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28.12.2021 |

Insekten in deutschen Naturschutzgebieten sind stark mit Pestiziden belastet

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Insekten sind pestizidbelastet (Foto: CC0)

Insekten in deutschen Naturschutzgebieten sind stark mit Pestiziden belastet. Das zeigt eine neue Studie, die am 16. Dezember im Fachjournal „Scientific reports“ erschien und an der unter anderem die Universität Koblenz-Landau und der Entomologische Verein Krefeld beteiligt waren. Keine einzige der Insektenproben, die von Forscher*innen in den untersuchten Schutzgebieten mithilfe sogenannter Malaisefallen entnommen wurden, war unbelastet. Im Schnitt ließen sich bei Insekten in von Agrarlandschaft umgebenen Schutzgebieten mehr als 16 verschiedene Pestizide nachweisen. „Unsere Daten zeigen deutlich, dass Insekten in Naturschutzgebieten mit einem Cocktail aus Pestiziden belastet sind“, betont Dr. Carsten Brühl vom Institut für Umweltwissenschaften der Universität Koblenz-Landau. „Wenn man bedenkt, dass die Risikobewertung im Rahmen der Zulassungsverfahren von Pestiziden davon ausgeht, dass Insekten mit nur einem Pestizid in Kontakt kommen, liegt auf der Hand, wie realitätsfern diese Bewertungspraxis ist“, so Brühl.

Im Rahmen des vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderten Projekts DINA (Diversity of Insects in Nature protected Areas) unter Leitung des Naturschutzbundes Deutschland (NABU) untersuchten neun Projektpartner über zwei Jahre hinweg die Insektenvielfalt in deutschen Naturschutzgebieten. Die 21 Gebiete umfassen verschiedene Habitate im ganzen Bundesgebiet von den Lütjenholmer Heidedünen hoch im Norden bis hin zur Mühlhauser Halde im Schwarzwald. Es handelt sich um „streng geschützte Lebensräume“ im Natura2000-Programm der Europäischen Union, darunter orchideenreiche Kalkmagerrasen oder seltene Silikatmagerrasen. Alle Gebiete liegen in der Agrarlandschaft und sind von konventionell genutzten Flächen umgeben. Die in den Malaisefallen gefangenen Insekten wurden direkt in Alkohol konserviert. Da der Alkohol in der Fangflasche auch als Lösungsmittel für viele Chemikalien dient, die sich außen oder innen an den Insektenkörpern befinden, konnten die Wissenschaftler*innen direkt ermitteln, welche Pestizide an den Tieren hafteten. Bisherige Studien befassten sich dagegen mit der Belastung von Luft und Boden. „Mit unserer Methode können 92 aktuell in Deutschland zugelassene Pestizide gleichzeitig in geringen Mengen analysiert werden“, erklärt Nikita Bakanov von der Landauer Forschungsgruppe.

Die Ergebnisse der Studie sind erschreckend: Auf den Insekten konnten 47 der 92 zugelassenen Pestizide festgestellt werden. Dabei handelte es sich um 13 Herbizide, 28 Fungizide und 6 Insektizide. Im Schnitt waren die Insektenproben mit 16,7 Pestiziden belastet. In einem Schutzgebiet waren die Insekten sogar mit 27 verschiedenen Stoffen belastet. Die geringste Belastung lag in einem der Gebiete bei sieben Pestiziden. Die Forscher*innen wiesen sogar das Neonicotinoid Thiacloprid, das seit August 2020 in der EU im Freiland verboten ist, da es unter anderem als besonders gefährlich für Bienen gilt, in 16 der 21 Naturschutzgebiete nach. Die Aufbrauchfrist für Thiacloprid endete erst im Februar 2021. „Das hohe Vorkommen von Thiacloprid in unseren Proben an vielen Standorten in Deutschland könnte daher auch die letzte Gelegenheit für Landwirte widerspiegeln, ihre verbleibenden Bestände zu nutzen“, schreiben die Autor*innen. Sie verweisen auf die paradoxe Situation, dass ein Verbot zu einer stärkeren Belastung des Ökosystems führen kann, wenn es zugleich zu Anwendungen des Pestizids in großem Umfang kommt. „Daher erscheint es ratsam, bei potenten Pestiziden, die vom Markt genommen werden, keine Schonfristen mehr zu gewähren und Restbestände zu vernichten, statt sie trotz des Wissens um die hohen Umweltrisiken in die Umwelt zu bringen“, raten die Forscher*innen.

Die Wissenschaftler*innen kombinierten die Studienergebnisse mit einer Raumanalyse. „Wir wollten herausfinden, wo die Insekten die Pestizide aufnehmen“, erklärt Lisa Eichler vom Leibniz-Institut für ökologische Raumentwicklung in Dresden. Die Analyse zeigte, dass die Insekten die Pestizide auf Anbauflächen in einem Umkreis von zwei Kilometern aufgenommen hatten. Das Problem besteht darin, dass die Naturschutzgebiete in Deutschland in der Regel recht klein seien, erläutern die Autor*innen der Studie. Im Durchschnitt hätten sie eine Größe von unter 300 Hektar, 60% seien sogar kleiner als 50 Hektar. Der Flugradius vieler Insekten ist aber weitaus größer und da die Gebiete meist von konventionell bewirtschafteten Ackerflächen umgeben sind, gelangen die Insekten so in Kontakt zu den Pestiziden. Politik, Wissenschaft und Landschaftsplanung müssen daher Pufferzonen einplanen, betonen die Koautoren vom Entomologischen Verein Krefeld, Thomas Hörren und Dr. Martin Sorg. Sie fordern eine vernünftige, wissenschaftsbasierte Raum- und Landschaftsplanung, denn bis heute sei ein „biodiversitätsfördernder Ackerbau ohne Pestizideinsätze sowohl innerhalb als auch am direkten Rand neben wertvollsten Schutzgebieten eine Ausnahmeerscheinung. Um von dieser Ausnahme zum notwendigen Regelfall zu werden, bedarf es allerdings geeigneter, heute nicht ausreichend existierender Konzepte und Förderprogramme für die angepasste, landwirtschaftliche Bewirtschaftung.“

Diese Forderung nach Pufferzonen um Naturschutzgebiete, in denen keine synthetischen Pestizide eingesetzt werden dürfen und die ökologisch bewirtschaftet werden, unterstreicht auch Dr. Brühl. Die Landschaftsplanung sollte in Puffergürteln von zwei Kilometern Breite um die Naturschutzgebiete prioritär Ökolandbau fördern. Den Berechnungen des Forschungsteams zufolge würde ein solcher Schutzraum für alle Naturschutzgebiete in Deutschland etwa 30% der Agrarfläche betreffen. „Diese Zahl mag auf den ersten Blick groß erscheinen“, so Brühl, aber entspreche der Forderung der EU nach 25% und der neuen Ampelkoalition nach 30% an Bio-Landwirtschaft bis 2030. Die Politik habe noch neun Jahre Zeit. „Das politische Ziel ist da, getragen wird es auch durch die Nachfrage der Verbraucher nach Bio-Lebensmitteln. Wichtig ist nun die gezielte Umsetzung“, mahnt Brühl. Auch die Krefelder Autoren fordern entschlossene Schutzmaßnahmen. „Mit dem einfachen, allseits beliebten Gießkannenprinzip kann man nicht auf den dringend notwendigen Schutz der Artenvielfalt in den bedeutendsten Schutzgebieten fokussieren“, betonen Hörren und Sorg. Vielmehr toleriere man damit fortschreitende, regionale Artenverluste. „Denn es sind die Schutzgebiete in denen sich im Regelfall die Populationen der regional oder bundesweit vom Aussterben bedrohten Insektenarten befinden. Dies sind daher die Schauplätze der Biodiversitätsschäden, die wir als Aussterbeereignisse im wahrsten Sinne des Wortes „nachhaltig“ den kommenden Generationen vererben, wenn kein wirksamer Schutz etabliert wird.“ (ab)

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