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28.02.2022 |

IPCC: Klimawandel stellt wachsende Gefahr für Mensch und Natur dar

Duere
Dürren werden häufiger & heftiger (Foto: CC0)

Der vom Menschen verursachte Klimawandel stellt eine enorme Gefahr für die Gesundheit des Planeten und seiner Bewohner*innen dar und bedroht die Lebensgrundlagen von Milliarden Menschen weltweit, warnt der Weltklimarat IPCC. „Die Zunahme von Wetter- und Klimaextremen hat zu einigen irreversiblen Folgen geführt, da natürliche und menschliche Systeme über ihre Anpassungsfähigkeit hinaus belastet wurden“, heißt es in einem am 28. Februar veröffentlichten Bericht der Arbeitsgruppe II des internationalen Expertengremiums. Die Wissenschaftler*innen schätzen, dass etwa 3,3 bis 3,6 Milliarden Menschen in Kontexten und Gebieten leben, die „durch den Klimawandel stark gefährdet sind“. Die am wenigsten widerstandsfähigen Menschen und Ökosysteme wird es am härtesten treffen. Bereits heute bedroht der Klimawandel das Leben vieler Menschen, da er sich auf landwirtschaftliche Erträge, die menschliche Gesundheit und die Ernährungssicherheit auswirke. „Der Bericht ist eine eindringliche Warnung vor den Folgen der Untätigkeit. Er zeigt, dass der Klimawandel eine ernste und wachsende Gefahr für unser Wohlergehen und einen gesunden Planeten darstellt“, sagte der IPCC-Vorsitzende Hoesung Lee auf der Pressekonferenz zur Vorstellung des Berichts. „Er zeigt auch, dass unser heutiges Handeln bestimmen wird, wie sich die Menschen an den Klimawandel anpassen und wie die Natur auf die zunehmenden Klimarisiken reagiert.“

Der Bericht der Arbeitsgruppe II ist der zweite Beitrag zum Sechsten IPCC-Sachstandsbericht (AR6). Bereits im August 2021 hatte die Arbeitsgruppe I ihren Part zu den naturwissenschaftlichen Grundlagen des Klimawandels vorgelegt. Der neue Bericht untersucht die Folgen des Klimawandels und Verwundbarkeiten sowie Anpassungskapazitäten und -grenzen natürlicher Systeme und menschlicher Gesellschaften an den Klimawandel. 270 Autor*innen aus 67 Ländern hatten dafür über 34.000 Fachpublikationen ausgewertet, mehr als 64.000 Kommentare von Expert*innen und Regierungen gesichtet und auf 3.675 Seiten den aktuellsten Wissensstand zusammengefasst. Die Zusammenfassung für die politische Entscheidungsfindung wurde von Delegierten der 195 IPCC-Mitgliedsländer auf einer Online-Konferenz verabschiedet, die am 27. Februar nach 2 Wochen endete.

Der erste Teil der Zusammenfassung behandelt bereits beobachtbare und vorhergesagte Folgen und Risiken. „Der von Menschen verursachte Klimawandel, einschließlich häufigerer und intensiverer Extremereignisse, hat weitverbreitete negative Folgen und damit verbundene Verluste und Schäden für Natur und Menschen verursacht“, lautet die erste Hauptaussage. Der IPCC warnt in seiner Pressemitteilung, dass zunehmende Hitzewellen, Dürren und Überschwemmungen bereits jetzt die Toleranzschwelle von Pflanzen und Tieren überschreiten und zu einem Massensterben von Arten wie Bäumen und Korallen führen. Wetterextreme treten immer häufiger gleichzeitig auf. Millionen von Menschen vor allem in Afrika, Asien, Zentral- und Südamerika sowie auf kleinen Inseln würden so akuter Ernährungsunsicherheit und Wasserknappheit ausgesetzt. Der Klimawandel bringe zudem wirtschaftliche Verluste für Sektoren wie Landwirtschaft, Forstwirtschaft und Tourismus mit sich, heißt es im Bericht. Menschen werden mit Ernteeinbußen, Hunger, der Zerstörung von Häusern und Infrastruktur sowie dem Verlust von Eigentum und Einkommen konfrontiert. Die Verwundbarkeit von Ökosystemen und Menschen durch den Klimawandel ist zwischen und innerhalb von Regionen ganz unterschiedlich ausgeprägt, aber als Daumenregel lässt sich sagen, dass die ohnehin schwächsten am stärksten leiden. „Die Anfälligkeit ist dort höher, wo Armut, Probleme mit der Regierungsführung, ein begrenzter Zugang zu grundlegenden Dienstleistungen und Ressourcen sowie gewaltsame Konflikte vorherrschen und wo die Existenzgrundlagen vieler (z.B. Kleinbauern, Hirten, Fischerei-Gemeinschaften) stark vom Klima abhängen.“ Die Zukunft unserer Ökosysteme werde in hohem Maße durch menschliche Einflüsse bestimmt werden, z.B. durch nicht nachhaltige Konsum- und Produktionsmuster, steigenden Bevölkerungsdruck sowie die weiterhin nicht nachhaltige Nutzung und Bewirtschaftung von Land, Ozeanen und Wasser. „Während die landwirtschaftliche Entwicklung zur Ernährungssicherheit beiträgt, erhöht eine nicht nachhaltige Agrarexpansion, die zum Teil durch eine unausgewogene Ernährung angetrieben wird, die Anfälligkeit von Ökosystemen und Menschen und führt zu einem Wettbewerb um Land- und/oder Wasserressourcen.“

Der Bericht unterscheidet zwischen Risiken in naher Zukunft (2021-2040) und mittel- bis langfristigen Risiken (2041-2100). Es gilt als gesichert (hohes Vertrauen), dass eine globale Erwärmung von 1,5° in naher Zukunft „unvermeidbare Zunahmen vielfältiger Klimagefahren verursachen und vielfältige Risiken für Ökosysteme und Menschen mit sich bringen“ würde. Ab 2040 werden dann je nach Ausmaß der Erderwärmung zahlreiche Gefahren für Natur und Mensch auftreten: „Der Klimawandel wird zunehmend Druck auf die Produktion von und den Zugang zu Nahrungsmitteln ausüben, gerade in verwundbaren Regionen, und so die Ernährungssicherheit untergraben.“ Dürren, Hitzewellen und Überschwemmungen werden häufiger und heftiger auftreten und der Meeresspiegel weiter ansteigen. Auch das führt zu Ernährungsunsicherheit, die desto schlimmer wird, je höher der Temperaturanstieg ausfällt. „Bei einer globalen Erwärmung von 2°C oder mehr werden die Risiken für die Ernährungssicherheit aufgrund des Klimawandels mittelfristig größer sein und zu Unterernährung und Mikronährstoffmangel führen, vor allem in Subsahara-Afrika, Südasien, Mittel- und Südamerika und auf kleinen Inseln“, warnen die Autor*innen.

Der zweite Absatz der Kurzfassung behandelt die Anpassung an den Klimawandel. Es gebe Fortschritte bei der aktuellen Planung und Umsetzung von Anpassungsmaßnahmen, doch der Anpassungsfortschritt sei ungleichmäßig verteilt. Es wird auch kurzsichtig gehandelt: „Viele Initiativen priorisieren die unmittelbare und zeitnahe Verringerung des Klimarisikos, was die Möglichkeit für transformative Anpassung verringert“, lautet eine Hauptaussage. Die gute Nachricht ist, dass es machbare und wirksame Anpassungsoptionen gibt, die die Risiken für Mensch und Natur verringern können. In Bezug auf Landwirtschaft und Ernährungssicherheit sagen die Autor*innen, dass „effektive Anpassungsoptionen zusammen mit unterstützenden öffentlichen Maßnahmen die Verfügbarkeit und Stabilität von Nahrungsmitteln verbessern und das Klimarisiko für Lebensmittelsysteme verringern und zugleich deren Nachhaltigkeit erhöhen“. Als wirksame Optionen nennt der Bericht „Agroforstwirtschaft, gemeinschaftsbasierte Anpassung, Diversifizierung der Landwirtschaft und Landschaft sowie urbane Landwirtschaft“. Es gilt auch als gesichert (hohes Vertrauen), dass agrarökologische Prinzipien und Praktiken, ökosystembasiertes Management in Fischerei und Aquakultur und andere Ansätze, die mit natürlichen Prozessen arbeiten, für Ernährungssicherheit, Ernährung, Gesundheit und Wohlbefinden, die Lebensgrundlagen und die Artenvielfalt, die Nachhaltigkeit und Ökosystemleistungen dienlich sind“, so die Wissenschaftler*innen. Zu diesen Leistungen gehören Schädlingsbekämpfung, Bestäubung, Abfederung von Temperaturextremen sowie die Kohlenstoffbindung und -speicherung. „Gesunde Ökosysteme sind widerstandsfähiger gegenüber dem Klimawandel und stellen lebenswichtige Dienstleistungen wie Nahrung und sauberes Wasser bereit“, sagte der Ko-Vorsitzende der Arbeitsgruppe II, Hans-Otto Pörtner. „Durch die Wiederherstellung geschädigter Ökosysteme und den wirksamen und gerechten Schutz von 30 bis 50 Prozent der Land-, Süßwasser- und Meereslebensräume der Erde kann die Gesellschaft von der Fähigkeit der Natur, Kohlenstoff zu absorbieren und zu speichern, profitieren, und wir können die Fortschritte auf dem Weg zu einer nachhaltigen Entwicklung beschleunigen.“ Es sei jedoch eine angemessene Finanzierung und politische Unterstützung unerlässlich.

Der IPCC unterstreicht, dass integrierte, sektorübergreifende Lösungen, die sich mit sozialen Ungleichheiten befassen und je nach Klimarisiko und lokaler Situation differenziert reagieren, die Ernährungssicherheit und die Ernährung verbessern. Zudem weist er darauf hin, dass „Anpassungsstrategien, die Nahrungsmittelverluste und -verschwendung reduzieren oder eine ausgewogene Ernährung unterstützen (wie im IPCC-Sonderbericht zu Klimawandel und Land beschrieben) zu Ernährung, Gesundheit, Biodiversität und anderen Umweltvorteilen beitragen“. Pörtner fügte hinzu: „Die wissenschaftlichen Erkenntnisse sind eindeutig: Der Klimawandel ist eine Bedrohung für das menschliche Wohlergehen und die Gesundheit des Planeten. Jede weitere Verzögerung bei konzertierten globalen Maßnahmen wird ein kurzes und sich schnell schließendes Fenster zur Sicherung einer lebenswerten Zukunft verpassen.“ (ab)

24.02.2022 |

Bio gewinnt in Deutschland und weltweit an Boden

Herz
Bioprodukte boomen (Foto: CC0)

Die ökologisch bewirtschaftete Fläche und die Nachfrage nach Bioprodukten wachsen, sowohl weltweit als auch in Deutschland. Das zeigen ein Bericht des Forschungsinstituts für biologischen Landbau FiBL und von IFOAM – Organics International sowie die neusten Zahlen des Bund Ökologische Lebensmittelwirtschaft (BÖLW). Beide Publikationen wurden Mitte Februar anlässlich des virtuell stattfindenden Branchentreffens BIOFACH präsentiert. Dem Jahrbuch „The World of Organic Agriculture“ für das Jahr 2020 zufolge wurden rund um den Globus fast 75 Millionen Hektar Land ökologisch bewirtschaftet – ein Anstieg um 4,1% oder 3 Millionen Hektar gegenüber dem Vorjahr. Das Jahrbuch enthält Daten zum Ökolandbau in 190 Ländern. Australien führt das Länder-Ranking mit einer absoluten Biofläche von 35,7 Millionen Hektar an, wobei schätzungswiese 97% dieser Fläche extensiv bewirtschaftetes Grünland sind. Auf Platz zwei folgt Argentinien mit 4,5 Millionen Hektar Bioanbaufläche, gefolgt von Uruguay (2,7 Mio. Hektar), Indien (2,6 Mio. ha) und Frankreich (2,5 Mio. ha). Aufgrund des hohen Flächenanteils Australiens liegt die Hälfte der weltweiten ökologischen Anbaufläche in Ozeanien (35,9 Mio. ha). Europa hatte die zweitgrößte Fläche (17,1 Mio. ha), gefolgt von Lateinamerika mit 9,9 Millionen Hektar.

Der globale Anteil des Ökolandbaus ist mit 1,6% noch deutlich ausbaufähig, doch 18 Länder haben schon mehr als 10% der landwirtschaftlichen Fläche auf Bio umgestellt. Liechtenstein führte 2020 mit einem Bioanteil von 41,6% an der Gesamtfläche. In Österreich wurden 26,5% der Fläche ökologisch bestellt, während es in Estland 22,4%, in Sao Tome und Principe 20,7% und in Schweden 20,4% waren. In 54% der Länder, für die Daten verfügbar sind, wurde jedoch weniger als 1% der Agrarfläche ökologisch bewirtschaftet. Weltweit gab es laut IFOAM und FiBL 2020 rund 3,4 Millionen Bioproduzenten – ein Anstieg um 7,6% gegenüber 2019. Mehr als die Hälfte (53,7%) von ihnen leben in Asien, während 24,7% in Afrika und 12,4% in Europa ackern. Die meisten Biobäuerinnen und -bauern sollen in Indien leben (1,59 Millionen), gefolgt von Äthiopien (219.566) und Tansania (148.607). Die Autor*innen verweisen jedoch darauf, dass genaue Zahlen schwer zu ermitteln sind, da einige Länder nur die Anzahl der Unternehmen, Projekte oder Erzeugergemeinschaften melden, sodass die Gesamtzahl der Produzent*innen noch höher sein könnte.

Mit einem Plus von 14 Milliarden Euro gegenüber dem Vorjahr erlebte der globale Markt für Bioprodukte 2020 einen Boom, der so deutlich ausfiel wie noch nie: Er wurde auf umgerechnet 120 Milliarden Euro geschätzt. Hier sind die USA führend mit einem Umsatz von 49,5 Mrd. Euro vor Deutschland und Frankreich mit 15 bzw. 12,7 Mrd. Euro. Der kanadische Biomarkt legte um 26,1% zu, während es in China 23% und in Deutschland 22,3% waren. Den Bioboom schreiben die Herausgeber auch der Corona-Lage zu: „Die Auswirkungen der Pandemie zeigen sich an den Einzelhandelsdaten. Da die Menschen sich vermehrt zu Hause verpflegten und Gesundheit, Umwelt und Klimawandel zu wichtigen Themen wurden, stieg der Bioumsatz im Einzelhandel rapide an“, sagte Helga Willer, die bei FiBL für die Herausgabe des statistischen Jahrbuchs verantwortlich ist. Gleichzeitig sei jedoch in vielen Ländern der Umsatz in der Gastronomie zurückgegangen. Betrachtet man den Anteil von Bioprodukten am Gesamtmarkt, so ist Dänemark führend mit 13%. In Österreich liegt der Anteil bei 11,3% und in der Schweiz bei 10,8%. Die Schweizer griffen mit umgerechnet 418 Euro pro Kopf am tiefsten ins Portemonnaie. Den Dänen waren Biolebensmittel 384 Euro wert, während in Luxemburg und Österreich 285 bzw. 254 Euro ausgegeben wurden.

Der Bund Ökologische Lebensmittelwirtschaft (BÖLW) wartete für Deutschland bereits mit brandaktuellen Zahlen für das Jahr 2021 auf. Hierzulande vergrößerte sich die Öko-Fläche im letzten Jahr um 81.762 Hektar auf nun insgesamt 1.784.002 Hektar – ein Zuwachs von 4,8% gegenüber 2020. Es gibt mittlerweile 35.716 Bio-Höfe in ganz Deutschland. Mit 13,6% aller Betriebe wirtschaftet mehr als jeder siebte Betrieb ökologisch. Aktuell werden 10,8% aller Landwirtschaftsflächen in Deutschland mit Bio beackert. Bis zum Jahr 2030 will Deutschland 30% schaffen. „Es liegt jetzt an den Regierenden, allen voran Bundesminister Cem Özdemir, nicht nur 30% Bio bis 2030 und Öko als Leitbild auszurufen, sondern alle erforderlichen Weichen für den Umbau unseres Agrar- und Ernährungssystems zu stellen“, sagte Tina Andres, Vorstandsvorsitzende des BÖLW. „Wichtig ist, dass die EU-Agrarpolitik (GAP) national so gestaltet wird, dass sie zum 30% Bio-Ziel passt“, betont der geschäftsführende BÖLW-Vorstand, Peter Röhrig. „Die aktuellen Pläne, die in diesen Tagen festgeschnürt werden, benachteiligen Bio-Betriebe immens, anstatt sie zu unterstützten“, bemängelt er jedoch. „Landwirtinnen und Landwirte setzen darauf, dass ihre Umweltleistungen, die sie mit Bio erbringen, auch künftig mit der GAP angemessen honoriert werden.“ (ab)

21.01.2022 |

Kritischer Agrarbericht: Transformation wagen, faire Preise für Lebensmittel!

Supermarkt
Die wahren Preise? (Foto: CC0)

Mit einer Bestandsaufnahme der aktuellen agrarpolitischen Debatten und einem Katalog von 50 Kernforderungen an die neue Bundesregierung wartet der soeben erschienene „Kritische Agrarbericht 2022“ auf. Es ist die mittlerweile 30. Ausgabe des Jahrbuches, das vom AgrarBündnis e.V., einem Zusammenschluss von derzeit 25 Verbänden der bäuerlich-ökologischen Landwirtschaft, Entwicklungszusammenarbeit und Kirchen sowie aus Umwelt-, Natur- und Tierschutz, herausgegeben wird. Das 352 Seiten starke Buch, das auch online bereitsteht, will die gesellschaftliche Auseinandersetzung um eine nachhaltige Transformation von Landwirtschaft und Ernährung in Deutschland, Europa und weltweit anstoßen. Im Fokus dieser Ausgabe steht das Thema „Preis Werte Lebensmittel“. Präsentiert wurde der Bericht am 20.1. auf einer Online-Pressekonferenz. Die Herausgeber zeigen sich in Bezug auf die neue Bundesregierung und die Ausrichtung der Agrarpolitik zunächst zuversichtlich. Vieles von dem, was in den Verbänden an Positionen erarbeitet worden sei, finde sich auch im Koalitionsvertrag wieder. Frieder Thomas, Geschäftsführer des AgrarBündnisses, betonte jedoch, dass es jetzt dringend notwendig sei, den Reformstau aufzulösen und die dringend notwendige Transformation der Landwirtschaft anzugehen.

13 Kapitel des Berichts befassen sich mit dem Schwerpunktthema. „Wir müssen wieder etwas mehr über Preise reden“, sagte Thomas in der Videokonferenz. „In der Vergangenheit haben wir uns in der Agrarpolitik relativ stark auf die Förderung konzentriert, um Veränderungen voranzutreiben. Wir haben versucht, das, was die Menschen an der Ladentheke nicht bereit waren zu bezahlen, über Fördermittel zu kompensieren. Das ist nicht ganz falsch, aber es reicht nicht aus.“ Das angemessene Einkommen für Bäuerinnen und Bauern und die Kosten für den Umbau in Richtung mehr Nachhaltigkeit sei so nicht vollständig zu finanzieren. „Alle Berechnungen, die wir haben, machen deutlich, dass die derzeit öffentlich vorhandenen Mittel für angemessene Erzeugerpreise und für eine Transformation der Landwirtschaft bei Weitem nicht ausreichen“, so Thomas. Es sei notwendig zu differenzieren: Es gehe einerseits um faire Erzeugerpreise, aber auch um Preise an der Ladentheke und vor allem um Verbraucherpreise, die die „Wahrheit“ sagen.

Wichtig seien drei Aspekte: erstens eine faire Verteilung der Erlöse in der Wertschöpfungskette. Das Stichwort laute „Verhandlungen auf Augenhöhe“. Hierzu beschäftigen sich Philippe Boyer und Marita Wiggerthale im Kapitel „Mehrwert fair verteilen“ mit gesetzlichen Bestimmungen in Frankreich und Spanien, die verhindern sollen, dass Verarbeiter und Handel die Erzeugerpreise unter die Produktionskosten drücken können. Frankreich hat 2018 nach einem Beteiligungsprozess der Stakeholder der Landwirtschafts- und Lebensmittelbranche das Gesetz ÉGalim verabschiedet und Spanien 2020 eine Konkretisierung zum Lebensmittelliefergesetz „Ley de la Cadena Alimentaria“. „Beide Initiativen haben das Ziel, den Mehrwert zwischen den einzelnen Stufen der Wertschöpfungsketten fairer und d. h. stärker zugunsten der landwirtschaftlichen Lieferanten zu verschieben. Frankreich versucht über eine Neuberechnung der Mindest-Einstandspreise die Margen zu verschieben. In Spanien muss die Ermittlung der Produktionskosten in die Verträge aufgenommen werden“, schreiben die Autor*innen. Ähnliche Maßnahmen erwartet Thomas auch von der neuen Bundesregierung. Wiggerthale formuliert basierend auf den Beobachtungen zu Frankreich und Spanien Schlussfolgerungen für die Debatte in Deutschland und nennt Aspekte, die bei einem Verbot des Einkaufs unterhalb der Produktionskosten, berücksichtigt werden sollten.

Als zweiten Aspekt nennt Thomas die Notwendigkeit der Bilanzierung von Qualitäten und Leistungen, damit so gegebenenfalls einen Mehrpreis an der Ladentheke erreicht werde oder dort, wo das nicht gelingt, eine Bedingung für Fördermittel formuliert werden kann. Der BUND-Bundesvorsitzende Olaf Bandt kritisierte, dass immer noch viel Geld mit der Gießkanne über Europas Äcker und Wiesen verteilt werde: „Die EU-Agrarmilliarden müssen dafür genutzt werden, gesellschaftliche Leistungen der Landwirtinnen und Landwirte zu honorieren. Wer mehr für den Klimaschutz macht, die Tiere besser hält, weniger Pestizide einsetzt und die Biodiversität schützt, muss unterstützt werden." Drittens bedürfe es der Bilanzierung externer Kosten. Hier gibt es unterschiedliche Ansätze, denen gemein ist, dass negative Begleiterscheinungen bestimmter Produktionsformen, die auf Kosten von Natur und Allgemeinheit gehen, – Thomas bezeichnet sie auch als „Kollateralschäden“ – in Berechnungen münden, um das Ergeben von Steuern und Abgaben auf Produktionsweisen oder Produkte zu rechtfertigen, die zu diesen externen Kosten führen. Dann könne man dieses Geld nehmen, um damit positiv zu fördern, oder damit auch zu erreichen, dass sich das Konsumverhalten ändert. So würden bewusste Konsumentscheidungen und mehr Fairness am Markt ermöglicht.

Im Kapitel „Auf der Suche nach dem ‚wahren Preis‘“ beschäftigen sich Allegra Decker, Amelie Michalke und Tobias Gaugler mit den Chancen und Grenzen von True Cost Accounting bei Lebensmitteln. Sie zeigen zunächst die Schäden auf, die durch die Produktion unserer Lebensmittel und deren Beitrag zum Klimawandel entstehen, die wiederum hohe Folgekosten nach sich ziehen. Diese Kosten fallen nicht den Verursacher*innen und Produzent*innen zu Last, sondern müssen von allen getragen werden. Das verstoße gegen das Verursacherprinzip der Vereinten Nationen, welches besagt, dass die Verantwortlichen für Schäden aufkommen müssen. Darüber hinaus sei der Status quo landwirtschaftlicher Systeme in vielerlei Hinsicht nicht mit den UN-Nachhaltigkeitszielen (SDGs) vereinbar. Als Beispiele für externe und nicht in Lebensmittel eingepreiste Kosten führen die Autor*innen Maßnahmen zur Trinkwasseraufbereitung infolge zu hoher Nitratgehalte oder Schäden durch Extremwetterereignisse aufgrund des Klimawandels auf. Dass diese Kosten nicht in den Preisen enthalten (internalisiert) seien, stelle einen „Marktfehler“ dar. „Es stellt sich daher die Frage, welche Lebensmittel wie viel teurer werden müssten, damit die bei ihrer Produktion verursachten Umweltfolgekosten verursachergerecht einbezogen sind und sich der Konsum der Produkte entsprechend korrekter Marktpreise an die unverzerrte Nachfrage anpassen kann.“ Das Kapitel widmet sich dem „True Cost Accounting“, wobei unter Zuhilfenahme von Lebenszyklusanalysen oder Ökobilanzen Emissionen und Ressourcenverbrauch der Produktion ermittelt und eingepreist werden. Es sei Aufgabe der Politik, Kostenwahrheit verbindlich einzuführen. „Denkbar wären hierzu ordnungspolitische Instrumente wie die Besteuerung von CO2-Emissionen oder Stickstoffdünger. Diese Maßnahmen sollten möglichst früh in der Wertschöpfungskette ansetzen – also bereits in der Vorproduktion“, schreiben Decker, Michalke und Gaugler. Trotz teurerer Lebensmittelpreise wäre dieses Vorgehen für die Verbraucher*innen kostengünstiger als das Verharren im Status quo.

Die ordnungspolitische Umsetzung und Einpreisung von Umweltschäden würde den ökologischen Fußabdruck der Wirtschaft verkleinern, Einfluss auf die Kaufentscheidungen von Konsument*innen nehmen und nachhaltige Landwirtschaft fördern, lautet das Fazit der Autor*innen. Der Staat würde über verursachergerechte Lebensmittelpreise Mehreinnahmen generieren, die er in Form einer Klimadividende an umweltbewusst handelnde Landwirt*innen und Bürger*innen zurückverteilen könnte. Der gelernte Landwirt und Diplom-Agraringenieur Nikolai Fuchs, Mitglied im Vorstand der GLS Treuhand und Stiftungsrat der Zukunftsstiftung Landwirtschaft, schreibt, dass es wohl wenig überraschend ein Maßnahmenmix sein müsse, um hier Veränderungen herbeizuführen: ein Mix aus Abschaffung umweltschädlicher Subventionen, (neuen) Lieferkettengesetzen, Einführung von True-Cost-Konzepten, Preisverhandlungen zwischen Landwirtschaft und Handel ‚auf Augenhöhe‘, ja, auch Ordnungsrecht und dazu mehr Umwelt- und Verbraucherbildung etc. „Aber letztlich werden wir es als Gesellschaft bzw. als Bürger*innen nur schaffen, wenn wir immer auch die Handlungslücke bei uns selbst kleiner bekommen: Das Tun trainieren, wie einen Muskel, durch mehr von dem Tun, was wir ‚eigentlich‘ wollen, angefeuert durch unseren Willen und Wunsch, den Planeten für unsere Kinder und Enkel lebenswert zu erhalten“, so Fuchs. (ab)

13.01.2022 |

Pestizidatlas fordert Reduzierung des Einsatzes von Ackergiften

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Pestizideinsatz in Tonnen (Grafik: Pestizidatlas 2022 Eimermacher/Puchalla, CC-BY-4.0)

Weltweit werden immer mehr hochgiftige Pestizide in der Landwirtschaft eingesetzt, obwohl die Folgen für die Biodiversität und die Gesundheit von Pflanzen, Tieren und Menschen gravierend sind. Auch in der EU bleibt der Einsatz auf einem hohen Niveau und es werden dazu noch Pestizide exportiert, die auf europäischen Äckern schon längst verboten sind – häufig in Länder des globalen Südens, wo viele Menschen ihnen oft schutzlos ausgeliefert sind. Das prangert der Pestizidatlas 2022 an, der am 12. Januar von der Heinrich-Böll-Stiftung, dem Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND) und dem Pestizid Aktions-Netzwerk (PAN Germany) veröffentlicht wurde. Die Publikation liefert auf über 50 Seiten und in über 80 Grafiken zahlreiche Daten und Fakten zu Ackergiften in Deutschland und weltweit, analysiert die profitablen Geschäfte der Agrarchemiekonzerne und zeigt Alternativen zur Pestizidnutzung auf. Mit Blick auf Deutschland rufen die Herausgeber die Bundesregierung dazu auf, den Einsatz von Pestiziden konsequent zu reduzieren, besonders toxische Pestizide zu verbieten sowie dem Export von hier verbotenen Pestiziden einen Riegel vorzuschieben.

Dem Pestizidatlas zufolge ist die Menge der rund um den Globus eingesetzten Pestizide seit 1990 um 80% gestiegen. „Heute liegt die jährlich ausgebrachte Pestizidmenge bei circa 4 Millionen Tonnen weltweit. Fast die Hälfte davon sind Herbizide, die gegen Unkräuter verwendet werden; knapp 30 Prozent sind Insektizide, die gegen schädliche Insekten wirken und etwa 17 Prozent sind Fungizide gegen Pilzbefall“, heißt es dort. Marktanalysen bezifferten den Wert des globalen Pestizid-Marktes im Jahr 2019 auf fast 84,5 Milliarden US-Dollar. Seit 2015 gab es ein jährliches Plus von mehr als 4 Prozent. „Bis 2023 wird eine Wachstumsrate von 11,5 Prozent und damit ein Anstieg auf fast 130,7 Milliarden US-Dollar Marktwert prognostiziert“, schreiben die Autor*innen. Hier sind also enorme Profite zu verbuchen und die fahren vor allem die großen Player ein: Die vier Konzerne Syngenta Group, Bayer, Corteva und BASF teilten sich 2018 etwa 70% des Weltmarktes für Pestizide. 1994 hatte der Marktanteil der vier größten Anbieter noch 29% und 2009 immerhin „nur“ 53% betragen – die Konzentration der Marktmacht schreitet rasant voran. Die Zunahme beim Pestizideinsatz ist in einigen Regionen der Welt besonders stark ausgeprägt: In Südamerika wurden 2019 rund 767.443 Tonnen Pestizide eingesetzt – ein Anstieg von 143,5% gegenüber 1999. Pro Hektar Anbaufläche kamen 2019 mehr als 5 Kilogramm Pestizidwirkstoffe in Südamerika zur Anwendung – mehr als in allen anderen Regionen weltweit. „Vor allem in Ländern mit großer Artenvielfalt wie Brasilien, Argentinien und Paraguay ist der Herbizideinsatz insbesondere seit der großflächigen Einführung von gentechnisch verändertem, pestizidresistenten Soja, das als billiges Futtermittel für die Tiermast eingesetzt wird, dramatisch gestiegen“, beklagt Barbara Unmüßig, Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung. „Damit wurde auch das zentrale Versprechen der Agro-Gentechnik, Ackergifte mit Hilfe von Gentechnik deutlich zu reduzieren, auf groteske Weise konterkariert.“

Der Einsatz von Pestiziden führt zu anhaltenden Belastungen von Mensch, Natur und Umwelt. „So lassen sich an Luftmessstellen Pestizide nachweisen, die bis zu 1000 Kilometer weit entfernt ausgebracht wurden. Auch in Naturschutzgebieten finden sich Pestizidrückstände. Insbesondere Gewässer in der Nähe landwirtschaftlich genutzter Gebiete weisen hohe Pestizidbelastungen auf. Meeressäuger an deutschen Küsten sind bis heute mit Pestiziden belastet, die seit 40 Jahren verboten sind“, schreiben die Autor*innen des Atlas. Für die menschliche Gesundheit birgt der Pestizideinsatz große Gefahren durch Vergiftungen, vor allem im Globalen Süden, wo Arbeiter*innen oftmals nicht ausreichend geschützt sind. Konservativen Berechnungen zufolge sei in Asien von jährlich rund 255 Millionen Vergiftungsunfällen auszugehen, in Afrika von knapp über 100 Millionen und in Europa von rund 1,6 Millionen. „Mit dem massiven Pestizideinsatz weltweit vergiften wir Menschen und Natur. 385 Millionen jährliche Pestizidvergiftungen weltweit sind ein Skandal“, empört sich Doris Günther, Vorstand von PAN Germany. „Pestizidkonzerne haben längst den Globalen Süden als neuen Wachstumsmarkt für ihre Produkte ausgemacht. Auch deutsche Firmen exportieren hochgefährliche Pestizide nach Afrika, Asien und Lateinamerika, die bei uns zum Schutze der Bevölkerung und der Umwelt verboten wurden.“ Die deutsche und europäische Politik müsse dies beenden und konsequent den Export verbotener Pestizide gesetzlich untersagen.

Besonders gravierend sind die Folgen des steigenden Pestizideinsatzes für die Artenvielfalt. „Konventionell bewirtschaftete Äcker weisen nur drei Prozent der floristischen Artenvielfalt auf, die auf Äckern zu finden ist, die noch nie mit Pestiziden behandelt wurden. Auf biologisch bewirtschafteten Äckern liegt die Vielfalt mit 53 Prozent erheblich höher“, zitieren die Herausgeber aus Studien. „Ein Umdenken ist dringend notwendig, denn der hohe Pestizideinsatz schadet der Biodiversität. Er trägt zum Verlust zahlreicher Nützlinge bei, ohne die wiederum noch mehr Pestizide notwendig sind. Der damit verbundene Rückgang bestimmter Wildpflanzenarten führt zum Verlust von Lebensraum und Nahrung für spezialisierte Insekten. Zudem führt der Einsatz von in geringen Mengen hochwirksamen Neonikotinoiden zum Sterben von Wildbienen“, fasst BUND-Vorsitzender Olaf Bandt zusammen. „Der Verlust der Artenvielfalt weltweit, aber auch in Deutschland ist dramatisch und kann nur gestoppt werden, wenn der Einsatz von Ackergiften deutlich reduziert wird.“ Von der neuen Bundesregierung erwartet Bandt gesetzgeberisches Handeln. Dabei müsse die Gesamtmenge der Pestizide um die Hälfte gesenkt und besonders gefährliche Pestizide verboten werden. „Es müssen innerhalb der jetzigen Legislaturperiode konkrete Maßnahmen umgesetzt werden, um die Erfolge der Pestizidreduktion zu kontrollieren. Entscheidend dabei ist, dass die landwirtschaftlichen Betriebe dabei unterstützt werden mit weniger Pestiziden wirtschaftlich tragfähig zu arbeiten. Weniger Pestizide und mehr biologische Vielfalt auf dem Acker soll sich für alle Betriebe lohnen“, so Bandt.

Der Atlas zeigt auch Lösungen auf. Als Bestandteil einer ambitionierten Strategie der Bundesregierung zur Pestizidreduktion bringt er eine Pestizidabgabe ins Spiel. „Erkenntnisse aus Dänemark zeigen, dass die Einführung einer Pestizidabgabe ein geeignetes Instrument sein kann, um finanzielle Anreize für eine geringere Pestizidnutzung zu schaffen“, schreiben die Autor*innen. „Eine solche an den Risiken der Pestizide ausgerichtete Abgabe – je schädlicher das Pestizid, desto höher die Steuer – trägt dazu bei, besonders toxische Pestizide zu verteuern und Betriebe stärker zu motivieren, auf weniger schädliche Wirkstoffe umzusteigen.“ Allerdings müsse die Abgabe hoch genug sein, um Wirkung zu entfalten. So könnten Einnahmen generiert werden, die sich für die Förderung nicht-chemischer Pflanzenschutzverfahren einsetzen ließen. Eine Trendwende ist nicht unmöglich. Der Atlas liefert auch Beispiele aus der ganzen Welt, die zeigen, dass immer mehr Städte, Staaten und Regionen versuchen, weniger Pestizide auf ihren Feldern und Flächen auszubringen – oder gar komplett darauf zu verzichten. In Indien haben mehrere Bundesstaaten begonnen, ihre Landwirtschaft auf biologischen Anbau umzustellen und den Einsatz von Pestiziden zu verbieten: „Der kleine Bundesstaat Sikkim wird die erste Region weltweit sein, die wirklich zu 100 Prozent ökologisch produziert. Dieser Schritt stellt einen enormen Paradigmenwechsel dar in einem Land, das jahrzehntelang auf den hohen Einsatz von synthetischen Düngemitteln und Pestiziden gesetzt hatte“, heißt es im Atlas. Auch der Bundesstaat Andhra Pradesh kündigte 2018 an, dass die rund sechs Millionen Bäuerinnen und Bauern des Staates spätestens ab 2024 ohne chemisch-synthetische Pestizide arbeiten werden. Mexiko hat auf Druck der Zivilgesellschaft den Einsatz von Glyphosat ab 2024 verboten. Kirgistan plant sogar, komplett aus der Pestizidnutzung auszusteigen. 2018 wurde beschlossen, die gesamte Landwirtschaft innerhalb der nächsten 10 Jahre auf ökologischen Produktion umzustellen. „Für eine ökologische Trendwende braucht es Umdenken in der Landwirtschaft – und politischen Willen“, schreiben die drei Herausgeber im Vorwort. Es bleibt abzuwarten, ob dieser bei der neuen Bundesregierung vorhanden ist. (ab)

28.12.2021 |

Insekten in deutschen Naturschutzgebieten sind stark mit Pestiziden belastet

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Insekten sind pestizidbelastet (Foto: CC0)

Insekten in deutschen Naturschutzgebieten sind stark mit Pestiziden belastet. Das zeigt eine neue Studie, die am 16. Dezember im Fachjournal „Scientific reports“ erschien und an der unter anderem die Universität Koblenz-Landau und der Entomologische Verein Krefeld beteiligt waren. Keine einzige der Insektenproben, die von Forscher*innen in den untersuchten Schutzgebieten mithilfe sogenannter Malaisefallen entnommen wurden, war unbelastet. Im Schnitt ließen sich bei Insekten in von Agrarlandschaft umgebenen Schutzgebieten mehr als 16 verschiedene Pestizide nachweisen. „Unsere Daten zeigen deutlich, dass Insekten in Naturschutzgebieten mit einem Cocktail aus Pestiziden belastet sind“, betont Dr. Carsten Brühl vom Institut für Umweltwissenschaften der Universität Koblenz-Landau. „Wenn man bedenkt, dass die Risikobewertung im Rahmen der Zulassungsverfahren von Pestiziden davon ausgeht, dass Insekten mit nur einem Pestizid in Kontakt kommen, liegt auf der Hand, wie realitätsfern diese Bewertungspraxis ist“, so Brühl.

Im Rahmen des vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderten Projekts DINA (Diversity of Insects in Nature protected Areas) unter Leitung des Naturschutzbundes Deutschland (NABU) untersuchten neun Projektpartner über zwei Jahre hinweg die Insektenvielfalt in deutschen Naturschutzgebieten. Die 21 Gebiete umfassen verschiedene Habitate im ganzen Bundesgebiet von den Lütjenholmer Heidedünen hoch im Norden bis hin zur Mühlhauser Halde im Schwarzwald. Es handelt sich um „streng geschützte Lebensräume“ im Natura2000-Programm der Europäischen Union, darunter orchideenreiche Kalkmagerrasen oder seltene Silikatmagerrasen. Alle Gebiete liegen in der Agrarlandschaft und sind von konventionell genutzten Flächen umgeben. Die in den Malaisefallen gefangenen Insekten wurden direkt in Alkohol konserviert. Da der Alkohol in der Fangflasche auch als Lösungsmittel für viele Chemikalien dient, die sich außen oder innen an den Insektenkörpern befinden, konnten die Wissenschaftler*innen direkt ermitteln, welche Pestizide an den Tieren hafteten. Bisherige Studien befassten sich dagegen mit der Belastung von Luft und Boden. „Mit unserer Methode können 92 aktuell in Deutschland zugelassene Pestizide gleichzeitig in geringen Mengen analysiert werden“, erklärt Nikita Bakanov von der Landauer Forschungsgruppe.

Die Ergebnisse der Studie sind erschreckend: Auf den Insekten konnten 47 der 92 zugelassenen Pestizide festgestellt werden. Dabei handelte es sich um 13 Herbizide, 28 Fungizide und 6 Insektizide. Im Schnitt waren die Insektenproben mit 16,7 Pestiziden belastet. In einem Schutzgebiet waren die Insekten sogar mit 27 verschiedenen Stoffen belastet. Die geringste Belastung lag in einem der Gebiete bei sieben Pestiziden. Die Forscher*innen wiesen sogar das Neonicotinoid Thiacloprid, das seit August 2020 in der EU im Freiland verboten ist, da es unter anderem als besonders gefährlich für Bienen gilt, in 16 der 21 Naturschutzgebiete nach. Die Aufbrauchfrist für Thiacloprid endete erst im Februar 2021. „Das hohe Vorkommen von Thiacloprid in unseren Proben an vielen Standorten in Deutschland könnte daher auch die letzte Gelegenheit für Landwirte widerspiegeln, ihre verbleibenden Bestände zu nutzen“, schreiben die Autor*innen. Sie verweisen auf die paradoxe Situation, dass ein Verbot zu einer stärkeren Belastung des Ökosystems führen kann, wenn es zugleich zu Anwendungen des Pestizids in großem Umfang kommt. „Daher erscheint es ratsam, bei potenten Pestiziden, die vom Markt genommen werden, keine Schonfristen mehr zu gewähren und Restbestände zu vernichten, statt sie trotz des Wissens um die hohen Umweltrisiken in die Umwelt zu bringen“, raten die Forscher*innen.

Die Wissenschaftler*innen kombinierten die Studienergebnisse mit einer Raumanalyse. „Wir wollten herausfinden, wo die Insekten die Pestizide aufnehmen“, erklärt Lisa Eichler vom Leibniz-Institut für ökologische Raumentwicklung in Dresden. Die Analyse zeigte, dass die Insekten die Pestizide auf Anbauflächen in einem Umkreis von zwei Kilometern aufgenommen hatten. Das Problem besteht darin, dass die Naturschutzgebiete in Deutschland in der Regel recht klein seien, erläutern die Autor*innen der Studie. Im Durchschnitt hätten sie eine Größe von unter 300 Hektar, 60% seien sogar kleiner als 50 Hektar. Der Flugradius vieler Insekten ist aber weitaus größer und da die Gebiete meist von konventionell bewirtschafteten Ackerflächen umgeben sind, gelangen die Insekten so in Kontakt zu den Pestiziden. Politik, Wissenschaft und Landschaftsplanung müssen daher Pufferzonen einplanen, betonen die Koautoren vom Entomologischen Verein Krefeld, Thomas Hörren und Dr. Martin Sorg. Sie fordern eine vernünftige, wissenschaftsbasierte Raum- und Landschaftsplanung, denn bis heute sei ein „biodiversitätsfördernder Ackerbau ohne Pestizideinsätze sowohl innerhalb als auch am direkten Rand neben wertvollsten Schutzgebieten eine Ausnahmeerscheinung. Um von dieser Ausnahme zum notwendigen Regelfall zu werden, bedarf es allerdings geeigneter, heute nicht ausreichend existierender Konzepte und Förderprogramme für die angepasste, landwirtschaftliche Bewirtschaftung.“

Diese Forderung nach Pufferzonen um Naturschutzgebiete, in denen keine synthetischen Pestizide eingesetzt werden dürfen und die ökologisch bewirtschaftet werden, unterstreicht auch Dr. Brühl. Die Landschaftsplanung sollte in Puffergürteln von zwei Kilometern Breite um die Naturschutzgebiete prioritär Ökolandbau fördern. Den Berechnungen des Forschungsteams zufolge würde ein solcher Schutzraum für alle Naturschutzgebiete in Deutschland etwa 30% der Agrarfläche betreffen. „Diese Zahl mag auf den ersten Blick groß erscheinen“, so Brühl, aber entspreche der Forderung der EU nach 25% und der neuen Ampelkoalition nach 30% an Bio-Landwirtschaft bis 2030. Die Politik habe noch neun Jahre Zeit. „Das politische Ziel ist da, getragen wird es auch durch die Nachfrage der Verbraucher nach Bio-Lebensmitteln. Wichtig ist nun die gezielte Umsetzung“, mahnt Brühl. Auch die Krefelder Autoren fordern entschlossene Schutzmaßnahmen. „Mit dem einfachen, allseits beliebten Gießkannenprinzip kann man nicht auf den dringend notwendigen Schutz der Artenvielfalt in den bedeutendsten Schutzgebieten fokussieren“, betonen Hörren und Sorg. Vielmehr toleriere man damit fortschreitende, regionale Artenverluste. „Denn es sind die Schutzgebiete in denen sich im Regelfall die Populationen der regional oder bundesweit vom Aussterben bedrohten Insektenarten befinden. Dies sind daher die Schauplätze der Biodiversitätsschäden, die wir als Aussterbeereignisse im wahrsten Sinne des Wortes „nachhaltig“ den kommenden Generationen vererben, wenn kein wirksamer Schutz etabliert wird.“ (ab)

03.12.2021 |

FAO: Lebensmittel sind so teuer wie seit 10 Jahren nicht mehr

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Getreide ist 23,2% teurer als vor einem Jahr (Foto: CC0)

Die monatlich erscheinenden Pressemitteilungen der Welternährungsorganisation FAO zur Entwicklung der globalen Lebensmittelpreise warteten dieses Jahr nicht mit guten Nachrichten auf. Sie zeigten nur einen Trend – und der ging steil bergauf. Nun verkündete die FAO am Donnerstag mit den neusten Zahlen für November erneut einen traurigen Rekord: Die Weltmarktpreise für die wichtigsten Agrarerzeugnisse waren im letzten Monat so hoch wie schon seit mehr als 10 Jahren nicht mehr. Der FAO Food Price Index, der die Preise von international gehandelten Agrarrohstoffen und Nahrungsmitteln gebündelt in 5 Warengruppen abbildet, erreichte im November 134,4 Punkte. So hoch war der Wert seit Juni 2011 nicht mehr, als der Index bei 135 Punkten lag, und er ist nicht mehr weit entfernt vom bisherigen Höchststand mit 137,6 Punkten im Februar 2011. Damit liegt der aktuelle Wert auch deutlich über den 132,5 Punkten im Juni 2008, als die Welt gerade den Höhepunkt der Lebensmittelpreiskrise mit Protesten und Hungerrevolten erlebt hatte. Die Preise für landwirtschaftliche Erzeugnisse lagen im November um 1,2% über dem Niveau des Vormonates. Seit Anfang des Jahres haben die Preise insgesamt um 32,5 % angezogen.

Das Preishoch im November ist der FAO zufolge vor allem einer höheren Nachfrage nach Weizen und Milchprodukten geschuldet. Der Teilindex für Milchprodukte legte im Vergleich zu Oktober um 3,4% zu. Das führen die Expert*innen vor allem auf eine starke Importnachfrage nach Butter und Milchpulver zurück sowie schwindende Lagerbestände in einigen wichtigen Erzeugerländern in Westeuropa. Der Getreidepreisindex kletterte seit Oktober um 3,1 Prozentpunkte und lag 23,2% höher als im November letzten Jahres. Weizen war so teuer wie seit Mai 2011 nicht mehr, da eine starke Nachfrage einer verknappten Verfügbarkeit gegenübersteht. Das hat unter anderem auch mit schlechten Ernteaussichten in Australien zu tun, da Regenfälle den Landwirten einen Strich durch die Rechnung machten. Der Index für Zucker notierte 1,4% höher als im Oktober und lag 40% über dem Wert von November 2020. Der Index für Pflanzenöl hingegen sank leicht um 0,3%, war aber auch schon im Oktober auf einem Höchststand. Und auch der Index für Fleisch ließ leicht um 0,9 Prozentpunkte nach.

Die FAO veröffentlichte zudem die neusten Prognosen für die diesjährige Getreideproduktion: Insgesamt 2,791 Milliarden Tonnen Getreide werden voraussichtlich 2021 weltweit geerntet werden, ein neuer Rekordwert und ein Plus von 0,7 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Allerdings schätzen die Expert*innen, dass auch die Verwendung von Getreide deutlich anziehen wird mit 2,81 Milliarden Tonnen. Dadurch werden die Lagerbestände um 0,9% abnehmen, doch die FAO spricht noch von einer „insgesamt komfortablen Verfügbarkeitslage“. Besorgniserregender ist allerdings die Ernährungslage in vielen Ländern der Welt. Konflikte und Dürren verschärfen die Situation in Ländern, die ohnehin schon von Ernährungsunsicherheit gebeutelt sind, vor allem in Ost- und Westafrika. Die FAO gibt an, dass aktuell 44 Länder weltweit auf externe Hilfe und Lebensmittellieferungen angewiesen sind. Davon liegen 33 in Afrika und 9 in Asien. (ab)

23.11.2021 |

Export bienenschädlicher Neonicotinoide aus der EU boomt

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Die EU exportiert Bienengifte (Foto: CC0)

Insektizide auf Basis sogenannter Neonicotinoide gelten als gefährlich für Bienen und Bestäuber. Obwohl die Ausbringung der drei „Bienenkiller“ Imidacloprid, Thiamethoxam und Clothianidin in der EU im Freiland seit 2018 verboten ist, stellten Agrochemiekonzerne wie Syngenta und Bayer weiterhin große Mengen dieser Insektizide in der EU her und exportieren diese – vor allem in Länder mit schwächeren Vorschriften, wie Brasilien, die eigentlich entscheidend für die Bewahrung der Biodiversität wären. Das zeigt eine Recherche der Schweizer Nichtregierungsorganisation „Public Eye“ und von Unearthed, dem Investigativ-Team von Greenpeace Großbritannien.

Allein in den letzten vier Monaten des Jahres 2020 meldeten Agrochemiekonzerne die Ausfuhr von fast 3.900 Tonnen Neonicotinoiden, darunter über 700 Tonnen mit den in der EU verbotenen Wirkstoffen Imidacloprid von Bayer, Thiamethoxam von Syngenta und Clothianidin von Bayer bzw. BASF. Diese Menge würde zur Behandlung von etwa 20 Millionen Hektar Ackerland ausreichen, also der gesamten Agrarfläche Frankreichs, betonen die Organisationen. Sie kritisieren, dass die EU trotz des Verbots auf den eigenen Feldern den massenhaften Export genau jener Substanzen weiterhin toleriert. „Die Entscheidung der EU war eine Weltpremiere und spiegelte den breiten wissenschaftlichen und politischen Konsens wider, den Schutz von Bienen und anderen Bestäubern markant zu verstärken, von denen ein Drittel der weltweiten Nahrungsmittelproduktion abhängt“, schreiben sie in der Pressemitteilung. Von der EU fordern sie nun entschlossenes Handeln.

Public Eye und Unearthed analysierten vertrauliche Ausfuhrdaten, die sie gestützt auf das Öffentlichkeitsgesetz von der Europäischen Chemikalienagentur (ECHA) eingefordert hatten. Seit September 2020 müssen alle Exporte von in der EU verbotenen Chemikalien im Rahmen internationaler Richtlinien gemeldet werden. Die Recherche zeigt, dass das große Geschäft mit den für Bienen und Bestäuber gefährlichen Stoffen weitergeht und nun eben in anderen Teilen der Welt die Umwelt und die Biodiversität gefährdet. Die Auswertung ergab, dass die europäischen Behörden allein von September bis Dezember 2020 den Export von fast 3.900 Tonnen auf der Basis von Neonicotinoiden hergestellten Insektiziden genehmigten. Größter Exporteur aus Europa ist der Agrochemie-Konzern Syngenta, dessen EU-Tochtergesellschaften davon allein die Ausfuhr von 3.426 Tonnen Insektiziden meldeten. Von der Gesamtausfuhrmenge von 3.900 Tonnen machen 702 Tonnen die drei in der EU verbotenen Wirkstoffe aus, wovon der Löwenanteil mit 551 Tonnen (78,6%) auf Thiamethoxam von Syngenta entfiel. An zweiter Stelle steht Bayer mit Pestizidexporten von insgesamt 138 Tonnen, inklusive 60 Tonnen Imidacloprid und Clothianidin. BASF verkaufte laut den NGO-Recherchen 43,6 Tonnen des in der EU verbotenen Wirkstoffes Clothianidin. Produziert wurden die drei in der EU verbotenen Wirkstoffe in neun Mitgliedsstaaten: Belgien ist das wichtigste Exportland mit 310 Tonnen, gefolgt von Frankreich mit 157 Tonnen Wirkstoff und Deutschland mit 97 Tonnen.

Wichtigster Importeur von in der EU verbotenen Neonicotinoiden ist Brasilien. 318 Tonnen Wirkstoff oder 45,4% Prozent der Gesamtmenge wurden in das südamerikanische Land exportiert, das bis zu 20% der verbleibenden Biodiversität unseres Planeten beherbergt. Es folgen Russland (95 Tonnen), die Ukraine (44 Tonnen) und Argentinien (35 Tonnen). Was die Gesamtmenge an exportierten Neonicotinoiden anbelangt so ist Brasilien mit 2241 Tonnen Pestiziden auf der Basis von Neonicotinoiden der größte Absatzmarkt. Vor allem Syngenta generiert dort ordentliche Gewinne. Für die riesigen Sojaplantagen in Brasilien exportierte der Schweizer Konzern rund 2,2 Millionen Liter seines Hauptprodukts Engeo Pleno S. Der Verkaufsschlager enthält neben Thiamethoxam auch Lambda-Cyhalothrin, ein für Bienen ebenfalls hochgiftiger Stoff. Das Insektizid wird von Belgien aus nach Brasilien exportiert und die Menge dieses Produktes allein würde den NGOs zufolge ausreichen, um eine Fläche damit zu besprühen, die drei Mal so groß wie Belgien ist. Der Großteil der aus der EU exportierten Neonicotinoide oder 90% gehen in Länder mit niedrigem oder mittlerem Einkommen, wo die Anwendungsregelungen für Pestizide häufig weniger streng sind als in der EU. Weitere wichtige Importeure sind hier neben Brasilien auch Indonesien, Südafrika oder Ghana. Auch Marcos Orellana, der UN-Sonderberichterstatter für giftige Stoffe und Menschenrechte, forderte unlängst die EU auf, die „Externalisierung der Gesundheits- und Umweltkosten auf die Schwächsten“ zu beenden. (ab)

02.11.2021 |

Studie: Klimawandel wirkt sich schon 2030 erkennbar auf Erträge aus

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Die Maiserträge werden sinken (Foto: CC0)

Der Klimawandel wird schneller als erwartet die Erträge wichtiger Nutzpflanzen beeinflussen und vor allem Landwirt*innen im globalen Süden vor große Herausforderungen stellen. Bereits bis zum Ende dieses Jahrhunderts könnten die Maiserträge im weltweiten Durchschnitt um etwa 24% einbrechen, während beim Weizen hingegen deutliche Ertragszuwächse möglich sind. Das sind die Ergebnisse einer neuen Studie von NASA und Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK), die am 1. November im Fachjournal „Nature Food“ veröffentlicht wurde. „Wir stellen fest, dass die neuen Klimabedingungen die Ernteerträge in immer mehr Regionen erheblich beeinflussen. Die menschengemachten Treibhausgasemissionen führen zu höheren Temperaturen, veränderten Niederschlagsmustern und mehr Kohlendioxid in der Luft. Das hat Folgen für das Pflanzenwachstum“, erklärt der Hauptautor der Studie, Klimawissenschaftler Jonas Jägermeyr, der am Goddard Institute for Space Studies (GISS) der NASA, am Earth Institute der Columbia University in New York City und am PIK arbeitet. Den aktuellen Prognosen zufolge werden sich die Auswirkungen des Klimawandels auf die Landwirtschaft viel früher zeigen als bisher vermutet und damit kaum mehr Zeit für Gegenmaßnahmen lassen. „Selbst unter optimistischen Klimaszenarien, bei denen alle sich heftig ins Zeug legen, um den globalen Temperaturanstieg zu begrenzen, wird sich die globale Landwirtschaft einer neuen Klimarealität stellen müssen“, so Jägermeyr.

Für die Studie kombinierte das internationale Team eine Reihe neuer Klimaprojektionen des Klimamodell-Vergleichs CMIP6 sowie verschiedene aktualisierte Nutzpflanzen-Modelle im Rahmen des Agricultural Model Intercomparison and Improvement Project (AgMIP). Letztere simulieren, wie Pflanzen wachsen und auf Umweltbedingungen wie Temperatur, Regenfälle und die Konzentration von Kohlendioxid in der Atmosphäre reagieren. Die Daten hierzu bezog das Forscherteam aus den Klimamodellen. „Wir haben Nutzpflanzen-Simulationen durchgeführt, bei denen quasi mithilfe eines Supercomputers Tag für Tag virtuell Pflanzen angebaut werden und dann haben wir die Veränderungen von Jahr zu Jahr und Jahrzehnt zu Jahrzehnt in allen Teilen der Welt betrachtet“, sagt Alex Ruane, Co-Direktor der GISS Climate Impacts Group und Mitautor der Studie. Die Studie befasst sich nur mit den Folgen des Klimawandels, wenn sich aktuelle Trends fortsetzen, und bezieht keine Gegenmaßnahmen, wie wirtschaftliche Anreize, sich verändernde landwirtschaftliche Praktiken oder die Züchtung neuer Pflanzensorten. Das Team schaute sich Veränderungen bei den langfristigen durchschnittlichen Ernteerträgen an und prognostizierte, wann die Auswirkungen des Klimawandels als „erkennbares Signal“ auftreten werden im Gegensatz zu üblichen und in der Vergangenheit auch schon vorgekommenen Schwankungen bei den Erträgen. Sie stellten fest, dass es schon sehr bald und in sehr vielen wichtigen Anbauregionen zu erheblichen Veränderungen kommen wird. „Wir sehen, dass in vielen wichtigen Kornkammern der Welt anormale Jahre schon innerhalb des nächsten Jahrzehnts oder kurz danach zu normalen Jahren werden. Für uns ist das der Zeitpunkt, an dem das Klimawandel-Signal klar alles historische Rauschen übertönt“, so Jägermeyr.

Die Prognosen für Soja und Reis zeigten einen Rückgang in einigen Regionen, aber auf globaler Ebene sind sich die verschiedenen Modelle immer noch nicht einig über die Gesamtauswirkungen des Klimawandels. Bei Mais und Weizen hingegen war der Klimaeffekt viel deutlicher. Bis Ende 2100 könnten global die Mais-Erträge um bis zu 24% zurückgehen. Denn Mais wird gerade auch in subtropischen und tropischen Ländern angebaut, die von steigenden Temperaturen heftiger betroffen sein werden als kühlere Regionen der hohen Breiten. „Bei Weizen hingegen, der am besten in gemäßigten Klimazonen gedeiht, könnte die Produktivität in den derzeitigen Anbauregionen unter dem Klimawandel steigen, so etwa in den nördlichen Vereinigten Staaten und Kanada sowie in China“, schreibt das PIK in seiner Pressemitteilung zur Studie. Die Weizenerträge könnten je nach Szenario um bis zu 17,5% zunehmen. Doch Mitte des Jahrhunderts könnte auch hier einem der Modelle zufolge Schluss mit dem Ertragsplus sein. Die Forscher waren überrascht, wie bald sich der Klimawandel schon auf die Erträge niederschlagen wird. „ Wir haben nicht erwartet, solch eine grundlegende Änderung festzustellen im Vergleich zu Ertragsprognosen mit der vorigen Generation von Klima- und Nutzpflanzenmodellen, die wir 2014 vorgenommen haben“, sagte Jägermeyr. „Das bedeutet, dass sich die Landwirte viel schneller anpassen müssen, indem sie zum Beispiel den Zeitpunkt der Aussaat verändern oder andere Pflanzensorten verwenden.“

Die prognostizierten Ertragseinbußen drohen, bestehende Ungleichheiten noch weiter zu verstärken. „Insgesamt zeigen unsere Ergebnisse, dass in den niedrigeren Breitengraden die größten Verluste für alle Kulturpflanzen zu erwarten sind, während in den höheren Breitengraden potenzielle Gewinne zu verzeichnen sind“, schreiben die Autor*innen. Obwohl sich mehr als 90% des Mais- und Weizenanbaus derzeit in den gemäßigten und subtropischen Klimazonen abspiele, könnten erhebliche Ertragseinbußen die Lebensgrundlage und Ernährungssicherheit vieler Kleinbauern in den Tropen beeinträchtigen. „Unsere Daten zeigen deutlich, dass ärmere Länder wahrscheinlich die stärksten Rückgänge bei den Erträgen ihrer wichtigsten Grundnahrungsmittel verzeichnen werden“, betont Christoph Müller, Mitautor und ebenfalls Forscher am PIK. „Das verschärft die bereits bestehenden Unterschiede in der Ernährungssicherheit und im Wohlstand“. Denn den armen Ländern und natürlich den betroffenen Kleinbauern selbst fehle es oft an den Mitteln, sich ihre Nahrungsmittel auf dem Weltmarkt zu beschaffen. Im globalen Süden werde dies zu einem Risiko für die Ernährungssicherheit.

Die Modelle beziehen übrigens nicht nur die Temperatur als Faktor ein, um die Folgen des Klimawandels für Nutzpflanzen zu untersuchen. Auch der Kohlendioxidgehalt in der Atmosphäre wirkt sich aus. Ein höherer Gehalt beeinflusst zwar zunächst positiv das Pflanzenwachstum, gerade bei Weizen. Allerdings kann sich dadurch auch der Nährwert der Pflanzen verringern. Steigende globale Temperaturen stehen auch in Verbindung mit veränderten Niederschlagsmustern und der Häufigkeit und Dauer von Hitzewellen und Dürren, die die Gesundheit und Produktivität der Pflanzen gefährden. Sie beeinflussen auch die Dauer der Anbauperiode und beschleunigen den Reifeprozess. „Man kann sich Pflanzen so vorstellen, dass sie im Laufe der Vegetationsperiode Sonnenlicht sammeln“, illustriert Ruane. „Sie sammeln diese Energie und stecken sie dann in die Pflanze und die Körner. Wenn sie also durch die Wachstumsphasen eilen, haben sie bis zum Ende der Saison nicht so viel Energie gesammelt.“ Daher produziert die Pflanze insgesamt weniger Körner als bei einer längeren Entwicklungszeit. „Durch das schnellere Wachstum sinkt der Ertrag letztlich.“ (ab)

14.10.2021 |

Welthungerindex offenbart Rückschritte bei der Hungerbekämpfung

WHI Karte
Welthunger-Index 2021 © Welthungerhilfe

Die weltweite Ernährungslage ist besorgniserregend und beim Kampf gegen den Hunger sind herbe Rückschläge zu verzeichnen. Das zeigt der Welthunger-Index (WHI) 2021, der am Donnerstag von der Welthungerhilfe präsentiert wurde. Langwierige gewaltsame Konflikte, die Auswirkungen des Klimawandels und die Corona-Pandemie haben dazu beigetragen, dass die Welt bei der Hungerbekämpfung deutlich vom Kurs abgekommen ist und das Ziel, den Hunger bis 2030 weltweit zu beseitigen, voraussichtlich verfehlen wird. Weltweit hungern nach UN-Angaben etwa 811 Millionen Menschen und 41 Millionen leben am Rande einer Hungersnot. „Unsere Befürchtungen im letzten Jahr haben sich leider bestätigt. Hungersnöte sind zurück und multiple Krisen lassen die Zahl der Hungernden immer weiter steigen. Die Corona-Pandemie hat die angespannte Ernährungslage in vielen Ländern des Südens noch einmal verschärft und Millionen Familien haben ihre Existenzgrundlage verloren. Die größten Hungertreiber bleiben aber Konflikte und der Klimawandel. Die Ärmsten und Schwächsten werden von den Folgen des Klimawandels besonders hart getroffen, obwohl sie am wenigsten dazu beitragen“, sagte Marlehn Thieme, Präsidentin der Welthungerhilfe.

Der Welthunger-Index wird jedes Jahr von der Welthungerhilfe und Concern Worldwide herausgegeben. Die diesjährige Ausgabe wertete Daten zur Ernährungslage von 135 Ländern aus und fasst im Index vier Indikatoren zusammen: Der Anteil der Unterernährten an der Bevölkerung gemessen an der Deckung des Kalorienbedarfs, den Anteil von Kindern unter fünf Jahren, die an Auszehrung leiden (zu niedriges Gewicht im Verhältnis zur Körpergröße) oder die wachstumsverzögert sind (zu geringe Körpergröße im Verhältnis zum Alter, ein Anzeichen für chronische Unterernährung) sowie die Sterblichkeitsrate von Kindern unter fünf. Darauf basierend wird der WHI-Wert auf einer 100-Punkte-Skala ermittelt, wobei 100 der schlechteste Wert ist. Die Lage jedes Landes wird als niedrig, mäßig, ernst, sehr ernst oder gravierend eingestuft. Für 116 Länder lagen 2021 verlässliche Daten zu allen Indikatoren vor, während 19 Länder eine unvollständige Datenlage aufwiesen, sodass kein WHI-Wert berechnet werden konnte. Demnach ist in fast 50 Ländern die Hungersituation nach wie vor ernst, sehr ernst oder gravierend. In Somalia herrscht eine gravierende Hungersituation. In den fünf Ländern Zentralafrikanische Republik, Tschad, Demokratische Republik Kongo, Madagaskar und Jemen ist die Hungersituation sehr ernst und wird in vier weiteren Ländern – Burundi, Komoren, Südsudan und Syrien – vorläufig als sehr ernst bewertet. Für 31 Länder wird das Ausmaß an Hunger als ernst und für weitere sechs Länder vorläufig als ernst eingestuft.

Doch die Welthungerhilfe zeichnet auch ein düsteres Bild für die nächsten Jahre. Wenn sich die aktuellen Trends fortsetzen, wird die Weltgemeinschaft das Agenda 2030-Ziel, den Hunger in der Welt bis 2030 vollständig zu besiegen, nicht erreichen können. Für 47 Länder ist demnach ausgeschlossen, dass sie bis 2030 ein niedriges Hungerniveau erzielen werden. Davon befinden sich 28 in Afrika südlich der Sahara, während die übrigen Länder in Südasien, Westasien, Nordafrika, Ost- und Südostasien, Lateinamerika und der Karibik liegen. Zwar zeigen die WHI-Werte eine Verbesserung der globalen Hungerlage seit 2000, doch die Fortschritte verlangsamen sich. Während der globale WHI-Wert zwischen 2006 und 2012 um 4,7 Punkte von 25,1 auf 20,4 sank, fiel er seither nur noch um 2,5 Punkte. „Nach Jahrzehnten des Rückgangs steigt die weltweite Verbreitung von Unterernährung, einem der vier Indikatoren des WHI. Diese Entwicklung könnte ein Vorzeichen dafür sein, dass sich auch andere Hungerindikatoren umkehren“, heißt es im Bericht. Die aktuellsten Prognosen der UN-Landwirtschaftsorganisation FAO stützen die negativen Prognose bezüglich des Erreichens des 2. UN-Nachhaltigkeitsziels: Unter Berücksichtigung der Auswirkungen der Covid-19-Pandemie werden voraussichtlich 657 Millionen Menschen (fast 8% der Weltbevölkerung) im Jahr 2030 unterernährt sein – etwa 30 Millionen mehr als ohne die Pandemie.

Im Fokus des diesjährigen Berichts steht die fatale Wechselwirkung von Konflikten und Hunger. Die Anzahl der gewaltsamen Konflikte hat in den letzten Jahren wieder zugenommen. In acht von zehn Ländern mit einer sehr ernsten oder gravierenden Hungersituation tragen Konflikte maßgeblich zum Hunger bei. „Mehr als die Hälfte aller unterernährten Menschen lebt in Ländern, die von Gewalt, Konflikt und Fragilität geprägt sind. Wo Krieg herrscht, werden Ernten, Felder und wichtige Infrastruktur zerstört. Die Menschen verlassen ihre Dörfer aus Angst vor Kämpfen und Übergriffen und sind auf humanitäre Hilfe zum Überleben angewiesen. Wo Hunger und Armut herrschen, nehmen aber auch Konflikte zu“, erklärt Thieme. Sie fordert tragfähige politische Konfliktlösungen und eine Stärkung des Rechts auf Nahrung: „Der Einsatz von Hunger als Kriegswaffe muss endlich konsequent sanktioniert werden.“ Doch auch der Klimawandel ist ein Hungertreiber. „Bereits jetzt verschärft der Klimawandel die Ernährungsunsicherheit durch höhere Temperaturen, veränderte Niederschlagsmuster und häufigere Extremwetterereignisse; und die Auswirkungen sind weitverbreitet, rasant und intensivieren sich“, schreiben die Autoren des Berichts. Die Hungersituation ist in jenen Ländern deutlich schlechter, die besonders anfällig für typische Klimafolgen wie Regen- und Temperaturextreme sind, insbesondere in stark von der Landwirtschaft abhängigen Volkswirtschaften. „Die Klimakrise ist eine Frage der Gerechtigkeit. Daher brauchen wir auf der anstehenden Klimakonferenz im November in Glasgow klare und verbindliche Ziele für die Reduzierung des CO² Ausstoß sowie finanzielle Unterstützung für die Förderung von Klimaresilienz“, fordert Thieme.

Auch Entwicklungsminister Gerd Müller fordert im Vorfeld des Welternährungstags am 16. Oktober ein entschlossenes Vorgehen im Kampf gegen den Hunger und den Klimawandel. „Wo Menschen ihre Lebensgrundlagen verlieren und nichts mehr zu essen haben, verlassen sie ihre Heimat und es kommt zu Verteilungskonflikten. Und vor allem in Konfliktgebieten breitet sich der Hunger aus“, sagte er der Augsburger Allgemeinen. Dieser Teufelskreis drehe sich etwa im Jemen, in der Sahel-Region oder im Krisenbogen um Syrien immer weiter. „Wir müssen Hunger- und Armutsbekämpfung endlich als vorausschauende Friedenspolitik verstehen und ganz oben auf die Agenda der Weltpolitik setzen“, so der scheidende Minister. Schon vor Jahren sagte der Schweizer Soziologe und einstige UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung, Jean Ziegler: „Ein Kind, das heute an Hunger stirbt, wird ermordet“. Müller wählt in seinem Appell ähnliche Worte: „Über 800 Millionen Menschen leiden Hunger. Am Welternährungstag verhungern 15.000 Kinder, so wie an jedem anderen Tag. Das ist ein unglaublicher Skandal. Die Erde verfügt über genug Ressourcen, alle zu ernähren. Hunger ist Mord. Denn wir haben das Wissen und die Technologie, alle Menschen satt zu machen.“ (ab)

28.09.2021 |

Ernährungsgipfel gescheitert: Zwei Jahre Energie und Ressourcen in die falschen Bahnen gelenkt

UNFSS
Der UN-Generalsekretär eröffnet den 2021 United Nations Food Systems Summit (Credit: UN Photo/Eskinder Debebe)

Erste Stellungnahme der Mitglieder des Arbeitskreises Landwirtschaft und Ernährung (AGLE) des Forums Umwelt und Entwicklung (FUE) zum Welternährungsgipfel des UN-Generalsekretärs

Seit dem Ausbruch der Covid-19-Pandemie im Winter 2019 ist die Anzahl der Hungernden weltweit drastisch angestiegen. Umweltkatastrophen häufen sich, die Klimakrise spitzt sich weiter zu, es gibt immer mehr bewaffnete Konflikte und Kriege. Zusammen führen sie zu vermehrten Hungerkatastrophen in der Zivilbevölkerung. Die UN hätte längst die überfällige Trendwende einleiten müssen, doch der am 23. September 2021 ausgerichtete Welternährungsgipfel des UN-Generalsekretärs António Guterres (UN Food Systems Summit, UNFSS) in New York hat dieses Ziel deutlich verfehlt.

Der Gipfel hat weder das Recht auf Nahrung aller Menschen ins Zentrum gestellt noch gezielt die von Hunger und Armut betroffen Gruppen angehört. Entscheidungen mit den Menschen zu treffen hätte bedeutet, alle Energie in die globale Koordinierung der Bewältigung der Covid-19-Pandemie und ihrer Folgen zu stecken – etwa durch die Hilfe für 120 Millionen Menschen, die seit dem Jahr 2020 zusätzlich an chronischem Hunger leiden. Mit den Menschen Entscheidungen zu treffen hätte auch bedeutet, denen eine prominente und kritische Stimme zu geben, die von Umweltkatastrophen, der Klimakrise sowie von Konflikten und Kriegen aktiv bedroht sind und von der internationalen Staatengemeinschaft viel zu lange im Stich gelassen wurden und nun weiter werden.

Stattdessen hat der Gipfel noch mehr Platz für die profitorientierten Interessen von Konzernen und Banken geschaffen und philanthropische Organisationen in erster Reihe die Agenda mitbestimmen lassen. Dabei sind sie häufig genau die Akteure, die ein intensives industrielles Landwirtschaftsmodell und eine wachsende Konzernmacht fördern und verantworten – und damit gleichzeitig zu den Hauptverursachern der globalen Ernährungs- und Klimakrise zählen.

Wir, Mitglieder der Arbeitsgruppe Landwirtschaft und Ernährung (AGLE) des Forums Umwelt und Entwicklung (FUE) kritisieren die Struktur, Leitung, Gestaltung und Durchführung des Gipfels sowie die geplante Fortführung der Gipfelagenda und -strukturen, sowohl in der UN wie auch auf regionalen und nationalen Ebenen. Als Teil des internationalen Zivilgesellschaftsmechanismus (CSM) haben wir die Bundesregierung über zwei Jahre hinweg kontinuierlich dazu aufgefordert, sich gegen den Ausbau einer Multi-Stakeholder-Struktur stark zu machen und sich für den Erhalt einer inklusiven, menschenrechtsbasierten Steuerung der UN-Ernährungs- und Nahrungsmittelpolitik durch den Welternährungsausschuss (CFS) einzusetzen – vergeblich.

Basierend auf unseren Beobachtungen, der offiziellen Abschlusserklärung des UN-Generalsekretärs sowie den verschiedenen Absichtserklärungen im Rahmen des UN FSS kommen wir zu folgenden ersten Bewertungen:

• Der Gipfel war der erste UN-Ernährungsgipfel, der ohne Mandat der UN-Vollversammlung stattgefunden hat. Seine Ergebnisse haben damit keine normative Verbindlichkeit und sollten dementsprechend als Empfehlungen des UN-Generalsekretärs – nicht mehr und nicht weniger – bewertet werden.

• Der Gipfel hat die starken Machtgefälle zwischen den unterschiedlichen Akteuren im vorherrschenden industriellen Ernährungssystem und die Ursachen dafür missachtet. Es wurde versäumt, Maßnahmen zu deren Überwindung – wie die Regulierung von Konzernmacht und eine grundlegende Umgestaltung des unfairen Handelssystems – zu thematisieren.

• Stattdessen liegt der Fokus auf Produktionssteigerungen und Investitionsmöglichkeiten. Das soll mittels konzerngeprägter digitaler Technologien und Innovationen sowie der sogenannten nature-based production – also Intensivlandwirtschaft mit einem Nachhaltigkeitslabel – geschehen. Deren Finanzierung könnte strukturelle Probleme wie die Sicherung geistiger Eigentumsrechte an Saatgut und Wissen, Daten- und Landraub, insbesondere im globalen Süden, noch weiter verschärfen.

• Der Gipfel hat es insbesondere autokratischen Staaten einfach gemacht, sich hinter den Multi-Stakeholder-Strukturen zu verstecken, um sich ihrer Verantwortung für die Umsetzung des Rechts auf Nahrung zu entziehen. Dies gilt auch für die nationalen Dialoge.

• Die Organisator*innen des Gipfels beabsichtigen, die Multi-Stakeholder-Struktur des Gipfels durch einen Folgeprozess in der UN weiter auszubauen. Damit schwächen sie die Rolle der Staaten als gegenüber der Öffentlichkeit rechenschaftspflichtige Institutionen und entlassen sie aus deren primärer Verantwortung, die kaum thematisiert wird. Stattdessen werden private Akteure, die im kommerziellen Interesse handeln und Einfluss auf öffentliche Politiken nehmen, als Teil der Lösung anerkannt. Es wird missachtet, dass sie großenteils die Verantwortlichen für zentrale globale Probleme sind, wie die Klimakrise und Machtungleichgewichte. Damit verbundene, offensichtliche Interessenskonflikte werden nicht thematisiert.

• In der Abschlusserklärung des Generalsekretärs ist vorgesehen, eine Koordinierungsstelle (hub) für die Umsetzung der Konferenzergebnisse bei den in Rom ansässigen UN-Organisationen (FAO, IFAD, WFP) einzurichten. Zusätzlich soll diese Koordinierungsstelle auch noch von einer intransparenten Champions-Gruppe beraten werden, was eine Fortsetzung der intransparenten und willkürlichen Gipfelstrukturen bedeutet. Solch eine Koordinierungsstelle (hub) steht in direkter Konkurrenz zum erfolgreich arbeitenden UN-Welternährungskomitee (CFS) – dem inklusivsten UN-Gremium, welches für die Koordinierung von Ernährungsfragen in der UN zuständig ist. Denn das CFS ermöglicht durch die darin selbstorganisierte Zivilgesellschaft (CSM), wie Bäuer*innen Fischer*innen, Indigene, ärmere Gemeinschaften und weitere Rechtsträger*innen aus Betroffenengruppen, ein Mitspracherecht über die Inhalte zu Ernährungsproblemen und zum Menschenrecht auf Nahrung. Die Errichtung eines parallelen Gremiums würde dieses Mitspracherecht stark untergraben.

• Außerdem wird aktuell im CFS über die Errichtung einer internen Arbeitsgruppe diskutiert, die Antworten auf die Vorschläge und Ergebnisse im UNFSS geben soll. Diese würde bereits eine Weiterführung des Gipfels in der UN darstellen.

Die Rolle der Bundesregierung

• Die deutsche Bundesregierung hat es bedauerlicherweise verpasst, sich auf dem Gipfel für den Erhalt und die Stärkung des CFS auszusprechen. Im Gegenteil scheint sie die Bildung neuer, mit dem CFS konkurrierender Parallelstrukturen zu unterstützen. Auch das Menschenrecht auf Nahrung, wichtige Grundlage des CFS, wurde von der Bundesregierung beim Gipfel nicht als Handlungsgrundlage genannt.

• Gleichzeitig beteiligt sie sich – inhaltlich und finanziell – an sogenannten Aktionsbündnissen, die im Laufe der Gipfelvorbereitungen entstanden sind. Diese äußerst undurchsichtigen Multi-Stakeholder-Bündnisse beruhen auf einem willkürlichen Zusammenschluss verschiedener Akteure und sollen die Regierungen zu bestimmten Gipfelthemen im geplanten Folgeprozess des UNFSS beraten. Jedoch entstammt weder die Wahl der Gipfelthemen noch die Entstehung dieser Aktionsbündnisse einem legitimen und transparenten Prozess. Diese Aktionsbündnisse sind kontrovers und untereinander widersprüchlich. Ein Beispiel hierfür ist das von der USA vorgeschlagene Aktionsbündnis, Sustainable Productivity Growth for Food Security and Resource Conservation, welches sich aktiv gegen die von der EU im UNFSS beworbene Farm-to-Fork-Strategie der EU richtet[1]. Darüber hinaus sind wichtige Verfahrensfragen der Aktionsbündnisse unklar, etwa wie sie von Selbstverpflichtungen zu Handlungen kommen wollen und wie die Rechenschaftslegung funktioniert.

[1] Den USA und vielen an der Allianz beteiligten Staaten, insbesondere aus Nord- und Südamerika, gehen die Nachhaltigkeitsziele der Farm-to-Fork-Strategie (für die USA zu viel Ökolandbau und Pestizidreduzierung) – die allein von der EU beschlossen wurden, aber global durchgesetzt werden sollen – zu weit. Sie sehen ihre Exportinteressen bedroht. Gleichzeitig verfolgt auch die Farm-to-Fork-Strategie einen Multi-Stakeholder-Ansatz, der stark nach den Interessen der europäischen Agrar- und Ernährungskonzerne ausgerichtet ist. Dies trägt auch dazu bei, das insbesondere für die Zivilgesellschaft wichtige Konzept der Agrarökologie zu verwässern. Grundsätzlich ist auch zu hinterfragen, auf welcher Basis die EU interne Beschlüsse zum globalen Standard erheben will.

Die Mitglieder der AGLE – wie auch zahlreiche soziale Bewegungen und zivilgesellschaftliche Organisationen auf der ganzen Welt – sprechen sich bereits seit Jahren für eine grundlegende Transformation der bestehenden Ernährungssysteme aus, die auf agrarökologischen und menschenrechtsbasierten Prinzipien beruht.

Wir erwarten daher von der Bundesregierung, dass sie sich im Folgeprozess des Gipfels und auch in der nächsten CFS-Plenarsitzung vom 11. – 14. Oktober 2021 gegen die Finanzierung und Weiterführung der Aktionsbündnisse des UNFSS sowie gegen die Etablierung von neuen und parallelen Organisationstrukturen in Rom wie auch einer möglichen Arbeitsgruppe innerhalb des CFS zum UNFSS ausspricht. Dagegen soll sich die Bundesregierung für eine gestärkte Rolle und verbesserte Finanzierung des CFS sowie einem Arbeitsstrang zum Umgang mit den Folgen der Covid-19-Pandemie einsetzen.

Lena Bassermann, INKOTA-Netzwerk

Mireille Remesch, Agrarkoordination

Paula Gioia, Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft

Benedikt Härlin, Save our Seeds

Roman Herre, FIAN Deutschland

Stig Tanzmann, Brot für die Welt

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