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14.10.2022 |

WHI 2022: Krisen verschärfen weltweite Hungersituation

Tansania
Zugang zu Nahrung: ein oft verwehrtes Menschenrecht (Foto: CC0)

Die weltweite Hungersituation hat sich aufgrund mehrfacher Krisen und Konflikte dramatisch zugespitzt und die Bemühungen, den Welthunger bis 2030 zu beseitigen, geraten immer weiter ins Stocken. Das ist die Kernaussage des Welthunger-Index (WHI) 2022, der am 13. Oktober im Vorfeld des Welternährungstages von der Welthungerhilfe und Concern Worldwide veröffentlicht wurde. Sie deckt sich mit den Botschaften vieler anderer Berichte von UN-Organisationen und NGOs, die in den letzten Monaten vor einer sich anbahnenden Hungerkrise warnen. Der aktuelle Welthunger-Index zeigt, dass sich die aktuellen Krisen gegenseitig verstärken: „Durch die toxische Mischung aus bewaffneten Konflikten, Klimakrise und Covid-19 Pandemie waren bereits vor dem Krieg in der Ukraine Millionen Menschen mit enormen Preissteigerungen bei Nahrungsmitteln konfrontiert gewesen. Der Krieg in der Ukraine hat dies verschärft und so werden aus den weltweiten Hungerkrisen zunehmend Katastrophen“, sagte Marlehn Thieme, Präsidentin der Welthungerhilfe. Im Jahr 2021 mussten bis zu 828 Millionen Menschen hungern. Besonders besorgniserregend ist die Lage am Horn von Afrika, wo die schlimmste Dürre seit 40 Jahren herrscht. In Somalia erleben Menschen in einigen Regionen bereits eine lebensbedrohliche Hungersnot. Die Weltgemeinschaft wird den Hunger in der Welt bis 2030 nicht einmal ansatzweise beseitigen können, wenn wir so weitermachen wie bisher, lautet die traurige Prognose des Berichts, die sich damit kaum von denen der letzten Ausgaben unterscheidet.

Der Welthunger-Index wird jedes Jahr von der Welthungerhilfe und der irischen Hilfsorganisation Concern Worldwide herausgegeben. Die diesjährige Ausgabe wertete Daten zur Ernährungslage von 136 Ländern aus. In den Index fließen vier Indikatoren ein: Der Anteil der Unterernährten an der Bevölkerung gemessen an der Deckung des Kalorienbedarfs, den Anteil von Kindern unter fünf Jahren, die an Auszehrung leiden (zu niedriges Gewicht im Verhältnis zur Körpergröße) oder die wachstumsverzögert sind (zu geringe Körpergröße im Verhältnis zum Alter, ein Anzeichen für chronische Unterernährung) sowie die Sterblichkeitsrate von Kindern unter fünf. Darauf basierend wird der WHI-Wert auf einer 100-Punkte-Skala ermittelt, wobei 100 der schlechteste Wert ist. Die Lage jedes Landes wird als niedrig, mäßig, ernst, sehr ernst oder gravierend eingestuft. Für 121 Länder lagen 2022 verlässliche Daten zu allen Indikatoren vor, während 15 Länder eine unvollständige Datenlage aufwiesen, sodass kein WHI-Wert berechnet werden konnte. Für acht dieser Länder reichte die Datenlage zumindest für eine vorläufige Einstufung des Hunger-Schweregrads. Demnach ist in 44 Ländern die Hungersituation nach wie vor ernst oder sehr ernst. Sehr ernst ist sei in neun Ländern: der Zentralafrikanischen Republik, Tschad, der Demokratischen Republik Kongo, Madagaskar und Jemen. Auch Burundi, Somalia, Südsudan und Syrien wurden dieser Kategorie vorläufig zugeordnet, auch wenn Datengrundlage unsicher ist. „Vor allem für Teile Somalias ist eine dramatische Entwicklung zu befürchten: Bis Juli 2023 könnten etwa 1,8 Millionen Kinder unter fünf Jahren (54,5 Prozent aller Kinder des Landes) von akuter Fehlernährung betroffen sein“, heißt es in dem Bericht. Der Jemen ist das Land mit dem höchsten WHI-Wert. Gewaltkonflikte und die Abhängigkeit von Nahrungsmittelimporten beeinträchtigen die Ernährungssicherheit der Menschen massiv. Die Zentralafrikanische Republik verzeichnet den zweithöchsten WHI-Wert. Dort sind Gewalt und Vertreibung Hauptursachen für den Hunger.

Bei 20 Ländern, die den Kategorien mäßiger, ernster oder sehr ernster Hunger zugeordnet sind, lagen die WHI-Werte 2022 höher als im Jahr 2014, dem ersten Referenzjahr des Berichts. Betrachtet man den globalen Durchschnittswert, gab es in den letzten Jahren bei der Bekämpfung des Hungers kaum noch Fortschritte. Der globale WHI-Wert lag 2022 bei 18,2 und damit einem mäßigen Hungerniveau. 2014 lag er nur geringfügig höher bei 19,1. Positiv zu verbuchen seien zwar leichte Fortschritte in 32 Ländern, in denen sich die WHI-Werte seit dem Jahr 2000 mindestens halbiert haben. Diese Fortschritte entwickeln sich jedoch zu langsam. Ohne einen grundlegenden Richtungswechsel werden schätzungsweise 46 Länder bis 2030 kein niedriges Hungerniveau erzielen können. Doch allein die Tatsache, dass ein Land oder eine Region „nur“ einen niedrigen oder mäßigen Schweregrad an Hunger aufweist, heißt nicht, dass die Lage dort nicht allzu verheerend ist. Dem Bericht zufolge zeigt einer der vier WHI-Indikatoren – die Verbreitung von Unterernährung – auf, dass der Anteil der Menschen ohne regelmäßigen Zugang zu ausreichend Kalorien zunimmt. So ist die Unterernährungsrate in Westasien und Nordafrika in den letzten Jahren gestiegen und zwar von 6,1 % im Jahr 2010 auf 8,6 % im Jahr 2021, den höchsten Wert seit 2001. Auch in der Region Lateinamerika/Karibik ist der Trend problematisch: Zwar gilt hier ein noch niedriges Hungerniveau, aber die Unterernährungsquote ist seit 2014 (5,3 %) auf 8,6 % im Jahr 2021 geklettert.

Der Schwerpunkt des diesjährigen Berichts weist darauf hin, wie wichtig neben kurzfristigen Nothilfemaßnahmen die Schaffung von gerechten, nachhaltigen und krisenfesten Ernährungssystemen ist. Die Mitbestimmung lokaler Akteure bei der nationalen Ernährungspolitik spielt dabei eine Schlüsselrolle. Danielle Resnick, die für Brookings Institution und das International Food Policy Research Institute arbeitet, hat hierzu als Gastautorin ein Kapitel beigesteuert. „Angesichts eines globalen Ernährungssystems, das ungeeignet ist, Armut und Hunger nachhaltig zu beenden, finden Bürger*innen innovative Wege, die Ernährungspolitik auf lokaler Ebene zu verbessern und Entscheidungsträger*innen im Kampf gegen Ernährungsunsicherheit und Hunger zur Verantwortung zu ziehen“, schreibt sie. Durch aktuelle Entwicklungen zur Dezentralisierung von Regierungsfunktionen hätten Lokalregierungen in einer Reihe von Ländern mehr Autonomie und Autorität gewonnen, auch in Bezug auf entscheidende Funktionen der Ernährungssysteme. Doch in anderen Ländern werden zivilgesellschaftliche Räume zunehmend eingeschränkt, was die Bürger*innen daran hindert, ihr Recht auf angemessene Nahrung einzufordern und zu verwirklichen. „Das Recht auf Nahrung muss bei der Transformation der Ernährungssysteme im Mittelpunkt stehen. Dabei ist es von zentraler Bedeutung, dass die Zivilgesellschaft vor Ort Möglichkeiten hat, die jeweiligen staatlichen Strukturen zu überprüfen und Verbesserungen einklagen zu können“, betont daher auch Mathias Mogge, Generalsekretär der Welthungerhilfe. „Nur wenn die Gemeinschaften und Bäuerinnen und Bauern mit ihrem lokalen Wissen und ihren konkreten Bedürfnissen mitbestimmen, können nachhaltige Lösungen für die Beseitigung des Hungers gefunden werden.“

Der Bericht enthält zudem eine Reihe an Handlungsempfehlungen. Das Recht auf Nahrung sollte in nationalem Recht verankert und durch Beschwerdemechanismen gestützt werden. Regierungen sollen auf allen Ebenen eine inklusive Koordinierung ernährungsbezogener Strategien fördern. Planungs- und Haushaltsverfahren sollten Machtungleichgewichte und die Stimmen der vulnerabelsten Gruppen vorrangig berücksichtigen. Dies erfordert ein klares Verständnis der Bürger*innen ihrer Rechte, der relevanten Prozesse in Ernährungssystemen sowie Zugang zu Daten und Informationen. Zuständigkeiten für die Ernährungssicherung sollten auf untere Verwaltungsebenen übertragen und vermehrt lokale Ressourcen bereitgestellt werden. Mehr Geld müsse auch die internationale Gemeinschaft definitiv in die Hand nehmen, um Erfolge zu erzielen: „Wir müssen schnell auf die humanitären Notlagen reagieren und sowohl flexible und höhere Mittel zur Verfügung stellen und zugleich größere Investitionen für die Transformation der Ernährungssysteme bereitstellen“, fordert Marlehn Thieme. Je länger wir warten, desto geringer die Erfolgsaussichten. „Prävention zahlt sich aus. Investitionen, die heute getätigt werden, können künftige Krisen abwenden, die noch teurer und tragischer sein könnten“, schreiben Mathias Mogge und Dominic MacSorley, Vorstandsvorsitzender von Concern Worldwide, in ihrem Vorwort zum Bericht. „Die Verantwortung für die Beendigung des Hungers und die Sicherstellung des Rechts auf Nahrung für alle dürfen wir nicht der nächsten Generation zuschieben. Es ist unsere Pflicht, jetzt zu handeln.“ (ab)

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