Wissen und Wissenschaft

Diese Modelle gemeinschaftlicher Innovation können enorme Kräfte und eine Dynamik freisetzen, die weit über das ursprüngliche Ziel hinausgeht. Dass sie sich dennoch nur begrenzt durchgesetzt haben, erklärt der Weltagrarbericht mit mangelndem wirtschaftlichem Interesse an langfristigen Verbesserungen von Gemeingütern und allgemeinem Wohlstand. Nachhal- tige Lösungen führen - etwa beim Absatz von Agrar- chemie, Maschinen und Einsatz von Energie - oft gar zu geringerem Umsatz. Widerstand gegen solche Gemeinschaftsinnovation kommt aber auch aus der Wissenschaft selbst. Denn sie stellt deren traditio- nelle Autorität als universelle, wertfreie und einzig objektive Methode zur Beschreibung der Wahrheit infrage. Ob sie Gralshüter unbestreitbarer Gewiss- heiten sind oder „nur” einen Beitrag zu einem vielschichtigeren Bild der Wirklichkeit und ihrer Verbesserung leisten, verändert die gesellschaftliche Rolle von Wissenschaftlern grundlegend.

Privatisierung von Wissen

Verstärkt werden solch unterschiedliche Sichtweisen bei zunehmender Privatisierung der Agrarwissenschaften, die auch die öffentliche Forschung erfasst und Wissen mehr und mehr als Privateigentum statt Gemeingut versteht. Diese fatale Dynamik ist sowohl bei der Technologie- und Produktentwick- lung von Unternehmen zu beobachten als auch auf dem umkämpften Markt privater und öffentlicher Forschungsmittel. Wissenschaftler und ihre Institute konkurrieren auf diesem Markt um „Exzellenz" mit Publikationen sowie immer aufwän- digeren PR-Maßnahmen. Die Versuchung steigt, mehr zu versprechen als vertretbar ist. Reale, aber auch weniger reale Probleme werden zum Verkaufsargument von Technologien.
Diese kommerzielle Wissenschaftskommunikation beeinflusst immer gezielter und geschickter auch die öffentliche und politische Wahrnehmung. In den Industriestaaten zieht sich die öffentliche Hand mehr und mehr aus der Organisation und Finanzierung von Agrarforschung zurück. Großinvestitionen in
Hightechbereiche, die als strategische Zukunftstechnologien und Konkurrenzfelder gelten, steht die Verödung klassischer Agrarausbildung und -forschung gegenüber. „Ein wachsender Anteil universitärer Forschungsmittel stammt heute in vielen Industrieländern aus privaten Quellen. Sie konzentrieren sich auf wirtschaftlich interessante Bereiche oder Hightechbereiche wie Satellitenüberwachung, Nanotechnologie und Genomik und weniger auf Tiefenbereiche landwirtschaft- licher Praxis und Ökologie. (...) Häufig gehört zu den Finanzie- rungsbedingungen das Recht auf patentrechtliche Erstverwer- tung aller Ergebnisse des Forschungsbereiches. Auch das Veröffentlichungsrecht und der freie Austausch der Forschungsergebnisse werden beschnitten. Dass durch solche Vereinbarungen wissenschaftliche Erkenntnis als Privateigentum betrachtet wird, verändert die Beziehungen unter den Wissenschaftlern und zu ihren verschiedenen Partnern radikal.“ (Global, S. 72)Stattdessen bietet die Agrarindustrie einer sinkenden Zahl spezialisierter Landwirte standardisierte Technologiepakete für immer weniger Arten von Feldfrüchten und industrielle Formen der Hochleistungs-Tierhaltung an.

Dem steht eine massive Ausweitung öffentlicher Forschung, Lehre und Ausbildung in wenigen Schwellenländern Asiens und Lateinamerikas gegenüber. In den meisten armen Agrarländern stagnierten öffentliche Investitionen in landwirt- schaftliches Wissen, Forschung und Innovation dagegen seit den 80er Jahren.„Weltweit konzentriert sich öffentliche Forschung und Entwicklung immer mehr auf eine Handvoll Staaten. Unter den reichen Ländern entfielen im Jahr 2000 auf nur zwei, die USA und Japan, 54% aller öffentlichen Agrarforschungsinvesti- tionen, unter den Entwicklungsländern 47% allein auf China, Indien und Brasilien." (Synthese, S. 25) Die von der Weltbank verwalteten internationalen Agrarforschungszentren (CGIAR), deren Forschung und Züchtung einst die „Grüne Revolution“ begründete, verfügen über ein vergleichsweise bescheidenes Jahresbudget. Bilanz dieser Entwicklung: Dort, wo Wissenschaft und Forschung am dringendsten gebraucht würden, wird seit Jahrzehnten am wenigsten investiert. Kleinbäuerliche Landwirtschaft, deren Bedarf sich wesentlich von dem der industriellen Landwirtschaft unterscheidet, fristet in der Wahrnehmung der Wissenschaft ein Schattendasein.

Traditionelles und lokales Wissen

Alles Wissen, das nicht Ergebnis und Bestandteil moderner Wissenschaft ist, wird heute etwas hilflos oder auch herablassend als „traditionelles” oder „lokales” Wissen bezeichnet. Lokales Wissen: Das Wissen, das einer räumlich definierten Kultur und Gesellschaft entspringt.
Traditionelles (ökologisches) Wissen: Der Schatz von Wissen, Praktiken und Überzeugungen, der aus Anpassungs- prozessen entsteht und von Generation zu Generation weitergegeben wird. Dabei muss es sich nicht um indigenes oder lokales Wissen handeln. Sein Kennzeichen ist vielmehr die Art und Weise, wie es erworben und genutzt wird, nämlich durch den sozialen Prozess des gemeinschaftlichen Lernens und Teilens.“ (Global, S. 564)
In der Praxis ist es das wichtigste Handwerkszeug von Land- und Forst-wirten, Hirten und Fischern, von Gärtnern, Hausfrauen, Handwerkern und Heilern in aller Welt. Historisch gewachsen erfasst es auf seine eigene Art die jeweils vor Ort wichtigen Zusammenhänge, deren Komplexität monokausal denkende, spezialisierte Naturwissen- schaftler bis heute häufig überfordert. Dabei hat es durchaus Schwächen, wie „Bauernweisheiten” zum Wetter zumal in Zeiten des Klimawandels belegen. Der Weltagrarbericht nennt eine Vielzahl von Beispie- len wertvollen traditionellen Wissens, die aus dem Wahrnehmungsbereich „moderner” landwirtschaft- licher Forschung und Entwicklung herausfallen: von jahrhundertealten Formen nachhaltigen Wasser- und Bodenmanagements über biologische Schädlingskontrolle und gemeinschaftliche Saatgutentwicklung bis hin zu dem gewaltigen Wissens- und Erfahrungsschatz über die Vielfalt und den Nutzen von Saatgut, Wildpflanzen, Tieren und Mikroorganismen für gesunde Ernährung, Heilkunde und die Medizin.

Zwischen Vergessen und Biopiraterie

Die gleichberechtigte und praktische Verbindung von traditionellem und lokalem Wissen mit Erkenntnissen moderner Wissenschaft birgt gewaltige Chancen, aber auch Risiken. Viele Hüter traditionellen Wissens sind misstrauisch geworden, weil sie erleben, wie ihre Kenntnisse lediglich abgezogen oder gar durch Patentierung enteignet werden. Bisher fehlen wirksame internationale Vereinbarungen, die derartige Biopiraterie verhindern und gerechte Formen des Teilens von Nutzen durchsetzen. Modelle, lokales und traditionelles Wissen und die Rechte seiner Hüterinnen und Hüter fair und respektvoll in den internationalen Wissensmarkt einzubeziehen, werden mittlerweile zwar intensiv diskutiert, doch bisher nur selten praktisch umgesetzt.

Die enorme Fülle traditionellen und lokalen Wissens entzieht sich häufig wissenschaftlicher Beschreibun- gen. Dies liegt auch an der regionalen, kulturellen und spirituellen Vielfalt der Wissens-, Erkenntnis- und Vermittlungssysteme, in denen traditionelles Wissen genutzt und weitergegeben wird. Wo dieser Zusam- menhang sich auflöst, geht auch das Wissen schnell verloren. Mit dem Verlust regionaler und lokaler Sprachen etwa gehen auch die Begriffe und das Wissen über die örtliche Artenvielfalt und Ökologie, deren Zusammenhang und Nutzen unter.„Das subsaharische Afrika ist die einzige Region, in der formelle Bildung und staatliche Dienste für fast alle Bürger in einer anderen als ihrer Muttersprache stattfinden.“ (Subsahara-Afrika, S. 101)
„Lokales und traditionelles Umweltwissen ist in Sprachen eingebettet, die in der landwirtschaftlichen Beratung üblicherweise nicht benutzt werden (höchstens ad hoc vor Ort) und erst recht nicht in der Forschung, es sei denn, um Informationen abzuziehen.“ (Subsahara-Afrika, S. 109)

Sprach- und Verständigungsbarrieren setzten auch den Autorinnen und Autoren des Weltagrarberichts selbst schmerzhafte Grenzen. Voraussetzung und Ausschlusskriterium für die Zusammenarbeit im „globalen Dorf“ des Internets ist eine gemeinsame Sprache. Dabei zeigte sich, dass Wissenschaftler unterschiedlicher Disziplinen auch auf Englisch durchaus verschiedene Sprachen sprechen können.

Zukunftsinvestitionen

Der Weltagrarbericht fordert eine massive Steigerung öffentlicher Investitionen in landwirtschaftliches Wissen und dessen Vermittlung auf allen Ebenen. Öffentliche Mittel müssten sich gezielt auf öffentliche Güter von strategischer Bedeutung für Ernährungs- sicherheit, Klimawandel und Nachhaltigkeit konzentrieren, weil hierfür privatwirtschaftliche Investitionen praktisch nicht zur Verfügung stehen. Er fordert auch eine neue Wissenschaftsethik und Offenheit, die sich weder im akademischen Elfenbeinturm noch im privatwirtschaftlichen Wissensbunker verschanzt.

Grundlagen

  • CGIAR (einst Consultative Group on International Agricultural Research) Beratungsgruppe für Internatio­nale Agrar­forschung
  • GFAR Global Forum on Agricultural Research (angegliedert an FAO in Rom)
  • ISOFAR International Society of Organic Agriculture Research, vereinigt 660 Wissenschaftler aus 80 Ländern, die zu Ökolandbau forschen
  • FiBL Forschungsinstitut für biologischen Landbau
  • Rodale Institute ökologisches Forschungsinstitut auf der Suche nach globalen Lösungen

Bewegung

Literatur

Videos: Indigenes Wissen

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Kurzes Video zu Biopiraterie

Grafiken

  • Public agricultural research expendituresPublic agricultural research expenditures
  • Public and private agricultural R & D spending by regionPublic and private agricultural R & D spending by region
  • Research budget CGIAR and Monsanto South-AmericaResearch budget CGIAR and Monsanto South-America
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