Bäuerliche und industrielle Landwirtschaft

Zweitens ist die Landwirtschaft in vielen Regionen der Welt von massiven staatlichen Interventionen und Subventionen abhängig, die häufig eher kurzfristige gesamtwirtschaftliche Ziele (z.B. niedrige Lebensmit-telpreise) und geostrategische Interessen verfolgen. Die Fähigkeit etwa, im Kriegs- und Krisenfall die eigene Bevölkerung mit Lebensmitteln zu versorgen, aber auch die Drohung mit dem Entzug von Lebensmittelexporten gehören noch immer zum klassischen Arsenal nationalstaatlicher Machtpolitik. Die Subvention bestimmter landwirtschaftlicher Produkte, Produzenten, Produktionsformen und Exporte wird vor allem von Industriestaaten betrieben und kommt dabei überwiegend großen Landwirtschafts-, Handels- und Verarbeitungsunternehmen zugute. Sie hat weltweit tiefgreifenden Einfluss auf die Produktionskosten und Preise landwirtschaftlicher Güter.

Das Ende des industriellen Produktivismus

Insgesamt kann die großflächige Industrialisierung der Landwirtschaft in Nord- und Südamerika, Australien und Europa und die kleinflächigere „Grüne Revolution” in Asien seit über 50 Jahren beeindruckende Produktivitäts- und Rationali- sierungserfolge vorweisen. Die Steigerung der globalen Agrarproduktion lag deutlich über dem Bevölkerungswachstum. Nach unterschiedlichen Schätzungen könnte sie heute 10 bis 14 Milliarden Menschen ernähren, würde sie ausschließlich und effizient als Lebensmittel eingesetzt.
Allerdings beutet der einseitige Produktivismus industrieller Landwirtschaft die verfügbaren natürlichen Ressourcen des Planeten mittlerweile in unvertretbarem Maße aus. Die Grund-strategie, den Einsatz menschlicher Arbeit durch Großtechnik, Agrarchemie und fossile Energie zu ersetzen, erweist sich in Zeiten des Klimawandels, schwindender Ölreserven und überstrapazierter natürlicher Ressourcen als Sackgasse. Wir haben es übertrieben mit dem Konzept, aus durchrationali-sierten Monokulturen mit wenigen Hochleistungspflanzen riesige Mengen an Agrarrohstoffen und Fleisch zu gewinnen und mit immer aufwändigerer Technik zu der scheinbaren Vielfalt zu verarbeiten, die wir aus den Supermärkten kennen. Gewaltige Mengen an Pestiziden und Kunstdünger, an Energie und Klimaemissionen und verfügbarem Süßwasser fließen in diese Art von Landwirtschaft. Ausgelaugte und versalzene Böden, gerodete Wälder, vergiftete Wasserläufe und Arten-sterben sind der ökologische Preis dieses Fortschritts.

Der Weltagrarbericht räumt mit dem Mythos der Überlegenheit industrieller Landwirtschaft aus volkswirtschaftlicher, sozialer und ökologischer Sicht gründlich und ehrlich auf. Als neues Paradigma der Landwirtschaft des 21. Jahrhunderts formuliert er: Kleinbäuerliche, arbeitsintensivere und auf Vielfalt ausgerichtete Strukturen sind die Garanten einer sozial, wirtschaftlich und ökologisch nachhaltigen Lebensmittelversorgung durch widerstandsfähige Anbau- und Verteilungssysteme.
Dabei ist der Weltagrarbericht weit davon entfernt, die real existierende kleinbäuerliche und traditionelle Landwirtschaft romantisch zu verklären oder gar eine Rückkehr zuvorindustriellen Zuständen zu fordern. Klar und detailliert beschreibt er ihre oft unzurei- chende Produktivität und Effizienz. Gesundheits- und umweltschädliche Praktiken und der Mangel an traditionellem wie modernem Wissen tragen zum Elend vieler Subsistenz- und Kleinbauernfamilien bei. Viele überkommene Bewirtschaftungsformen bieten keine nachhaltige Perspektive mehr. Die Herausforderungen der Zukunft seien nur mit einem enormen Innovationsschub zu bewältigen und entsprechend qualifizierteren Bäuerinnen und Bauern.

Nährwert statt Mehrwert

Gerade deshalb hält der Weltagrarbericht Investitionen in die kleinbäuerliche Produktion für das dringendste, sicherste und vielversprechendste Mittel, um Hunger und Fehlernährung zu bekämpfen und zugleich die ökologischen Auswirkungen der Landwirtschaft zu minimieren. Verbesserte Anbaumethoden, einfache Technologien und Kenntnisse, geeigneteres Saatgut und eine Vielzahl agrarökologischer Strategien bergen ein gewaltiges Produktivitäts- und Nachhaltigkeits-potenzial. Sie stellen dabei am ehesten sicher, dass zusätzlich produzierte Lebensmittel tatsächlich dort zur Verfügung stehen, wo sie gebraucht werden.
Wo Kleinbauern genügend Land, Wasser, Geld und Handwerkszeug haben, produzieren sie einen deutlich höheren Nährwert pro Hektar als industrielle Landwirtschaft, in der Regel mit erheblich niedrigerem externen Input und geringeren Umweltschäden. Sie können sich besser und flexibler den Erfordernissen und Veränderungen ihrer Standorte anpassen und mehr Existenzen auf dem Lande sichern, weil sie arbeitsintensiver sind.„Diversifizierte, kleinbäuerliche Höfe stellen den Löwenanteil der weltweiten Landwirtschaft. Auch wenn Produktivitätszuwächse in spezialisierten Großbetrieben mit hohem Input schneller erreicht werden können, liegt der größte Spielraum zur Verbesserung von Existenzgrundlagen und von Gerechtigkeit in den kleinteiligen und vielfältigen Produktionssystemen der Entwicklungsländer. Dieser kleinbäuerliche Sektor ist hoch dynamisch und reagiert schnell auf veränderte natürliche und sozioökonomische Rahmenbedingungen, denen er sein Produktangebot besonders auch durch Steigerung der Produktion bei steigender Nachfrage anpasst.” (Global, S. 379)

Voraussetzung dafür sind ein Mindestmaß an Rechts- sicherheit, auskömmliche Einkünfte und eine ihren Bedürfnissen entsprechende Infrastruktur: Brunnen, Straßen, Gesundheitsversorgung, Bildungs- und Beratungseinrichtungen sowie Kommunikationsmittel. Auch da, wo Kleinbauern mehr produzieren könnten, geschieht dies häufig nicht, weil einfachste Lager- und Transportmöglichkeiten und der Zugang zu lokalen und regionalen Märkten fehlen, die die Anstrengungen lohnenswert machen. Faire Kredite für Grundinvestitio- nen und Versicherungen gegen Missernten können helfen, die Risiken überschaubarer zu machen.
Öffentliche Investitionen in die ländliche Entwicklung wurden aber in vielen Entwicklungsländern, v.a. in Afrika und den am wenigsten industrialisierten Regionen Asiens, in den letzten 30 Jahren sträflich vernachlässigt. Private Investitionen flossen in wenige exportorientierte Bereiche, auf die sich oft auch nationale und internationale Förderprogramme konzentrierten. Der Weltagrarbericht spricht daher von einem fatalen globalen Trend zur Dekapitalisierung der Kleinbauern, den es umzukehren gilt.„Obwohl die Produktivität pro Fläche und Energieverbrauch in kleinen, diversifizierten Bauernhöfen viel höher ist als in intensiven Bewirtschaftungssystemen in bewässerten Gebieten, werden sie weiterhin von der offiziellen Agrarforschung vernachlässigt.” (Synthese, S. 22)

„Wachse oder weiche“ ist nicht mehr modern

Viele nationale und internationale Entwicklungsorga-nisationen und -agenturen haben das Plädoyer für eine Stärkung von kleinbäuerlichen Familienbetrieben, mit dem der Weltagrarbericht das agrarpolitische Dogma der vergangenen Jahrzehnte „Wachse oder weiche“ erstmals infrage stellte, in den vergangenen Jahren aufgenommen – zumindest in ihren Veröffent-lichungen und Absichtserklärungen. Die Vereinten Nationen erklärten das Jahr 2014 gar zum Jahr der bäuerlichen Familienbetriebe (family farmers). Allerdings erweisen diese sich in der Praxis als „mühsame Kundschaft“ für globale Spieler: Der Aufwand bei der Förderung kleiner Einheiten steigt. Die Bearbeitung an nationale oder regionale Stellen zu delegieren, erweist sich nicht immer als effektiv. Zu tief sitzt hier, zumal in den Städten, oft die Missachtung von Kleinbäuerinnen und -bauern. Landwirtschaftsministerien in der EU und anderen Industriestaaten scheinen zudem die Botschaft des Weltagrarberichts für eine rein entwicklungspoli-tische zu halten. In den armen Ländern des Südens, so die Lesart, mögen kleinbäuerliche Strukturen ein probates Mittel gegen den Hunger sein. Die moderne „wissensbasierte Bioökonomie“ der Industriestaaten dagegen erfordert eine fortgesetzte „Strukturanpassung“. Über ein Viertel aller land- wirtschaftlichen Betriebe in Deutschland und ein Fünftel in der EU haben allein von 2003 bis 2010 aufgegeben. Die letzte Reform der EU-Agrarpolitik für 2014-2020 wird diesen Trend weiter verstärken.

Grundlagen

  • FAO Ernährungs- und Landwirtschafts-Organisation der Vereinten Nationen
  • IYFF Webseite der FAO zum Internationalen Jahr der kleinbäuerlichen Familienbetriebe 2014
  • Weltbank Landwirtschaft und ländliche Entwicklung
  • Europäische Kommission Landwirtschaft und ländliche Entwicklung
  • FiBL Forschungsinstitut für biologischen Landbau
  • Ökolandbau.de Informations- portal für Erzeuger, Verar- beiter, Händler & Verbraucher
  • IFAD Der Internationale Fonds für landwirtschaftliche Entwicklung hat die Armutsbekämpfung in ländlichen Gebieten zum Ziel

Bewegung

Literatur

Videos: Kleinbauern

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FoodMythBusters: Brauchen wir die industrielle Landwirtschaft?

Grafiken

  • UNEP Agriculture in Africa GDPUNEP Agriculture in Africa GDP
  • UNEP Ecosytem ChangeUNEP Ecosytem Change
  • UNEP Organic agriculture in EuropeUNEP Organic agriculture in Europe
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