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26.08.2020 |

Wissenschaftlicher Beirat fordert Transformation des Ernährungssystems

Gemuese
Eine nachhaltigere und gesündere Ernährung ist nötig (Foto: CC0)

In Deutschland braucht es dringend einen Umbau des Ernährungssystems und eine integrierte Politik für eine nachhaltigere Ernährung, um nationale und internationale Nachhaltigkeitsziele zu erreichen. Das ist die Botschaft eines Gutachtens, das der Wissenschaftliche Beirat für Agrarpolitik, Ernährung und gesundheitlichen Verbraucherschutz (WBAE) am 21. August an Bundesministerin Julia Klöckner übergab. „Es geht um einen politischen Paradigmenwechsel. Die gegenwärtige Gestaltung unserer Ernährungsumgebungen macht es Konsumenten und Konsumentinnen sehr schwer, sich nachhaltiger zu ernähren“, sagt WBAE-Vorsitzender Professor Harald Grethe von der HU Berlin. Hier hinke die Bundesrepublik im europäischen und teils auch im globalen Vergleich hinterher, da die Verantwortung zu stark auf das Individuum verlagert werde und viele verfügbare Steuerungsinstrumente ungenutzt blieben, schreiben die 18 Expertinnen und Experten. „Wir benötigen stärkere politische Steuerungsimpulse für die Unterstützung nachhaltigerer Konsumentscheidungen.” Ihr Fazit lautet: „Eine umfassende Transformation des Ernährungssystems ist sinnvoll, sie ist möglich und sie sollte umgehend begonnen werden.“

Zunächst definiert das Gutachten vier zentrale Zieldimensionen einer nachhaltiger Ernährung (Gesundheit, Soziales, Umwelt und Tierwohl) und beschreibt die aktuellen Probleme. Gemessen an seinem Wohlstand stehe Deutschland bezüglich ernährungsbezogener Gesundheitsindikatoren (z. B. hoher Anteil von übergewichtigen oder fettleibigen Menschen) nur mittelmäßig da. „Armut korreliert deutlich mit ernährungs(mit)bedingten gesundheitlichen Beeinträchtigungen“, heißt es. Im Bereich Soziales existiere zwar eine weitreichende Arbeits- und Sozialgesetzgebung in Deutschland, doch zugleich gebe es Hinweise auf Umsetzungsdefizite, gerade im Bereich der Saison- und Leiharbeitskräfte sowie in der Schlachtindustrie und Gastronomie. In der globalen Lieferkette bei Agrarprodukten seien Zwangsarbeit, schwerwiegende Formen der Kinderarbeit und andere Verletzungen häufig. Auch Umweltprobleme gibt es zuhauf: „In der Wertschöpfungskette für Lebensmittel (…) treten vermeidbare negative ökologische Effekte auf, insbesondere hinsichtlich Biodiversität, Überschüssen an reaktiven Stickstoffverbindungen und Treibhausgasemissionen“ schreiben die Wissenschaftler. Die Verlagerung des Konsums auf umwelt- und klimaverträglichere Lebensmittel, z.B. durch eine Reduktion des Konsums tierischer Produkte und von Lebensmittelverschwendung, ist noch ausbaufähig. Beim Tierwohl seien in den letzten Jahren zwar Einzelschritte in Richtung eines Umbaus der landwirtschaftlichen Tierhaltung hin zu mehr Tierschutz erfolgt. Doch eine umfassende, von politisch legitimierten Entscheidungsträgern verabschiedete Strategie, die auch die Finanzierung umfasst und damit größere Fortschritte ermöglicht, fehle noch.

Basierend auf seiner Analyse spricht der WBAE neun Empfehlungen für eine Transformation des Ernährungssystems aus, die mit politischen Instrumenten umgesetzt werden sollen, die besser als bisher aufeinander abgestimmt und deutlich eingriffstiefer sein müssen. 1. soll ein Systemwechsel in der Kita- und Schulverpflegung herbeigeführt werden, u.a. durch eine beitragsfreie und qualitativ hochwertige Verpflegung. 2. soll der Konsum tierischer Produkte global verträglich gestalten werden. Das Motto lautet „Weniger und besser”. Das soll durch ein umfassendes Programm gelingen, das u.a. den reduzierten Mehrwertsteuersatz für tierische Erzeugnisse abschafft und perspektivisch eine Nachhaltigkeitssteuer einführt. Zudem soll ein verpflichtendes Klimalabel für Lebensmittel entwickelt und eine Infokampagne zur Sensibilisierung der Verbraucher für die Klimabilanz tierischer Produkte durchgeführt werden. 3. sollten Preisanreize deutlich verstärkt und ungesunde bzw. nicht nachhaltige Produkte teuer werden, z.B. durch eine Verbrauchssteuer auf zuckerhaltige Getränke, die mit dem Zuckergehalt steigt. Hierdurch entstehende finanzielle Spielräume für Investitionen in nachhaltigere Ernährung, z.B. durch eine Steuerrückzahlung für ärmere Haushalte, eine Mehrwertsteuersenkung für Obst, Gemüse und Hülsenfrüchte oder den Umbau hin zu einer tierfreundlicheren Nutztierhaltung. „Die so dringend nötige ökologische Transformation wird nur akzeptiert werden, wenn wir sie sozialverträglich gestalten“, so Professor Grethe. „Es ist ärgerlich, wenn in der politischen Debatte etwa um CO2-Steuern oder die Besteuerung des Konsums tierischer Produkte vorgeschoben wird, das sei nicht möglich, weil einkommensschwachen Haushalten nicht zuzumuten.“ Denn es gebe viele Modelle, um diese Haushalte zu entlasten, etwa durch pauschale Transferzahlungen.

Viertens müssen den Verbrauchern verlässliche Informationen bereitgestellt werden, um Wahlmöglichkeiten zu schaffen. Dazu müsse eine wirksame Labelpolitik entwickelt werden und die Werbeumgebung nachhaltiger gestaltet werden, z.B. durch eine Einschränkung von an Kinder gerichtete Werbung für nicht oder wenig gesunde Lebensmittel oder eine verpflichtende Angabe des Nutri-Scores in der Lebensmittelwerbung. Fünftens müsse nachhaltigere Ernährung als das „New Normal“ gelten. Kleinere Portionsgrößen müssten dafür zum Standard gemacht werden, die Bevölkerung zum Trinken von mehr Leitungswasser statt zuckerhaltigen Getränken animiert und Lebensmittelabfälle effizient reduziert werden. Sechstens müssten Angebote in öffentlichen Einrichtungen verbessert und Großküchen nachhaltiger gestaltet werden.

Die 8. Empfehlung lautet: „Landbausysteme weiterentwickeln und kennzeichnen – „Öko und mehr”. Die Förderung des Ökolandbaus solle ausgebaut werden, u.a. mit dem Ziel, die Ertragslücke zwischen ökologischem und konventionellem Landbau zu verringern. „Der WBAE unterstützt in der Gesamtschau eine Förderung des Ökolandbaus und empfiehlt ihn als ein Element eines nachhaltigeren Lebensmittelkonsums, und dies umso mehr, je stärker ein Konsum von Bioprodukten mit einer Reduktion des Konsums tierischer Produkte und einer Verringerung der Lebensmittelverschwendung einhergeht.“ Klar sei aber auch, dass eine Ausdehnung des Ökolandbaus in Deutschland nicht das einzige Instrument sein sollte, um die durch die Landwirtschaft bedingten Umweltprobleme zu lösen. Es seien zudem deutliche Anpassungen in der konventionellen Landwirtschaft notwendig und die Etablierung von Zwischenformen nachhaltigerer Landbausysteme, die bei den Umweltleistungen mit dem Ökolandbau mithalten können, aber höhere Erträge erzielten. Dies könne in zertifizierungsfähige Landbaustandards münden, für die dann ein Label nötig sei. Und 9. müsse das Politikfeld „Nachhaltigere Ernährung” aufgewertet und institutionell weiterentwickelt werden. Das Fazit des Beirates lautet: „Die Realisierung der empfohlenen Maßnahmen erfordert erhebliche staatliche Mehrausgaben.“ Im Verhältnis zu den derzeitigen und künftig erwartbaren hohen sozialen und individuellen (Folge)Kosten unserer gegenwärtigen Ernährung stellen diese Ausgaben jedoch laut dem WBAE eine gesamtgesellschaftlich gebotene Investition dar. Wir können es uns also nicht leisten, die erforderliche Neuausrichtung zu verschieben. (ab)

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