchteten Rebound-Effekt, das sprunghafte Wiederansteigen der Emissionen nach dem Höhepunkt der Pandemie. Dass der Ressourcenverbrauch trotz Anhalten der Pandemie schon dieses Jahr wieder fast das Niveau von 2019 erreicht, zeigt: Wir brauchen dringender denn je ein Umsteuern in der Klima- und Ressourcenpolitik. COVID-19-Konjunkturprogramme müssen unbedingt auf nachhaltige Wirtschaftsweisen ausgerichtet werden.“

Die Berechnungen des ‚Global Footprint Network‘ basieren auf den „National Footprint & Biocapacity Accounts“ (NFA), die sich auf UN-Datensätzen stützen. Für die Festlegung des Erdüberlastungstages werden zwei Größen gegenübergestellt: einerseits die biologische Kapazität der Erde zum Aufbau von Ressourcen sowie zur Aufnahme von Müll und Emissionen und andererseits der ökologische Fußabdruck – der Bedarf an Acker-, Weide- und Bauflächen, die Entnahme von Holz, Fasern oder Fisch, aber auch der CO2-Ausstoß und die Müllproduktion. 1970 überstieg der Ressourcenverbrauch erstmals die Biokapazität der Erde, Anfang der 90er Jahre war der Erdüberlastungstag bereits im Oktober erreicht und 2018 fiel der Tag mit dem 25. Juli auf den frühesten bisher berechneten Termin. Dem Netzwerk zufolge ist die erneute Beschleunigung der Übernutzung der Ressourcen vor allem auf eine Erhöhung der CO2-Emissionen um 6,6% gegenüber 2020 zurückzuführen. Zudem schrumpfte die globale Biokapazität der Wälder um etwa 0,5%, was größtenteils auf die zunehmende Abholzung von Wäldern im Amazonasgebiet zurückzuführen ist. Allein in Brasilien gingen 1,1 Millionen Hektar Wald letztes Jahr verloren. Schätzungen für 2021 deuten auf einen Anstieg der Abholzung um bis zu 43% im Vergleich zum Vorjahr hin, teilte das ‚Global Footprint Network‘ mit.

Den Ressourcenhunger führt das Netzwerk auch mithilfe des „Verbrauchs an Erden“ vor Augen: Um den Konsum der Menschheit nachhaltig zu decken, wären rein rechnerisch rund 1,7 Erden notwendig. Würden alle Länder so haushalten wie Deutschland, wären sogar 2,9 Erden nötig. Bei einer Lebensweise wie in den USA bräuchte die Weltbevölkerung fünf Erden und für Australien wären es 4,6 Planeten. Würden hingegen alle Menschen so wirtschaften wie Indien, kämen wir mit 0,7 Erden aus. Daher war der nationale Erdüberlastungstag 2021 in den USA bereits am 14. März und in Deutschland am 5. Mai. Doch eines zeigt die Verlangsamung im Vorjahr: Durch ein anderes Wirtschaften und Konsumieren kann der Ressourcenverbrauch auf ein verträglicheres Maß reduziert werden. „Letztes Jahr, als die Pandemie die Welt heimsuchte, haben die Regierungen gezeigt, dass sie schnell handeln können. Rasch wurden Vorschriften und außerordentliche Ausgaben bewilligt“, betonte das ‚Global Footprint Network‘. „Der ‚perfekte Sturm‘ von Klimawandel und Ressourcenknappheit, der sich zusammenbraut, erfordert von Entscheidungsträgern das gleiche Maß an Wachsamkeit und schnellem Handeln.“

Von der deutschen Politik wünscht sich Germanwatch einen entschlossenen Klimaschutz: „Auf die nächste Bundesregierung kommen sowohl auf EU-Ebene als auch beim Ergreifen wirksamer Maßnahmen zum Erreichen der verbesserten deutschen Klimaziele große Aufgaben zu”, sagte Audrey Mathieu, Referentin für EU-Klimapolitik bei Germanwatch. „Um die ständige Überdehnung der Grenzen des Planeten zu stoppen, brauchen wir auch eine engere internationale Kooperation auf mehreren Ebenen. So muss die Bundesregierung jetzt zum Beispiel mit ihren europäischen Partnern die Umsetzung des European Green Deal beschleunigen“, fordert Mathieu. Zudem müssten mit zentralen Schwellenländern Klimapartnerschaften zum zügigeren Umstieg Richtung Klimaneutralität auf- und ausgebaut werden. Das ‚Global Footprint Network‘ sieht auch Städte und Kommunen in der Verantwortung: „Durch ihre Infrastruktur und ihre Regulierungsbefugnisse haben Stadtregierungen bedeutende Möglichkeiten, Ressourceneffizienz zu fördern und damit die Zukunft der Städte zu gestalten. Eine zu späte Anpassung birgt enormes Risiko. Darum wird Klimahandeln zur existentiellen Notwendigkeit für Städte, unabhängig von internationalen Vereinbarungen.

Doch was kann jede und jeder Einzelne tun? „Allein mit Veränderungen im persönlichen Lebensstil ist es unmöglich, den Erdüberlastungstag weit genug nach hinten zu schieben. Aber jede Veränderung beginnt mit einem ersten Schritt und den macht man am besten im eigenen Leben“, betont Johannes Küstner, Referent für Bildung bei Brot für die Welt. Für den zweiten Schritt hin zum gesellschaftlichen Wandel hat das evangelische Hilfswerk mit Germanwatch in Ergänzung zum Konzept des Fußabdrucks den „Handabdruck“ entwickelt. „Der Handabdruck steht für die Hebel, die jede und jeder von uns selbst in Bewegung setzen kann, um Nachhaltigkeit in Mobilität, Ernährung, Energie, Finanzen oder Ressourcennutzung zum neuen Standard zu machen. Das geht am Arbeitsplatz, in der Schule oder Uni, im Verein oder in der Kommune sowie auf Landes- und Bundesebene“, erklärt Marie Heitfeld von Germanwatch. Zu den Themenfeldern Nachhaltige Mobilität, Wirtschaft und Arbeit, Energie und Rohstoffnutzung sowie Ernährung und Landwirtschaft haben die Organisationen Vorschläge zusammengestellt, wie man auf allen Ebenen aktiv werden kann. So kann sich jeder und jede dafür engagieren, dass im Sport- oder Musikverein bei Veranstaltungen nachhaltige Produkte auf dem Teller und Buffet landen, sich an der eigenen Schule oder Hochschule für die Gründung eines Tausch- oder Leihladens einsetzen für Gegenstände, die nicht alle selbst besitzen müssen, oder sich bei der Arbeit dafür starkmachen, dass Bahnreisen der Vorzug vor dem Flieger gegeben wird. (ab)

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