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08.02.2019 |

Fettleibigkeit: Experten fordern „radikalen Umbau der Ernährungssysteme“

Fett
Fettleibigkeit - eine Pandemie (Foto: CC0)

Ein internationales Team von Gesundheitsexperten hat eine radikale Umgestaltung der Ernährungssysteme und Geschäftsmodelle gefordert, damit Fettleibigkeit, Unterernährung und der Klimawandel bekämpft werden können. Regierungen müssen dringend den politischen Einfluss großer Lebensmittelkonzerne einschränken und das Gemeinwohl über Wirtschaftsinteressen stellen, fordert die „Kommission zu Fettleibigkeit“ des medizinischen Fachblatts „The Lancet“. In einem Mitte Januar erschienenen Bericht, den 26 Experten aus 14 Ländern über drei Jahre hinweg ausarbeiteten, warnen sie, dass sich die drei Pandemien Fettleibigkeit, Unterernährung und Klimawandel zu einer „globalen Syndemie“ vereinen. Diese gehe einher mit steigenden Fettleibigkeitsraten und Treibhausgas-Emissionen sowie stagnierenden Unterernährungsraten. Diese „Syndemie“ stelle „die größte gesundheitliche Herausforderung für Mensch, Umwelt und Planet im 21. Jahrhundert dar“. Schädliche wirtschaftliche Anreize, fehlende politische Führung und zu wenig Druck der Gesellschaft verhindern den Autoren zufolge, dass Gegenmaßnahmen ergriffen werden. „Momentan treiben uns ökonomische Anreize zu Überproduktion und -konsum, wodurch Übergewicht und Klimawandel verursacht werden“, sagte Kommissionsmitglied Prof. Corinna Hawkes von der University of London. „Gleichzeitig haben viele Millionen immer noch nicht genügend nahrhafte Nahrung, was zu Unterernährung führt. Es ist ein verzerrtes System, dem ein veraltetes Wirtschaftsmodell zugrunde liegt.“

Als Hauptursachen der „globalen Syndemie“ benennt die Kommission Ernährung und Landwirtschaft, Verkehr, Städteplanung und Landnutzung. „Bis jetzt wurden Unterernährung und Fettleibigkeit als Gegensätze von entweder zu wenig oder zu viel Kalorien angesehen“, erklärte der Ko-Vorsitzende der Kommission, Prof. Boyd Swinburn von der University of Auckland. „In Wirklichkeit werden beide von denselben ungesunden, ungerechten Ernährungssystemen angetrieben, die von einem Wirtschaftssystem getragen werden, das einseitig auf Wachstum ausgerichtet ist und die negativen Folgen für Gesundheit und Gerechtigkeit ignoriert.“ Auch wenn Ernährungssysteme bisher erfolgreich die Menschen ernährten und ihre Gesundheit und Lebenserwartung verbesserten, sind sie heute zunehmend industrialisiert, globalisiert und von großen Akteuren mit langen Lieferketten beherrscht, die Skaleneffekte erzielen. Agrarsysteme setzen vor allem auf die Produktion von energiereichen Grundnahrungsmitteln statt ausreichend nährstoffreicher Nahrung. Zudem befördern hochverarbeitete Lebensmittel die weltweite Adipositas-Pandemie: Fast 2 Milliarden Menschen sind übergewichtig oder fettleibig. Das Ernährungssystem führt auch zu schweren Umweltschäden, ist verantwortlich für bis zu 29% der anthropogenen Treibhausgasemissionen und verursacht das Abholzen der Wälder, Bodendegradation und ein massives Artensterben. „Eine grundlegende Neuausrichtung der Ernährungssysteme ist erforderlich“, betonen die Autoren. „Schönheitsreparaturen an der Oberfläche werden nicht die Ergebnisse liefern, die die Welt für das 21. Jahrhunderts braucht.“

Die Kommission hat neun Empfehlungen und über 20 Maßnahmen parat: Auf nationaler und internationaler Ebene müssen die Maßnahmen vollständig umgesetzt werden, die in internationalen Richtlinien, Resolutionen und Verträgen vereinbart wurden. Die Autoren schlagen ein rechtlich bindendes Rahmenwerk zu Ernährungssystemen vor, ähnlich den UN-Rahmenübereinkommen zu Tabak und Klimawandel, um Ländern bei der Ausarbeitung einer nachhaltigen und gesunden Lebensmittelpolitik zu helfen. Kommunalverwaltungen und das Engagement der Zivilgesellschaft sollten gestärkt werden, um auf allen Ebenen Druck zu erzeugen. Zudem müsse der Einfluss der Wirtschaftslobby auf die Politik reduziert werden, damit Regierungen politische Maßnahmen im öffentlichen Interesse umsetzen können, die der menschlichen Gesundheit, der Umwelt und der Erde dienen. Dazu sollten klare Leitlinien zu Interessenkonflikten verabschiedet und institutionalisiert werden. „Eigeninteressen sind eine Hauptquelle für politische Trägheit, die Änderungen an den bestehenden Systemen verhindert. So üben etwa nationale Lebensmittelkonzerne und transnationale Hersteller von ultra-verarbeiteten Lebensmitteln und Getränken oft einen unverhältnismäßigen Einfluss auf die Gesetzgeber und den politischen Entscheidungsprozess aus“, kritisiert der Bericht.

Die Politik sollte auch nachhaltige und gesundheitsfördernde Geschäftsmodelle anregen, damit es für Unternehmen nicht rentabel ist, den Fokus nur auf kurzfristige Gewinne zu legen. „Um dieses Ziel zu erreichen, sollten die nationalen Regierungen zunächst Subventionen für Produkte, die zur „globalen Syndemie“ beitragen, beseitigen oder umlenken auf Produktions- und Konsumpraktiken, die für die Gesundheit, die Umwelt und die Erde gut sind.“ Eine Verringerung der Subventionen für Ölkonzerne und große Agrarbetriebe, die Monokulturen anbauen, würde es ermöglichen, Innovationen im Bereich saubere Energie und Transport sowie gesunde, lokale Ernährungssysteme zu fördern. Außerdem müssten Wirtschaftssysteme entstehen, in denen die Produktkosten den Preis für Krankheiten, Umweltschäden und Treibhausgasemissionen einbeziehen.

Die Kommission fordert aber auch mehr Rechte für Verbraucher. Sie brauchen Informationen über die Umweltbelastung und die gesundheitlichen Auswirkungen von Produkten. „Die Menschen müssen sich der Vor- und Nachteile dessen, was sie essen, bewusst sein und dazu angehalten werden, gesund zu essen. Die Verbraucher wissen jedoch oft nicht einmal, was sie zu sich nehmen, weil die Etiketten keine verständlichen Informationen liefern“, schreibt José Graziano da Silva, Generaldirektor der Welternährungsorganisation FAO in einem Kommentar. „Verbraucher müssen befähigt werden, fundierte Entscheidungen für eine gesunde Ernährung zu treffen.“ Die Autoren gehen davon aus, dass eine klare Kennzeichnung durch die Nachfrage Druck auf Konzerne ausüben würde, zu gesünderen und nachhaltigeren Praktiken und Produkten überzugehen. „Wir brauchen weitsichtige politische Entscheidungsträger und Führungskräfte des Privatsektors, um Maßnahmen voranzubringen, die Fettleibigkeit und Unterernährung reduzieren und sich positiv auf die Wirtschaft und Nachhaltigkeit auswirken“, sagt Hawkes. (ab)

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