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24.02.2023 |

Synthetische Pestizide viel gefährlicher als natürliche Wirkstoffe

Salat
Was und wie viel landet auf dem Acker? (Foto: CC0)

Schon seit Längerem rücken Berichte und Studien zum Verlust der Artenvielfalt und dem Zusammenhang zu Landnutzung und Pestizideinsatz zunehmend in den Fokus einer breiteren Öffentlichkeit. Spätestens seit sich die EU mit dem Grünen Deal und ihrer „Farm to Fork“-Strategie die Ziele gesteckt hat, den Ökolandbau in der EU bis 2030 auf 25 % der Agrarfläche auszuweiten und den Einsatz und das Risiko von chemisch-synthetischen Pestiziden zu halbieren, hat die politische und gesellschaftliche Debatte über die Art und Zukunft der Landwirtschaft wieder an Fahrt aufgenommen. Die europäische Pestizidindustrie sieht ihre Felle bzw. heimischen Absatzmärkte davonschwimmen und behauptete, dass im Ökolandbau Wirkstoffe verwendet würden, die ähnlich giftig seien wie synthetische Pestizide. In einer Stellungnahme zur „Farm to Fork“-Strategie schrieb sie, dass mehr Ökolandbaus zum „Anstieg des Gesamtvolumens des Pestizideinsatzes in Europa“ führe, „da einige Produkte, die im Ökolandbau oft genutzt würden, in viel größeren Mengen ausgebracht werden müssen als sparsamere chemische Alternativen“. Diese Behauptung unterzog nun die österreichische Umweltschutzorganisation GLOBAL 2000 im Auftrag von „IFOAM Organics Europe“ einem Faktencheck. Gemeinsam mit Professor Dr. Johann Zaller von der Universität für Bodenkultur (BOKU) Wien führte sie einen systematisch toxikologischen Vergleich durch, der Ende Dezember im Wissenschaftsjournal „Toxics“ veröffentlicht wurde. Dieser kam zu dem Ergebnis, dass 55 % der in der konventionellen Landwirtschaft verwendeten Pestizide Hinweise auf Gesundheits- oder Umweltgefahren tragen, während es bei den im Ökolandbau zugelassenen natürlichen Wirkstoffen nur 3 % waren.

Untersucht wurden in der Studie 256 Wirkstoffe (Active Substances = AS), die in der konventionellen Landwirtschaft zugelassen sind, sowie 134 natürliche Wirkstoffen, die auch in der Biolandwirtschaft in Europa erlaubt sind. Gegenstand der Bewertung waren nur Wirkstoffe, die für die Verwendung auf landwirtschaftlichen Flächen bestimmt sind, während Stoffe, die in der Nacherntebehandlung oder -lagerung verwendet werden, nicht einflossen. Alle Wirkstoffe wurden hinsichtlich ihrer Gefahrenpotentiale und Risiken sowie der Häufigkeit ihrer Verwendung analysiert. Als Maßstab für den Vergleich dienten die von der Europäischen Chemikalienagentur (EChA) festgelegten Gefahrenklassifizierungen des Global Harmonisierten Systems (GHS) sowie die von der Europäischen Behörde für Ernährungssicherheit (EFSA) im Zulassungsverfahren festgelegten ernährungs- und arbeitsmedizinischen Richtwerte. Von den synthetischen Pestizidwirkstoffen trugen 55 % (140 der 256 Wirkstoffe) zwischen einem und neun Gefahrenhinweisen auf Gesundheits- oder Umweltgefahren. Bei den natürlichen Wirkstoffen waren es nur 3 % oder vier der 134 natürlichen Wirkstoffe. Insgesamt stehen 8 % der in der konventionellen Landwirtschaft zugelassenen Wirkstoffe im Verdacht, das ungeborene Kind zu schädigen und 7 % wird eine krebserzeugende Wirkung zugeschrieben. Weitere 7 % können Organschäden verursachen, 5 % sind beim Verschlucken giftig und 3 % sind beim Verschlucken tödlich. Keine der oben genannten Gefahrenklassifizierungen findet sich bei den derzeit zugelassenen natürlichen Wirkstoffen, die im Ökolandbau erlaubt sind. Des Weiteren wurden 40 % der synthetischen Pestizid-Wirkstoffe als sehr giftig für Wasserorganismen eingestuft, aber nur 1,5 % der natürlichen Wirkstoffe, nämlich die beiden Insektizide Pyrethrine und Spinosad. Was die chronische aquatische Toxizität betrifft, so waren 50 % oder 127 konventionelle Pestizide schädlich, giftig oder sehr giftig für Wasserlebewesen mit lang anhaltenden Wirkungen. Bei den natürlichen Wirkstoffen waren es nur 1,5 % oder zwei - wieder die Wirkstoffe Pyrethrine und Spinosad, welche die Übertragung von Nervenimpulsen hemmen.

Außerdem wurden die gesundheitlichen Richtwerte untersucht, die sich auf die annehmbare tägliche Aufnahmemenge (ADI) für die regelmäßige Aufnahme über die Nahrung, die akute Referenzdosis (ArfD) für den sicheren Verzehr einer Mahlzeit und die annehmbare Anwenderexposition (AOEL) für die sichere nicht-alltägliche Exposition gegenüber Pestiziden beziehen. Die Festlegung von ernährungs- und arbeitsmedizinischen Richtwerten hielt die EFSA bei 93 % der konventionellen, aber nur bei 7 % der natürlichen Wirkstoffe für angebracht. Bei den im Ökolandbau zugelassenen Wirkstoffen wurden für die Insektizide Spinosad, Pyrethrine und Azadirachtin sowie das Fungizid Thymol die niedrigsten annehmbaren Werte für die ernährungsbedingte und nicht-ernährungsbedingte Exposition festgestellt. Sie lagen im Bereich zwischen 0,1 und 0,01 mg/kg Körpergewicht. Die niedrigsten annehmbaren Expositionswerte bei den konventionellen Pestiziden waren deutlich niedriger (zwischen 0,001 und 0,0001 mg/kg Körpergewicht) und betrafen die synthetischen Herbizide Tembotrion, Sulcotrion, Fluometuron, Metam (ebenfalls ein Nematizid, Insektizid und Fungizid) und Diclofop, sowie die zwei Insektizide Emamectin und Oxamyl. „Die Unterschiede, die wir festgestellt haben, sind ebenso signifikant wie wenig überraschend, wenn man die Herkunft der jeweiligen Pestizidwirkstoffe genauer betrachtet“, erklärt Helmut Burtscher-Schaden, Biochemiker von GLOBAL 2000 und Erstautor der Studie: „Während rund 90 % der konventionellen Pestizide chemisch-synthetischen Ursprungs sind und Screening-Programme durchlaufen haben, um die Substanzen mit der höchsten Toxizität (und damit höchsten Wirksamkeit) gegenüber den Zielorganismen zu identifizieren, handelt es sich beim Großteil der natürlichen Wirkstoffe gar nicht um Stoffe im eigentlichen Sinn, sondern um lebende Mikroorganismen.“ Dazu gehören etwa Bakterien oder Pilze. „Diese machen 56 % der zugelassenen ‘Bio-Pestizide’ aus. Als natürliche Bodenbewohner haben sie keine gefährlichen Stoffeigenschaften“, fügt er hinzu. Weitere 19 % der Bio-Pestizide seien von vornherein als „Wirkstoffe mit geringem Risiko“ (z.B. Backpulver) eingestuft oder als Grundstoffe (z.B. Sonnenblumenöl, Essig, Milch) zugelassen.

„Es ist klar, dass die in der konventionellen Landwirtschaft zugelassenen synthetischen Wirkstoffe weitaus gefährlicher und problematischer sind als die in der Biolandwirtschaft zugelassenen natürlichen Wirkstoffe“, kommentierte Jan Plagge, Präsident von IFOAM Organics Europe, die Ergebnisse in der Pressemitteilung zur Studie. „Biobetriebe konzentrieren sich auf vorbeugende Maßnahmen wie die Verwendung robuster Sorten, sinnvolle Fruchtfolgen, die Erhaltung der Bodengesundheit und die Erhöhung der Artenvielfalt auf dem Feld, um den Einsatz von externen Betriebsmitteln zu vermeiden. Aus diesem Grund werden auf rund 90 % der landwirtschaftlichen Flächen (vor allem im Ackerbau) keinerlei Pestizide eingesetzt, auch keine natürlichen Stoffe.“ Dies gilt vor allem für Ackerkulturen wie Weizen, Mais, Roggen, Gerste usw, bei denen im konventionellen Ackerbau hingegen routinemäßig Herbizide, häufig Fungizide und je nach Kultur und Witterung auch Insektizide gespritzt würden. Wenn die Schädlinge im Ökolandbau dennoch überhand nehmen, sei der Einsatz von Nützlingen, Mikroorganismen, Pheromonen oder Abschreckungsmitteln die zweite Wahl der Biobäuer:innen. „Natürliche Pflanzenschutzmittel wie die Mineralien Kupfer oder Schwefel, Backpulver oder pflanzliche Öle sind der letzte Ausweg für Spezialkulturen wie Obst und Wein“, betont Plagge. (ab)

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