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13.01.2022 |

Pestizidatlas fordert Reduzierung des Einsatzes von Ackergiften

Grafik
Pestizideinsatz in Tonnen (Grafik: Pestizidatlas 2022 Eimermacher/Puchalla, CC-BY-4.0)

Weltweit werden immer mehr hochgiftige Pestizide in der Landwirtschaft eingesetzt, obwohl die Folgen für die Biodiversität und die Gesundheit von Pflanzen, Tieren und Menschen gravierend sind. Auch in der EU bleibt der Einsatz auf einem hohen Niveau und es werden dazu noch Pestizide exportiert, die auf europäischen Äckern schon längst verboten sind – häufig in Länder des globalen Südens, wo viele Menschen ihnen oft schutzlos ausgeliefert sind. Das prangert der Pestizidatlas 2022 an, der am 12. Januar von der Heinrich-Böll-Stiftung, dem Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND) und dem Pestizid Aktions-Netzwerk (PAN Germany) veröffentlicht wurde. Die Publikation liefert auf über 50 Seiten und in über 80 Grafiken zahlreiche Daten und Fakten zu Ackergiften in Deutschland und weltweit, analysiert die profitablen Geschäfte der Agrarchemiekonzerne und zeigt Alternativen zur Pestizidnutzung auf. Mit Blick auf Deutschland rufen die Herausgeber die Bundesregierung dazu auf, den Einsatz von Pestiziden konsequent zu reduzieren, besonders toxische Pestizide zu verbieten sowie dem Export von hier verbotenen Pestiziden einen Riegel vorzuschieben.

Dem Pestizidatlas zufolge ist die Menge der rund um den Globus eingesetzten Pestizide seit 1990 um 80% gestiegen. „Heute liegt die jährlich ausgebrachte Pestizidmenge bei circa 4 Millionen Tonnen weltweit. Fast die Hälfte davon sind Herbizide, die gegen Unkräuter verwendet werden; knapp 30 Prozent sind Insektizide, die gegen schädliche Insekten wirken und etwa 17 Prozent sind Fungizide gegen Pilzbefall“, heißt es dort. Marktanalysen bezifferten den Wert des globalen Pestizid-Marktes im Jahr 2019 auf fast 84,5 Milliarden US-Dollar. Seit 2015 gab es ein jährliches Plus von mehr als 4 Prozent. „Bis 2023 wird eine Wachstumsrate von 11,5 Prozent und damit ein Anstieg auf fast 130,7 Milliarden US-Dollar Marktwert prognostiziert“, schreiben die Autor*innen. Hier sind also enorme Profite zu verbuchen und die fahren vor allem die großen Player ein: Die vier Konzerne Syngenta Group, Bayer, Corteva und BASF teilten sich 2018 etwa 70% des Weltmarktes für Pestizide. 1994 hatte der Marktanteil der vier größten Anbieter noch 29% und 2009 immerhin „nur“ 53% betragen – die Konzentration der Marktmacht schreitet rasant voran. Die Zunahme beim Pestizideinsatz ist in einigen Regionen der Welt besonders stark ausgeprägt: In Südamerika wurden 2019 rund 767.443 Tonnen Pestizide eingesetzt – ein Anstieg von 143,5% gegenüber 1999. Pro Hektar Anbaufläche kamen 2019 mehr als 5 Kilogramm Pestizidwirkstoffe in Südamerika zur Anwendung – mehr als in allen anderen Regionen weltweit. „Vor allem in Ländern mit großer Artenvielfalt wie Brasilien, Argentinien und Paraguay ist der Herbizideinsatz insbesondere seit der großflächigen Einführung von gentechnisch verändertem, pestizidresistenten Soja, das als billiges Futtermittel für die Tiermast eingesetzt wird, dramatisch gestiegen“, beklagt Barbara Unmüßig, Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung. „Damit wurde auch das zentrale Versprechen der Agro-Gentechnik, Ackergifte mit Hilfe von Gentechnik deutlich zu reduzieren, auf groteske Weise konterkariert.“

Der Einsatz von Pestiziden führt zu anhaltenden Belastungen von Mensch, Natur und Umwelt. „So lassen sich an Luftmessstellen Pestizide nachweisen, die bis zu 1000 Kilometer weit entfernt ausgebracht wurden. Auch in Naturschutzgebieten finden sich Pestizidrückstände. Insbesondere Gewässer in der Nähe landwirtschaftlich genutzter Gebiete weisen hohe Pestizidbelastungen auf. Meeressäuger an deutschen Küsten sind bis heute mit Pestiziden belastet, die seit 40 Jahren verboten sind“, schreiben die Autor*innen des Atlas. Für die menschliche Gesundheit birgt der Pestizideinsatz große Gefahren durch Vergiftungen, vor allem im Globalen Süden, wo Arbeiter*innen oftmals nicht ausreichend geschützt sind. Konservativen Berechnungen zufolge sei in Asien von jährlich rund 255 Millionen Vergiftungsunfällen auszugehen, in Afrika von knapp über 100 Millionen und in Europa von rund 1,6 Millionen. „Mit dem massiven Pestizideinsatz weltweit vergiften wir Menschen und Natur. 385 Millionen jährliche Pestizidvergiftungen weltweit sind ein Skandal“, empört sich Doris Günther, Vorstand von PAN Germany. „Pestizidkonzerne haben längst den Globalen Süden als neuen Wachstumsmarkt für ihre Produkte ausgemacht. Auch deutsche Firmen exportieren hochgefährliche Pestizide nach Afrika, Asien und Lateinamerika, die bei uns zum Schutze der Bevölkerung und der Umwelt verboten wurden.“ Die deutsche und europäische Politik müsse dies beenden und konsequent den Export verbotener Pestizide gesetzlich untersagen.

Besonders gravierend sind die Folgen des steigenden Pestizideinsatzes für die Artenvielfalt. „Konventionell bewirtschaftete Äcker weisen nur drei Prozent der floristischen Artenvielfalt auf, die auf Äckern zu finden ist, die noch nie mit Pestiziden behandelt wurden. Auf biologisch bewirtschafteten Äckern liegt die Vielfalt mit 53 Prozent erheblich höher“, zitieren die Herausgeber aus Studien. „Ein Umdenken ist dringend notwendig, denn der hohe Pestizideinsatz schadet der Biodiversität. Er trägt zum Verlust zahlreicher Nützlinge bei, ohne die wiederum noch mehr Pestizide notwendig sind. Der damit verbundene Rückgang bestimmter Wildpflanzenarten führt zum Verlust von Lebensraum und Nahrung für spezialisierte Insekten. Zudem führt der Einsatz von in geringen Mengen hochwirksamen Neonikotinoiden zum Sterben von Wildbienen“, fasst BUND-Vorsitzender Olaf Bandt zusammen. „Der Verlust der Artenvielfalt weltweit, aber auch in Deutschland ist dramatisch und kann nur gestoppt werden, wenn der Einsatz von Ackergiften deutlich reduziert wird.“ Von der neuen Bundesregierung erwartet Bandt gesetzgeberisches Handeln. Dabei müsse die Gesamtmenge der Pestizide um die Hälfte gesenkt und besonders gefährliche Pestizide verboten werden. „Es müssen innerhalb der jetzigen Legislaturperiode konkrete Maßnahmen umgesetzt werden, um die Erfolge der Pestizidreduktion zu kontrollieren. Entscheidend dabei ist, dass die landwirtschaftlichen Betriebe dabei unterstützt werden mit weniger Pestiziden wirtschaftlich tragfähig zu arbeiten. Weniger Pestizide und mehr biologische Vielfalt auf dem Acker soll sich für alle Betriebe lohnen“, so Bandt.

Der Atlas zeigt auch Lösungen auf. Als Bestandteil einer ambitionierten Strategie der Bundesregierung zur Pestizidreduktion bringt er eine Pestizidabgabe ins Spiel. „Erkenntnisse aus Dänemark zeigen, dass die Einführung einer Pestizidabgabe ein geeignetes Instrument sein kann, um finanzielle Anreize für eine geringere Pestizidnutzung zu schaffen“, schreiben die Autor*innen. „Eine solche an den Risiken der Pestizide ausgerichtete Abgabe – je schädlicher das Pestizid, desto höher die Steuer – trägt dazu bei, besonders toxische Pestizide zu verteuern und Betriebe stärker zu motivieren, auf weniger schädliche Wirkstoffe umzusteigen.“ Allerdings müsse die Abgabe hoch genug sein, um Wirkung zu entfalten. So könnten Einnahmen generiert werden, die sich für die Förderung nicht-chemischer Pflanzenschutzverfahren einsetzen ließen. Eine Trendwende ist nicht unmöglich. Der Atlas liefert auch Beispiele aus der ganzen Welt, die zeigen, dass immer mehr Städte, Staaten und Regionen versuchen, weniger Pestizide auf ihren Feldern und Flächen auszubringen – oder gar komplett darauf zu verzichten. In Indien haben mehrere Bundesstaaten begonnen, ihre Landwirtschaft auf biologischen Anbau umzustellen und den Einsatz von Pestiziden zu verbieten: „Der kleine Bundesstaat Sikkim wird die erste Region weltweit sein, die wirklich zu 100 Prozent ökologisch produziert. Dieser Schritt stellt einen enormen Paradigmenwechsel dar in einem Land, das jahrzehntelang auf den hohen Einsatz von synthetischen Düngemitteln und Pestiziden gesetzt hatte“, heißt es im Atlas. Auch der Bundesstaat Andhra Pradesh kündigte 2018 an, dass die rund sechs Millionen Bäuerinnen und Bauern des Staates spätestens ab 2024 ohne chemisch-synthetische Pestizide arbeiten werden. Mexiko hat auf Druck der Zivilgesellschaft den Einsatz von Glyphosat ab 2024 verboten. Kirgistan plant sogar, komplett aus der Pestizidnutzung auszusteigen. 2018 wurde beschlossen, die gesamte Landwirtschaft innerhalb der nächsten 10 Jahre auf ökologischen Produktion umzustellen. „Für eine ökologische Trendwende braucht es Umdenken in der Landwirtschaft – und politischen Willen“, schreiben die drei Herausgeber im Vorwort. Es bleibt abzuwarten, ob dieser bei der neuen Bundesregierung vorhanden ist. (ab)

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